Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Vierzehntes Kapitel.

Am Morgen darauf erwachte Dot mit einem Schüttelfrost und war sehr übler Laune. Gegen Mittag ließ Jocelyn den Arzt rufen, der ihren Zustand für einen heftigen Katarrh erklärte und sie ins Bett sprach.

Dagegen lehnte sie sich auch nicht auf, weinte aber kläglich in ihr Kissen hinein, versicherte, sie sei todmüde und wolle zu ihrem Pa gehen. Auch durfte Jocelyn sie kaum auf ein paar Minuten verlassen, sobald sie ihn nicht sah, kam sie außer sich.

»Erzähle mich Geschichten,« winselte sie, »nette Geschichten von kleine Mädchen, die nicht verloren gehen, nicht so schwere, schwere Füßchen haben, nicht S'merzen in der Brust –«

»Thut dir's denn weh auf der Brust, mein Liebling?« fragte Jocelyn besorgt.

»Will mich Ges'ichten erzählt haben,« lautete die anspruchsvolle Antwort.

Und Jocelyn brachte mit Engelsgeduld eine »Ges'ichte« nach der andern zu stande, aber keine einzige errang den Beifall der Patientin.

Als der Abend kam, wurde der Zustand immer schlimmer, die Klagen über »S'merzen« in der Brust immer heftiger. Jocelyn schickte abermals nach dem Arzt, der jetzt ein bedenkliches Gesicht machte und von Entzündung des rechten Lungenflügels sprach.

Frau Lamb erbot sich, die Nachtwache bei der Kranken zu übernehmen, aber Dot wollte niemand um sich dulden als Jocelyn. Sie war nicht bei klarem Bewußtsein, nannte ihn häufig Pa und beschwor ihn, ihr Händchen »danz danz fest« zu halten, weil eine »fu'chtbare« Frau am Fußende ihres Betts sitze und Gesichter schneide.

Der sonst seine Bequemlichkeit so hoch schätzende Maler entpuppte sich, obwohl er jeder Schulung in diesem Fach entbehrte, als ein unvergleichlicher Krankenwärter. Keine Frau hätte das Kind zärtlicher und geschickter anfassen können, und seine Geduld wie seine Erfindungskraft schienen unerschöpflich zu sein.

Trotzdem sah er nach verschiedenen Nachtwachen, die durch keinen Tagesschlaf ersetzt werden konnten, da er immer zu Dots Befehl stehen mußte, allmählich recht erschöpft und hohläugig aus. Einmal blieb Forsyth einen Nachmittag über bei dem Kind, ein andres Mal Pennington, aber sie jammerte dabei fortwährend nach ihrem Jo. Aus unerklärten Gründen war ihr der Anblick von Frau Lamb rein unerträglich, was die gute Dame viele heiße Thränen kostete. Sie könne gar nicht begreifen, erklärte sie schluchzend, was dem süßen Herzchen in den Sinn gekommen sei, denn sonst sei ihr ja ihre Frau Lamb das Höchste auf der Welt gewesen. Freilich hätten ja Kranke mitunter solche Grillen, so habe ihr Seliger in seiner letzten Krankheit seine nächste Base nicht sehen können, die sei aber freilich auch bucklig gewesen, was diesen Widerwillen einigermaßen verständlich mache, sie, Frau Lamb, aber habe ja gerade Glieder und keinen Tadel am ganzen Leib und sei so appetitlich anzusehen als die meisten Leute und so weiter und so weiter, denn Frau Lambs Sprachwerkzeuge waren der Verwirklichung des Perpetuum mobile so ziemlich auf die Spur gekommen.

Der Arzt hatte eine zünftige Wärterin vorgeschlagen, worauf ein feierlich aussehendes jugendliches Wesen mit einer Haubenschachtel auf der Bildfläche erschienen war.

»Vom Wirbel bis zur Zehe ein Tugendprotz,« hatte Forsyth bemerkt.

In dieser Nacht aber begann Dot derart nach ihrem Jo zu schreien, daß Schwester Adelaide sich nicht mehr zu helfen wußte und an seine Schlafzimmerthür pochte, worauf er, am ganzen Leib bebend, in die Kleider fuhr, denn er dachte nicht anders, als daß eine Wendung zum Schlimmsten eingetreten sei. Als er aber in ihr Stübchen trat, sprang Dot halb schluchzend, halb jubelnd im Bett auf und schlang ihm die Aermchen um den Hals.

»O Jo! Laß nicht fremde Leute da sitzen und mich anfassen! Mich will niemand haben als mein Jo, dich immer bei mir – niemand sonst! Geh' dich nich' wieder fort!«

»Vielleicht wird's besser sein, Sie überlassen mir das Kind für die Nacht, Schwester – Sie sehen ja –« setzte er entschuldigend hinzu, »wie sie an mir hängt.«

Dot hatte sich schon ein Nestchen an seiner Brust zurecht gemacht, nannte ihn bald Jo, bald Pa und bat flehentlich, sie doch nicht im Regen draußen stehen zu lassen und bösen Menschen zu wehren, daß sie ihre wunderhübschen neuen Kleider stehlen.

Eines Tags kam der »Sternenschein«, um sich nach der Zeit für die nächste Sitzung zu erkundigen. Sie hatte nichts von Dots Krankheit erfahren, und als Jocelyn jetzt auf einen Augenblick zu ihr ins Atelier kam, erschrak sie über die Verwüstungen, die Angst und Nachtwachen in seinem Gesicht angerichtet hatten.

»Aber, Herr Jocelyn, Sie reiben sich ja auf,« bemerkte sie mit einer Weichheit des Tons, die ihr sonst fremd war.

»Ich kann's nicht ändern,« erwiderte er müde. »Das liebe Seelchen will niemand um sich haben als mich, übrigens ist's auch nicht die Anstrengung, die mich so mitnimmt, sondern die Angst. Ich sage Ihnen, das Kind ist mir mehr ans Herz gewachsen als –«

Er brach ab und ging zum Kamin hinüber. Einer Frau seine nassen Augen zu zeigen, das ging ihm doch »wider den Strich«.

»Herr Jocelyn,« begann der Sternenschein nach längerem Schweigen, »wollen Sie mich die Kleine pflegen lassen? Ich bin nicht – wie andre Frauen sind – nicht, wie ich sein sollte – aber ich weiß, daß ich eine gute Pflegerin sein kann.«

»Das ist sehr, sehr gütig von Ihnen,« versetzte Jocelyn zögernd, »aber ich fürchte, das Kind wird Sie nicht an sich heranlassen. Die Schwester, die wir einmal hatten, mußte wieder fortgeschickt werden.«

»Wollen Sie's nicht auf den Versuch ankommen lassen?« bat sie mit ruhiger Beharrlichkeit. »Ich – ich kenne Kinder und verstehe mich auf ihre Art.«

In dieser Stimme lag wie in ihrem Blick eine rührende Weichheit.

»Ich muß jetzt wieder zu ihr,« sagte Jocelyn. »Sie scheint zu schlafen – wenn Sie das Kind sehen wollen, kommen Sie nur mit.«

Dot lag auf hochgetürmten Kissen fast aufrecht da, die Arme ruhelos ausgestreckt. Sie schien eher in einer Art von Betäubung zu liegen, als zu schlafen.

»War der Arzt heute schon da?« fragte des Sternenscheins tiefe klare Stimme.

»Ja, und er kommt heute abend noch einmal. Er findet sie – schwächer.«

Damit beugte er sich über die kleine Gestalt und legte ihr die Decke zärtlich über Brust und Arme. Dot machte eine Bewegung und schlug die Augen auf.

»Jo,« flüsterte sie erst, »süßer kleiner Jo!« dann setzte sie kläglich hinzu: »Brust thut so weh, Jo! Dich sollst sie nicht so weh thun lassen! Mich will nicht weinen – muß weinen –«

Das Stimmchen erstickte in leisem Schluchzen.

»Kennst du mich noch, Dot?« fragte der Sternenschein freundlich.

Ein mühsames Lächeln umspielte den Kindermund.

»Versteht sich,« murmelte sie. »Fräulein Ste'nens'ein.«

»Und darf ich mich eine Weile zu dir setzen, damit der gute Herr Jocelyn ein wenig schlafen kann? Siehst du, Dot, er hat dich jetzt so viele, viele Tage und Nächte lang gepflegt und ist furchtbar müde.«

»Will Jo haben,« wimmerte sie.

»Er geht ja nicht weit fort, Dot, nur in sein Schlafzimmer – gleich nebenan – und wenn du ihn sehr nötig brauchst, hol' ich ihn!«

»Bist dich fu'chbar müde, Jo?« fragte sie, ohne seine Hand loszulassen.

»Nicht so sehr, mein Liebling.«

Dot sah ihn einen Augenblick gespannt an, dann steckte sie das Köpfchen unter den Bettteppich.

»Will dich s'lafen gehen lassen,« ertönte es mit erstickter Stimme. »Aber nicht Frau Lamb kommen!«

»Ganz gewiß nicht!«

»Nur Ste'nens'ein?«

»Nur der Sternenschein bleibt bei dir!«

Das Gesichtchen kam wieder zum Vorschein.

»Mich will Kuß haben,« stammelte sie, leise aufschluchzend.

»Mein Herzenskind – nein, ich gehe nicht fort. Sei nur ganz ruhig, ich bleibe bei dir.«

Aber sie unterdrückte ihre Thränen mutig und erklärte mit einem schattenhaften Versuch ihres sonstigen einleitenden Kopfnickens: »Nein, dich mußt s'lafen! Mich will sehr, sehr a'tig sein, bis dich wieder kommst.«

Der Sternenschein hatte rasch Hut und Mantel abgelegt, und als Jocelyn jetzt aufstand, setzte sie sich sofort ans Bett. Er gab ihr in Kürze einige Anweisungen und verließ das Zimmer.

Dot wälzte sich unruhig hin und her.

»Nicht gut liege,« sagte sie krittelnd.

Der Sternenschein schob den einen Arm unter ihre Schultern und zog das Kind fest an die Brust. Bei dieser sichern, verständnisvollen, mütterlichen Berührung atmete Dot erleichtert auf und lag jetzt ganz still. Sie schien wieder in eine gewisse Erstarrung zu verfallen.

Ohne die leiseste Bewegung zu machen, verharrte die Pflegerin stundenlang in dieser Stellung, und der Nachmittag war schon weit vorgerückt, als Jocelyn zurückkehrte. Er versicherte, gründlich ausgeschlafen zu haben.

»Sobald sie sich bewegt,« sagte der Sternenschein, »will ich nach Hause gehen und ein paar Sachen zusammenpacken. Ich komme dann sofort wieder, und – nicht wahr, Sie lassen mich bei der Pflege helfen? Das Kind erinnert mich so – an ein andres – das ich einst kannte –.«

Glühende Röte überflog bei diesen Worten das schöne Gesicht, wich aber rasch einer tödlichen Blässe.

»Thun Sie das, wenn es wirklich Ihr Wille ist,« versetzte Jocelyn, »Erwarten Sie aber nicht, daß ich mich für die Nacht fortschicken lasse – es – es könnte die letzte sein.«

Seine Stimme versagte. Er beugte sich tief über das schmal gewordene, in die Länge gezogene Gesichtchen.

»Mein Mädelchen!« flüsterte er. »Mein Herzenskind!«

Mit Anbruch der Nacht wurde Dots Zustand mehr und mehr beängstigend. Der Arzt war noch einmal gekommen; er konnte nichts thun, blieb aber auf Jocelyns Bitte da. Lange Stunden voll qualvoller Angst folgten. Wenn er um sein eigen Fleisch und Blut gezittert hätte, Jocelyns Schmerz hätte nicht heftiger sein können. Er wunderte sich selbst darüber.

Gegen Morgen trat eine augenfällige Veränderung ein. Der Puls wurde ruhiger, die Temperatur ging fast auf die normale Höhe zurück, die verzweifelte Atemnot ließ nach, und ein paar Stunden darauf stellte sich der Schlaf ein, natürlicher Schlaf, der Leben und Genesung bedeutete. Der Arzt, der sich jetzt zum Aufbruch anschickte, erklärte die augenblickliche Gefahr für abgewendet und versicherte, daß sein kleiner Patient bei großer Vorsicht und Sorgfalt sich vollständig herausreißen könne.

Forsyth und Pennington saßen, auf Nachricht wartend, im Atelier. Sie waren's auch erst inne geworden, daß dies heimatlose Kind ein Stück ihres Lebens bildete.

»Es geht besser?« rief Forsyth beim ersten Blick ins Gesicht des endlich eintretenden Jocelyn.

Dieser nickte nur. Dann setzte er sich an einen Tisch, legte das Gesicht in die Hände und schluchzte unverhohlen.


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