Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Zwölftes Kapitel.

Das Schluchzen ließ aber bald nach, denn der Schlaf überwältigte das gänzlich erschöpfte Kind, Der Flackerschein aus einer Blendlaterne und eine brummige Stimme entrissen sie schließlich dem tröstlichen Schlummer.

»Was soll denn das heißen?« herrschte die Stimme sie in strengem Ton an. »Steh' auf, kleiner Racker! Daß du hier nicht herumliegen darfst, weißt du so gut wie ich.«

Dot sprang mit einem leisen Wehschrei auf die Füße, wobei die welken Narzissen den ganz erstarrten Fingerchen entglitten.

So rauh aber die Stimme des Schutzmanns 230 H auch klingen mochte, sein Herz war nicht von Stein und das rührende kleine Gesicht machte Eindruck auf ihn.

»Bitte, sei dich nicht böse,« stammelte Dot, das Haar aus der Stirne streichend, in großer Verwirrung. »Mich bin verloren gegangen, mich kann Pa nicht finden, und Jo wird gar nicht wissen, wo mich bin. Und meine schönen Kleider hat sie genommen und diese anziehen müssen.«

»Wer hat das gethan?« fragte 230 H.

»Eine Frau – alte Frau mit fu'ch'bar Gesicht, heißt B'igitte. Und sagt, wolle mich zum Pa führen.«

»Ja, wo ist denn dein Pa?« fragte der Schutzmann.

»Pa ve'sto'ben,« lautete die bekümmerte Antwort.

»Zum Henker! Wie hätt' sie dich denn zu ihm führen können?«

»Weiß mich nicht.«

»Aha! Kleines Schaf, da hat mal wieder ein uraltes Schelmenstück verfangen! Nun, siehst du, jetzt gehst du eine Weile mit mir auf und ab, und in einer halben Stunde ist mein Dienst gethan, dann nehm' ich dich mit heim zu meiner Alten bis morgen früh.«

»Bringst mich zu meinem Pa?« fragte das Kind wehmütig.

»Nein, kleine Krabbe, mit denen drüben steh' ich nicht auf dem Besuchsfuß, und wer dir weis macht, er könn's, der redet Schnickschnack. Wie heißt du denn, Frauenzimmerchen?«

»Dot; wohne bei Jo. Ist ein Mann, der ku'iose Bilder malt und hat mich genehmt, als Pa fortging zum Begraben. Mich habe Jo sehr lieb.«

230 H bückte sich rasch und nahm seine neue Bekannte auf den Arm.

»Bist ja ganz hin, armes Wurm!« sagte er mitleidig. »Ich will dich lieber tragen.«

Der Regen hatte aufgehört, und der Mond suchte durchs Gewölk zu brechen. Dot zitterte vor Frost in den durchnäßten Kleidern und schmiegte sich eng an die breite Brust des Schutzmanns. Sie war jetzt gar nicht mehr schläfrig, sondern redselig.

»Hast dich auch kleine Mädchen?« fragte sie.

»Zwei Mädels und einen Jungen – gehabt,« lautete die Antwort. »Haben sie alle begraben müssen, Gott sei's geklagt. Meine Aelteste war ungefähr gerad' von deiner Größe.«

»Mich bin lang fünf vorbei,« versetzte Dot mit Selbstgefühl. »Früher war mich nur vier.«

Die nassen Haarsträhne, die ihr ins Gesicht hingen, begannen sich wieder zu kräuseln, ihre Lippen waren nicht mehr ganz so blau wie vorhin, aber die Kälte hatte alles Rot ihrer Wangen in die arme kleine Nase getrieben, und sie sah sehr hilfsbedürftig und jämmerlich aus.

Die noch ganz jugendliche »Alte« von 230 H machte ein höchst verwundertes Gesicht, als ihr Eheherr mit seiner leichten Last in die Stube trat.

»Ums Himmels willen, Jim,« rief sie, »wo hast du das Kind aufgelesen?«

Ohne die Auskunft darüber abzuwarten, hatte sie ihm aber Dot schon abgenommen und hielt sie mütterlich im Arm. Die Augen, womit sie ihren 230 H fragend ansah, standen voll Thränen. Mit lakonischer Kürze schilderte er die Geschichte seines Funds.

»Armes, liebes Herzchen!« sagte die Frau zärtlich. »Bist ja ganz naß, durch und durch! Jetzt will ich dir dein Essen auftragen, Jim, dann nehm' ich sie in die Schlafstube und ziehe ihr trockenes Zeug an.«

»Das thust du gleich,« versetzte er brummig. »Ich werde schon selbst mein Futter finden.«

Dot entwand sich den Armen der Frau und ging zu 230 H hinüber, der vor dem behaglich knisternden Kaminfeuer stand.

»Mich danke, daß du für mich desorgt hast,« sagte das helle, weiche Stimmchen.

»Dummes Zeug, Kleine – da gibt's nichts zu danken,« wehrte der eiserne Mann des Gesetzes ab, wie ein wohlwollender Riese auf die kleine Person herunterblickend.

»Dich wirst mich zu Jo bringen?« fragte sie, zwischen Zuversicht und Kummer schwankend. »Mich fü'chte, mit Pa finden, ist nichts.«

»Freilich schaff' ich dich heim,« gelobte 230 H, »wenigstens will ich mein Möglichstes thun.«

Nun ließ sich Dot willig ins Schlafzimmer führen, wo Jims Frau sie zärtlich küßte, in heißen Thränen zerfloß und sich überhaupt so seltsam benahm, daß es Dot viel zu denken gab. Sie setzte sich aber geduldig auf den Fußboden und wartete es ab, bis Frau Jim verschiedenen Schubladen verschiedene Kleidungsstücke entnommen hatte, die ihr alle ganz gut paßten.

»Bitte, wasch mich Gesicht,« sagte Dot, ehe es ans Ankleiden ging. »Muß ganz s'mierig sein. Will nicht, daß Jo s'mieriges Gesicht sieht.«

Als die abermals verwandelte Dot wieder in die helle saubere Küche geführt wurde, die auch als Wohnraum diente, hatte 230 H eine große Schüssel geschmorter Kaldaunen mit Zwiebeln vor sich, in die er kräftig einhieb. Er lud Dot artig zu diesem Leckerbissen ein, sie lehnte aber höflich ab.

»Mich danke,« sagte sie. »Jo mag mich nicht Fleisch essen haben am Abend. Mich bitte um Milch und Butterbrot.«

»So so,« bemerkte 230 H, sich einen gehäuften Teller vorlegend. »Bist eine stachlige kleine Krabbe, weißt, was du willst.«

»Sie ist ein Goldkind,« erklärte Frau Jim, mit Herbeischaffung der Milch beschäftigt. »Ein ganz artiges Mädchen, das nichts thun will, was man ihm verboten hat. Und wer ist denn Jo, Liebling? Ist er dein Bruder?«

»Mich glaube nicht,« erwiderte Dot, nachdem sie die Frage der Verwandtschaft ein Weilchen schweigend überlegt hatte. »Weiß nicht, wer Jo ist. Ist eben Jo. Hat mich genehmt, als Pa destorben.«

»Schön, schön,« sagte die Frau, sich die Augen trocknend.

»Und wo wohnt ihr denn, kleine Maus?« fragte 230 H, der nun den ersten Hunger gestillt hatte.

»In eine lange, lange Straße, wo alle Leichenwagen fahren,« lautete die bündige Antwort.

»So, und wie heißt denn die lange Straße?«

»Weiß mich nicht.«

»Und wie heißt denn ›Jo‹ sonst noch?«

»Hab' mich ve'gessen.«

»Eine lange Straße, wo Leichenwagen fahren,« überlegte Frau Jim. »Sie meint die Ladbroke Grovestraße, kannst dich d'rauf verlassen, Jim, durch die fahren alle Leichenzüge nach Kensal Green hinauf.«

Dot nickte zustimmend.

»Mich muß heim zu Jo,« erklärte sie, vom Stuhl herunterkletternd. »Jo wird mich ve'missen, kann nicht sein ohne mich.«

»Das Goldkind!« rief Frau Jim. »Aber mein süßes Herzchen, jetzt bei nachtschlafender Zeit – es regnet auch wieder furchtbar – können wir nicht in der Ladbroke Grovestraße ein Haus suchen, wo ein Mann Namens Jo wohnt!«

»Jo ist nicht ein Mann,« verbesserte Dot, »Jo ein Herr.«

Jetzt aber begann sie plötzlich zu weinen.

»O, so ganz schläf'ig!« wehklagte sie. »Mich will in mein liebes kleines Bett und mein' Nymphengel Gutenachtkuß geben!«

»Nur nicht weinen, Herzenskind,« sagte Frau Jim beschwichtigend. »Du kommst jetzt mit mir, und ich leg' dich ins Bett, und morgen früh bring' ich dich heim, und ganz, ganz gewiß finden wir den Jo – wenn's auch freilich gerade mein Waschtag ist,« setzte sie etwas bekümmert hinzu.


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