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Eines Morgens kam ein Brief an Jocelyn, den er zweimal lesen mußte, um seinen Inhalt völlig zu erfassen. Als er ihn danach aus der Hand legte, trug sein Gesicht einen Ausdruck, der Dot veranlaßte, von ihrem Stuhl herunterzuklettern, sich sachte an ihn heranzuschleichen und leise zu fragen: »Bist dich nicht wohl, Jo?«
Er drängte sie sanft von sich weg.
»Ich mag jetzt gerade nicht sprechen, Kindchen – hab' schlimme Nachrichten erhalten.«
Unmittelbar nach dem Frühstück fuhr er mit einem Omnibus nach der City, wo seine schlimmsten Befürchtungen Bestätigung fanden. Das Aktienunternehmen, worin er vor einiger Zeit all sein flüssiges Kapital angelegt hatte, war verkracht, und die Folge davon war, daß sein jährliches Einkommen von nun an alles in allem etwa dreißig Pfund betrug. Wie wenn er einen schweren Hieb auf den Kopf erhalten hätte, wankte er nach Hause.
Dort gesellte sich sein Mädelchen schweigend zu ihm und schob ihre Hand in die seinige. Er setzte sich und zog sie auf sein Knie, wie er's vordem bei einem andern großen Schmerz auch gemacht hatte.
Sie richtete keine Frage an ihn, sondern wartete ganz still, bis er zu sprechen anfangen würde. Es dauerte lange, dann sagte er endlich: »Wird's dich sehr unglücklich machen, recht arm zu sein, Kindchen?«
Da sie ihn nur verwundert ansah, setzte er hinzu: »Ich habe all mein Geld verloren, Dot.«
Da schlang sie die Arme um seinen Hals und flüsterte tröstend! »Armer, armer Jo! Nicht traurig sein! Dich hast ja mich!«
»Ja, aber wir werden von hier wegziehen müssen –« sein Blick wanderte im Atelier umher – »und in armseligen, kahlen Stübchen wohnen, wo du sitzen wirst wie ein Vögelchen im Käfig.«
»Wie das kleine Vögelchen in deine Geschichte,« sagte sie mit einem Lächeln, das alle Grübchen in dem Kindergesicht zeigte.
Ihr Lächeln rief einen flüchtigen Sonnenschein auf seinen Zügen hervor, aber der dunkle Schatten siegte gleich wieder.
»Das verstehst du nicht, mein kleines Hausmütterchen,« sagte er, ihr Gesichtchen am Kinn zu sich aufrichtend. »Wir werden alle unsre hübschen Sachen weggeben müssen, und ich werde keine Bilder mehr malen, dir keine hübschen Kleider mehr kaufen können – alles wird häßlich und öde sein.«
»Pa hat auch sein Geld verloren,« bemerkte sie zuversichtlich, »wir haben uns aber gar nichts draus gemacht – nur freilich – wenn's kalt war. – Jetzt ist's so warm! Vielleicht eh's kalt wird, hast dich Haufen von Geld verdient – so groß!«
Sie streckte beide Aermchen aus, um den Umfang ihres Reichtums zu zeigen, aber Jocelyn schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, mein süßer kleiner Tröster, so wird's wohl nicht kommen,« sagte er.
»Thut nichts,« wiederholte sie mit der unzerstörbaren Zuversicht der Kindheit. »Dich und mich, wir sind drum grad so glücklich! Warum weil mußt dich denn alle hübschen Sachen weggeben?« setzte sie dann rasch hinzu.
»Ich muß sie verkaufen,« versetzte er, innerlich überschlagend, was seine Ateliereinrichtung wohl einbringen werde. »Sie müssen verkauft werden, damit wir Brot und Butter essen können.«
»Mich mag Butter gar nicht so sehr,« versicherte Dot, nachdem sie diesen Fall eine Zeit lang überlegt hatte.
»Mein süßes, kleines Lügenmäulchen!« flüsterte er, die Lippen auf ihr Lockenhaar pressend.
Während des ganzen übrigen Tags verhielt sich Dot ungewöhnlich ruhig, und als sie abends in ihr Stübchen ging, nahm sie den »Nymphengel« vom Kaminsims und sah ihn lange andächtig an.
»Ja, mich will ihn verkaufen,« sagte sie endlich entschlossenen Tons vor sich hin. »Hab' ihn gar nicht so sehr, sehr lieb.«
Nichtsdestoweniger nahm sie ihn mit sich ins Bett und betaute die Bronze mit ihren Thränen.
Am andern Tag ertappte sie Jocelyn, wie sie in aller Frühe durch die Flurthüre entschlüpfen wollte.
»Wohin willst du denn, Kind?« fragte er.
Sie gab keine Antwort, umklammerte aber um so fester das Paket, das sie im Arm hielt, und suchte sich an ihm vorbeizudrängen.
»Was soll das heißen, Dot? Was hältst du denn in der Hand?« fragte er, die Thüre verschließend und sie sanft ins Atelier schiebend.
»Was ist in dem Paket, Dot?« fragte er abermals mit dem Versuch, es ihr abzunehmen.
Sie hielt es indes krampfhaft fest.
»Gut, wenn du Geheimnisse vor mir hast, so geh'!« sagte er, sich kalt von ihr abwendend.
Nun sah sie mit thränenfeuchten Augen und zuckenden Lippen demütig zu ihm auf und hielt ihm ihr Paket hin, ohne ein Wort zu sprechen.
Er öffnete es. Eine Papierschichte folgte der andern.
»Dein Nymphengel!« rief er endlich überrascht. »Was in aller Welt wolltest du denn damit machen, Dot?«
Sie konnte erst nicht sprechen, dann brachte sie unter Schluchzen heraus: »Mich wollte ihn – ve'kaufen.«
Jetzt begriff er die Sache und schloß das Kind beschämt in seine Arme.
»Mein Kleinchen,« sagte er, das Herz übervoll von Rührung und Liebe, »das darf nicht sein! Höre mich an, Kindchen! Selbst wenn du ihn verkaufen wolltest, wäre das Geld, das du dafür bekämest, keine große Hilfe. Er ist ja wunderhübsch und du hast ihn sehr lieb, aber dafür bezahlen die Leute nicht viel. Versprich mir, daß du dir nie mehr einfallen läßt, derartiges zu thun!«
Dot hielt ihr Köpfchen unter seinem Rock versteckt, und nach einer Weile verstummte ihr Schluchzen.
»Ist's ganz gewiß, mußt dich Nymphengel nicht verkaufen?« fragte es plötzlich unter dem Rock vor.
»Ganz gewiß, ich würde ernstlich böse werden, wenn du's thätest.«
Wieder eine Pause – dann sagte das verschleierte Stimmchen: »Nymphengel geben.«
Er bot ihn ihr in ihr Versteck, wo er verschwand und geherzt und geküßt wurde wie ein lange schmerzlich entbehrter Schatz.
Jocelyn wußte es wohl zu schätzen, welch ein ungeheures Opfer sein Mädelchen ihm hatte bringen wollen.
Er ging an diesem Tag spät zu Bett, weil er lange über Zukunftspläne und Wege brüten mußte. Daß er seiner Kunst entsagen müsse, war ihm klar – in vier Jahren hatte er zwei Bilder verkauft, und ihr Preis hatte ihn nicht zum Krösus werden lassen. Als Lebensunterhalt betrachtet, war seine Malerei folglich untauglich, reiner Luxus. Zum erstenmal fragte er sich bei dieser Gelegenheit auch, ob er denn überhaupt je ein wirkliches ausreichendes Talent gehabt habe.
Dann überflog er die ausgeschriebenen Stellen in den Morgenblättern und schrieb etliche Meldungen auf Gesuche, die ihm nicht allzu trügerisch vorkamen. Mittlerweile war es Mitternacht geworden, er warf aber noch einen Blick in Dots Stübchen, ehe er zu Bett ging. Eine kleine Nachtlampe erleuchtete den schmalen Raum, denn Dot war ein kleiner Hasenfuß, und Jocelyn erinnerte sich aus eigener Kinderzeit deutlich, welche Schrecken die Dunkelheit einem jungen Gemüt bereiten kann. Dot schlief fest mit offenstehenden Lippen, die ihre kleinen, unregelmäßigen Mausezähnchen durchschimmern ließen. Den einen Arm hatte sie um ihr Köpfchen geschlungen, die Finger in ihr Lockenhaar eingewühlt. So pflegte sie meist zu schlafen. Auf einem Stuhl, den sie dicht an ihr Bett gerückt hatte, stand der neu geschenkte Nymphengel.
»Gott segne dich, mein Vögelchen!« flüsterte er, einen leisen Kuß auf ihre Stirne drückend.
Er selbst lag noch wach, bis der Morgen dämmerte, und mühte sich, wie gewöhnlich, nicht an Aline Tressillian zu denken. Daß ihr Verhalten ihm gegenüber seine Liebe nicht auszurotten vermocht hatte, machte ihn oft rasend. Er hatte ihr nicht vergeben, auch die Kunde vom Bruch ihres Verlöbnisses hatte ihn nicht milder gestimmt, und trotzdem beherrschte und verfolgte ihn der Gedanke an sie so unablässig, daß er sich um der Schwachheit willen, die im Kampf mit dem Stolz immer wieder unterlag, selbst verachtete. Heute aber fügte er sich, ehe der Schlaf endlich kam, daß der Stolz Sieger geblieben sei.
In den nächsten Tagen durchwanderte er von früh bis spät die Geschäftsstadt auf der Suche nach noch so mäßig bezahlter Arbeit. Die immer erneuten Enttäuschungen hatten ihn schon ganz krank und elend gemacht, bis er schließlich Anstellung fand, freilich nur einen mageren Sekretärsposten. Mit großer Sparsamkeit aber reichte das Gehalt immerhin aus, um Dot und sich über Wasser zu halten, bis er etwas Besseres gefunden haben würde.
Pennington hatte seine Wohnung am Sankt-Karlsplatz aufgegeben, um in eine Vorstadt im entlegenen Osten zu ziehen, wo er sich im Dienst der leidenden Menschheit bis auf Haut und Knochen aufzehrte, und Jocelyn übernahm die dadurch frei gewordenen zwei Stübchen im fünften Stock samt einem dritten für Dot. Das Wohnzimmer gewährte über die gegenüber liegende Schule hinweg einen Ausblick ins Grüne, die Zimmer waren frisch gestrichen, anspruchslos und unaufdringlich tapeziert worden, darin bestanden ihre Vorzüge.
Dann kam der Tag, wo die ganze Einrichtung des Ateliers mit Ausnahme des Unentbehrlichsten in eine Auktion wanderte, und noch am selben Nachmittag hielten Jocelyn und Dot ihren Einzug in die neuen Räume. Forsyth hatte sich für den Abend zu Gast geladen, und mit seiner Hilfe vollbrachte Jocelyn wahre Wunder in gefälliger Unordnung seiner armseligen Habe.
Als schließlich alle drei beim Abendbrot saßen, äußerte Dot nachdenklich: »Mich glaube, ist viel hübscher hier als bei Frau Lamb!«
Die beiden Männer lachten und Jocelyn sagte: »Du Sonnenkind!«