Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Erstes Kapitel.

Er hatte sie schon öfters auf der Treppe bemerkt, ein kleines Dingelchen mit welligen Haaren und sanften braunen Augen. Heute redete er sie zum erstenmal im Vorübergehen an und strich ihr mit der Hand über die Haare. Sie blieb stehen und schaute zu ihm auf.

»Fünf Jahre alt, heute,« sagte sie ernsthaft mit einem Stimmchen, das selbst für ein Kind besonders hell und weich klang, »'s ist mein 'bur'stag.«

»Fünf Jahre alt!« wiederholte er feierlich, denn er war heute in außergewöhnlich guter Laune. Eben hatte er von einem Kunsthändler die Nachricht erhalten, daß eines seiner Bilder verkauft sei, und das bedeutete ihm fast einen Lebensabschnitt, nicht nur ein freudiges Ereignis. »Fünf Jahre alt! Allen Respekt! Hast du denn auch fünf Geschenke gekriegt?«

Das Persönchen schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht einziges. Pa hat's vergessen,« erwiderte sie.

»Ob ich wohl irgend etwas habe, das für einen fünfjährigen Geburtstag paßt?« sagte Jocelyn gutmütig. »Wollen wir einmal nachsehen?«

Das Kind schob sofort ihr Händchen in die seinige. Es war ein kleines, eiskaltes Händchen und bedeutend magerer, als sich's für einen »fünfjährigen Geburtstag« geziemt hätte.

»Ja, nachsehen. Heiße Dot,« fügte sie vertraulich hinzu, »und du?«

Jocelyn stellte sich ihr vor, und sie traten in sein Atelier.

»Was für komische Stube!« rief sie auf der Schwelle mit einem kleinen Freudensprung, »Und so groß! Und ein Feuer hast dich! Dich mußt aber reich sein!«

Lachend begann er in einem alten eingelegten Schrank neben dem Kamin herumzukramen.

»Wir wohnen mehr Treppen hoch,« fuhr sie fort, »und Feuer haben wir keins. Kriegen aber eins, wenn Pa reich wird und nicht ku'ios ist.«

Jocelyn konnte sich ungefähr vorstellen, worin Pas »Kuriosität« bestünde, denn seine Wirtin hatte ihm wiederholt erzählt, daß der »Herr vom Vierten« sich mit möglichster Geschwindigkeit zu Tode trinke.

»Armes Seelchen!« dachte er mit einem Blick auf das winzige Frauenzimmerchen, das wollüstig die Finger wärmend vor seinem Kaminfeuer hockte. Dabei fiel ihm ein, daß es sich wohl verlohnen würde, das seltsame unregelmäßige Gesichtchen unter dem Wald von ungebärdigen Locken zu malen, nicht der Schönheit, aber der Besonderheit wegen.

»Nun, was meinst du zu diesem Halsband?« fragte er, eine Schnur hellblauer Glasperlen aus der Schublade ziehend, die am Hals seines vorletzten Modells als Geschmeide einer orientalischen Fürstin geprangt hatte. »Würde das nicht ein hübsches Geburtstagsgeschenk abgeben? Oder gefällt dir das besser?«

Dabei hielt er, einem plötzlichen Einfall gehorchend, ein Bronzefigürchen in die Höhe, die schlanke Gestalt einer zierlichen Nymphe, die, aufwärts schwebend, nur mit der äußersten Fußspitze am Boden haftete.

»O, Engel, bitte schön!« flüsterte das Kind, ohne einen Blick für die Glasperlen zu haben, ganz atemlos vor Entzücken.

Sie war fast schön in ihrer Verklärung, als sie zart und vorsichtig die Figur in ihre Händchen nahm, sie streichelte, küßte und wie ein lebendiges Wesen herzte. Höchlich ergötzt beobachtete er sie.

»Warum hältst du das für einen Engel?« lachte er.

»Ist's keiner?« fragte die Kleine. »Sieht aus wie Engel ... kann mich's nicht ein Engel heißen?«

»Aus Nymphen Engel zu machen, ist etwas beschwerlich,« warf Jocelyn grimmig hin.

»Nymphe!« wiederholte Dot, die zarten Augenbrauen zusammenziehend. »Ist's hübscher, sich eine Nymphe sein, als ein Engel?«

»Jedenfalls kommt's häufiger vor, Dot. Diese hier ist eine tanzende Nymphe, und wahrscheinlich ist sie nicht sehr engelhaft gewesen!«

»Tanzt's?« fragte Dot gespannten Blicks. »Tanze auch, mich? Soll mich?«

»Jawohl, wenn dir's Spaß macht!« versetzte der Maler, indem er sich aufs Sofa warf und eine Cigarette ansteckte.

Dot stellte ihr Heiligtum vorsichtig weg, rückte in geschäftsmäßiger Weise einige Stühle beiseite, zog ihre ausgetretenen Schuhe von den Füßen und begann zu tanzen.

»Dich mußt pfeifen,« gebot sie mit herrischem Nicken.

Gehorsam pfiff Jocelyn eine bekannte Walzermelodie.

»Donnerwetter!« rief er nach ein paar Minuten. »Das tanzt ja wie ein richtiges Feenkind! Wer hat's dich denn gelehrt, du kleiner Kobold?«

»Mutter, aber ... bst!« erklärte sie, den Finger an die Lippen drückend. »Pa mag's nich' mehr leiden, wenn mich tanzt, und von Mutter s-p'echen soll mich auch nich'.«

»Ist sie gestorben?« fragte Jocelyn.

»Glaube. Krank ist sie geworden und hat sich nich' mehr ausgehen können, und dann hat sich im Bett bleiben müssen und dann ganz still gelegen, und Pa sagt, sie sei tot. Da haben wir geweint, der Pa und mich, und dann hat man's in langen Kasten gelegt und fo'tgetragen. Dann haben wir in diesem Haus gewohnt und Pa ist ku'ios geworden. Aber ist nicht immer ku'ios, mußt dich wissen,« fügte sie begütigend hinzu. »Ist sich ein lieber guter Pa, der mich manchmal auf seinem Knie sitzen läßt und mir Ge-s'ichten erzählt.«

»Ob dein Pa mir wohl erlauben würde, dich zu malen?« fragte Jocelyn.

Das kleine Ding starrte ihn verdutzt an.

»Ob er mir erlauben wird, ein Bild von dir zu malen, meine ich?«

»Weiß mich nicht,« versetzte Dot zweifelnd.

»Wollen wir ihn einmal fragen?«

»Pa ist aus'gangen ... würdest mich hübsch sein lassen auf dein' Bild?«

Sie sah ihm prüfend in die Augen, und er nickte; das kleine elfenartige Geschöpfchen war merkwürdig kameradschaftlich.

»Zeig' mir mal deine Bilder,« befahl sie, dicht an ihn herantretend und ihn an einem Finger fassend.

Er führte sie im Atelier umher, wobei er vorsichtig die für ihren Blick ungeeigneten Pinseleien nach der Wand kehrte, bis sie plötzlich eine seiner Lieblingsstudien ins Auge faßte, ehe ihm Zeit für diese Vorsichtsmaßregel geblieben war.

»O bitte, bitte, mach dich kein Bild von mir, das nicht Kleider an hat!« rief sie unbeschreiblich flehend.

»Nein, nein, ganz gewiß nicht!«

Darüber beruhigt ging sie feierlich von einer Leinwand zur andern, blieb vor jeder stehen, wie es nur irgend ein Kenner gemacht hätte, runzelte die Stirne und preßte die Lippen fest aufeinander. Endlich erklärte sie mit einer Bestimmtheit und Endgültigkeit, die ihn höchlich ergötzte: »Mag deine Bilder nicht.«

»Wahrhaftig, Frauenzimmerchen?« rief er, gutmütig auflachend, »Und warum nicht?«

»Weil garstig sind,« lautete das unverblümte Urteil. »Und alle Desichter haben eine komische Farbe. Mag mein Desicht mich nich' so komisch gemalt haben.«

»Du bist wirklich ein gelungener kleiner Kerl,« bemerkte er, sie von der Seite ansehend.

»Kann mich Peter dabei haben?« erkundigte sie sich plötzlich. »Darf mich Peter auf Schoß sitzen? Er ist ganz, ganz klein,« setzte sie überredend hinzu, »kaum wird man ihn sehen auf dem Bild und mich habe ihn so lieb!«

»Peter? Wer in aller Welt ist denn dieser Peter?«

»Meine Katze,« lautete die in wehmütigem Tone gegebene Antwort. »Hat nur ein Auge, arm's Ding, aber mich hat Peter so lieb, so lieb ...«

Sie brach plötzlich ab, und das kleine Gesicht nahm den Ausdruck gespanntester Erwartung an, worein sich deutlich ausgesprochene Angst mischte. Jetzt hörte auch der Maler die Hausthüre zufallen, rasche Fußtritte erklangen auf der Treppe, und das Gesicht der Kleinen war wie durch einen Zauberschlag verwandelt. Sie riß die Zimmerthüre auf und rief jubelnd hinaus: »Pa; Pa! Komm und besuche den Malherrn! Er will mich in ein Bild machen!«

Jocelyn trat hinaus und stand einem hochgewachsenen Mann von etlichen fünfzig Jahren mit verlebtem, aber gutartigem Gesicht, freundlichen, aber blutunterlaufenen Augen gegenüber. Es war leider Gottes ein Wrack, aber das Wrack eines anständigen Menschen.

»Herr Fraser, so viel ich weiß?« sagte der Maler, sich artig verbeugend.

Dots Pa erwiderte die Verbeugung mit gewinnendem Lächeln.

»Sehr angenehm, Herr Jocelyn ... freut mich, Sie kennen zu lernen! Sie hätten Lust, meine kleine wilde Hummel zu malen? Das leuchtet dir wohl sehr ein, Dot, oder nicht?«

Sie nickte.

»Mich jetzt nach Peter sehen will,« erklärte sie. »Mich kommt bald wieder!«


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