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Anne-Marie verriet mit keinem Wort, ob die Geschichte von dem kleinen Affen Chucuchu ihr gut gefallen habe oder ob es eine häßliche Geschichte war. An ihrem dreizehnten Geburtstag hatte sie eine Armbanduhr zum Geschenk erhalten; sie sah sie jetzt an, viel länger, als man sonst die Uhrzeit abliest. Und erst nach einer langen Pause hob sie den Kopf und forderte Cayrú auf, die Paddel wieder in die Hand zu nehmen.
Er pflückte aber noch schnell eine purpurne Dolde der Mimose und legte sie ihr in den Schoß.
Sie sah den Blütenstengel an und sagte: »Du mußt schnell rudern, aber nur bis zum Ausgang der Bucht. Dann steigst du aus. Es könnte bei uns jemand am Zaun stehen und dich sehen, wenn du mich zurück bis zur Anlegestelle begleitest.«
»Bin ich ein Giftbaum, um den man einen Bogen machen muß?«
»Ein Giftbaum …? Du, man sagt noch viel Schlimmeres von dir.«
»Und du sagst das auch?«
»Ich weiß noch nicht genau, ob ich das sagen muß.«
»Du wirst also jetzt immer an mir vorübergehen, wenn ich unter der Agave sitze und auf dich warte?«
»Wenn ich dich unter der Agave sitzen sehe, werde ich dir guten Tag sagen.«
»Und nach der Insel … fahren wir beide nie mehr?«
»Doch … wir könnten fahren, wenn du auch solch ein Boot hättest wie ich und mit deinem Boot eine Stunde früher auf der Insel sein könntest als ich mit dem meinen und eine Stunde später abfahren würdest. Vielleicht werden wir uns dann wieder auf der Insel treffen. Aber nur so und nur dann, wenn uns die Leute nicht sehen. Du verstehst?«
»Ich werde morgen schon mit dem neuen Boot anfangen.«
»Gut, fang an und beeil dich mit der Arbeit! – Und wenn das Boot fertig ist, auf der Insel darfst du auch wieder Muñeca zu mir sagen und mir helfen, ein junges Gürteltier einzufangen.«
Cayrú ruderte den Einbaum aus der Bai heraus bis zu jener Stelle, wo ein dickes Weidengebüsch die Einfahrt in den offenen Fluß verdeckte. Er legte Anne-Marie die Paddel in die Hände und sprang auf die Böschung. Er sah, daß sie die Blätter nach einer Weile wieder einzog, die Blütendolde in die Hand nahm, einen Büschel abbrach und ihm in das Haar steckte. Dann fuhr sie weiter, ganz langsam, als lähmten schwere Gedanken die Kraft ihrer Arme. Cayrú vermochte bis zu jener Stelle zu sehen, wo der Palo borracho stand, an dem Anne-Marie das Kanu festmachte. Er ließ den Pfiff des Wasserfalken los. Im ersten Moment streiften ihre Augen den Fluß, dann aber drehte sie den Kopf nach der Richtung hin, wo Cayrú stand. Sie wußte jetzt, wer der Falke war.
Cayrú blieb noch lange an der gleichen Stelle stehen und glaubte nun zu wissen, daß es nicht Anne-Marie war, die ihn zu einem Hund gemacht hatte, den man mit der Peitsche bedrohen und vom Hof jagen kann.
Der Onkel war also der böse Geist, von dem das Unheil ausgegangen war. Ein böser Geist wie Aña, der den indianischen Jägern auf der Jagd die Pfeile aus der Luft holt, sie umdreht und auf den Jäger zurückschnellen läßt. Ein böser Geist, der dem durstigen Wanderer das Wasser aus dem Felsgestein sprudeln läßt und, wenn er sich bückt und trinken will, aus dem Wasser eine Schlange macht.
Als solch einen bösen Geist sah Cayrú den Onkel Anne-Maries an. Und er nahm sich vor, die Mutter nach einem Zauber zu fragen, womit man den bösen Geist bannen kann. Er wartete noch den nächsten Tag und die Nacht ab, ehe er sich daran machte, einen Baum auszusuchen, aus dem sich ein neues Kanu gut schnitzen ließe.
»Bueno …«, brummelte er vor sich hin. »Ich werde mir ein Kanu bauen, nach der Insel fahren und auf dich warten, Muñeca!«
Anne-Marie brauchte einen Tag und eine Nacht dazu, darüber nachzudenken, weshalb Cayrú ihr gerade dieses Märchen von dem jungen Affen Chucuchu erzählt hatte. Sie war für ihr Alter überwach in ihren Gedanken und Erkenntnissen. Und der Umgang mit nur erwachsenen Leuten hier in dieser Wildnis hatte alles Kindliche von ihr genommen. Sie lebte und dachte wie eine Sechzehnjährige. Und sie verstand jetzt auch, daß das Märchen von dem kleinen Affen eine gewisse Beziehung hatte zu dem, was zwischen Cayrú und ihr auf der Insel geschehen war. Mit der Zeit war es ihr natürlich auch klar geworden, weshalb Onkel Heinrich den Knaben Cayrú so hart gestraft hatte. In den ersten Wochen, als er nicht mehr zum Spielen kam, vermißte sie ihn sehr. Und wenn der Vater sich am Abend mit ihr hinsetzte und den Lehrer spielte, war sie nie so recht bei der Sache. Sie rechnete falsch und schrieb Fehler. Und schimpfte der Vater sie aus, dann mischte sich die Mutter ein und sagte: »Weshalb bist du jetzt immer so grob zu dem Kind? Es steckt ihr sicher immer noch der große Schreck in den Knochen. Du mußt mehr Geduld mit dem Mädchen haben.«
Über die natürliche Ausdeutung dieses Schreckens hatte sich Anne-Marie den Kopf lange zerbrochen. Sie war jedoch nicht dahintergekommen, wo in Wirklichkeit dieser Schrecken saß und welche Wirkungen von ihm ausgingen.
Auch als die Mutter sie später darüber aufklärte, welche Funktionen einem Mann und welche einer Frau von der Natur gegeben sind, kam sie dem nicht näher, was sie eigentlich wissen wollte.
Einmal hatte sie sich vorgenommen, Cayrú danach zu fragen. Das war damals, als sie ihn hinter der Agave hocken sah und es ihr leid tat, daß sie nicht mehr mit ihm sprechen durfte. Sie verwarf aber schnell wieder dieses Vorhaben, denn im Haus sprach man noch immer nicht gut von den Indios, nicht nur von Cayrú und seiner Mutter Mayahua, sondern insgemein von allen Indios.
Und heute nun dieses Zusammentreffen?
Es war geschehen, wie wenn der Mensch plötzlich einen Appetit verspürt nach einer Speise, die er schon lange nicht mehr gegessen hat und die dann, bei einem Besuch in einem fremden Hause, als hätten es die Leute erraten, was man sich gewünscht hat, plötzlich auf dem Tisch steht. Eine Speise, deren Geschmack durch viele Träume gegangen war und den man früher in diesem Maße gar nicht so intensiv bemerkt hatte, wie er nun da war, herber und gehaltvoller. Und auch das beschäftigte jetzt die Gedanken des Mädchens, ob es womöglich nicht doch etwas Verwerfliches gewesen war, dieses den Eltern verheimlichte Wiederzusammentreffen mit Cayrú.
Nach einer Woche sagte sie ihm, als er wieder hinter der Agave hockte und wartete, freundlich guten Tag.
Cayrú hatte den Baum endlich gefunden, aus dem er sich das Boot schnitzen wollte. Die Zeder lag dicht am Ufer des Flusses, und er konnte von dieser Stelle aus auch auf die Insel sehen, wie das Mädchen hinfuhr und wieder zurückkehrte.
Es geschah jetzt nicht mehr an jedem Sonntagvormittag. Es lagen einmal sogar vier Sonntage dazwischen. Aber er schnitzte ruhig weiter an seinem Boot. Und er fühlte dabei die strahlende Klarheit des Himmels über dem Wasser und roch die gärenden Dämpfe, die aus den Poren der Erde hochstiegen, aus dem Urgrund des Lebens herauf, wo die Säfte sich bildeten, mit dem nährenden Salz sich mischten und den hungrigen Mund der Wurzeln suchten, um einzugehen zu ihrem Wachstum, in eine neue Fruchtbarkeit hinein.
Auf der Insel paarte sich das Geflügel mit einem Gelärm, daß die Stimme des Wassers es aufgab, sich noch bemerkbar zu machen. Nur dort, wo es über die aus dem Schlammgrund heraufgestiegenen Felsungetüme springen und sich unzählige Male wenden und drehen mußte, klang seine von der gewaltigen Anstrengung zitternde Stimme wie die eines Vogels, den die Stäbe des Käfigs bannen und den der Geist des Wachstums und Werdens von der großen Erfüllung auf den Nistplätzen ausschließt … eine klagende, gurgelnde und wie von einem heftigen Schluchzen oft unterbrochene Stimme. Dem Bambus waren schon die ersten neuen Sprossen gewachsen. Der in einem wundervoll flimmernden, neuen Samtmantel einherstolzierende Morpho legte seine kostbaren Eier in das fette, flaumige Grün ab. Und die weiß- und blaugestreiften Colondrinas klemmten die Lehmspeise der kugelrunden Nester in die Gabeln der Myrte. Unten im Schilf rührte sich die Ratte; ihr langer Schwanz, den sie wie eine Schlange hinter sich herzog oder mit dem sie einen Ringel schlug, warf einen schwarzen Schatten auf die in ihre Liebesspiele versunkenen Frösche. Böse und voll schwefligen Rauches glimmten dazu die Augen der Urgroßmutter aller Schildkröten.
Für die Mutter Cayrús waren diese Tage die aufregendsten des ganzen Jahres. Aus dem ganzen Fluß schienen die Krebse nach der Bai abzuwandern, um in dem ruhigen Gewässer Hochzeit zu halten. Manchmal konnte die India schon in zehn Minuten, an einer einzigen Stelle, die Körbe füllen. Sie lud sich die Last auf und verhökerte sie für ein Nichts in den Dörfern. Manchmal kam sie erst nach Hause, wenn Cayrú schon in tiefem Schlaf in der Hängematte lag, in einem schweren Traum irre Worte sprach, zuweilen sich aufrichtete und in das weiße, glasige Licht der Mondnacht hinausschrie, einen Schrei, den die Miriquinas aufnahmen und mit dem sie den Wald unruhig machten.
Als Mayahua den Sohn einmal wachrüttelte und ihn fragte, was geschehen sei, schüttelte er den Kopf und fiel schlaff in den Schlaf zurück. Aus den Poren seines Körpers dünstete der Schweiß und sammelte sich in dicken Tropfen auf der Stirn und der schwer atmenden Brust.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis die Mutter ihn so wach hatte, daß sein Bewußtsein klar war. Und jetzt erzählte er ihr, daß ihn ein Tausendfüßler so arg erschreckt habe. Er hätte beobachtet, wie er an einem langen Faden sich durch das Loch im spitzen Dach heruntergelassen habe, immer tiefer und tiefer. Und jeder der tausend Füße hätte ein Gesicht gehabt wie jener Mann mit den grauen Augen, der ihm mit der Peitsche die Haut zerfetzt hatte. Er habe sich gewehrt gegen das Anstieren dieser bösen, wie mit Dornen in sein Gesicht sich hineinbohrenden Augen. Plötzlich seien sie tief in seinem Körper gewesen und hätten angefangen zu fressen … zuerst das Herz …
Mayahua suchte den aus Lehm festgestampften Fußboden und die Wände ab. Sie raschelte mit einer Rute an dem Flechtwerk herum, an der Feuerstelle und am Balken, wo die Kalebassen hingen. Käfer und Spinnen polterten herab, die hartschaligen Puppen der großen Nachtschmetterlinge, und zuletzt huschte eine dreifingerlange Eidechse über ihre Hand. Von einem Tausendfüßler jedoch fand sich nicht die geringste Spur. Von jenem Tier, das einem schlafenden Menschen sehr gefährlich werden kann, wenn er in das Ohr oder in die Nasenhöhle hineinkriecht, ein Biest von mehr als Fingerlänge und mit einer ätzenden Ausscheidung aus den Warzen unter dem Bauch.
Cayrú schlief wieder. Und als die Mutter sein Gesicht berührte, fand sie, daß es ruhiger geworden war.
Der böse Geist hat ihn gestreift … dachte sie. Sie holte vom Balken ein. Bündel Kraut herunter und verbrannte es in der Hütte. Aus der Flamme knisterten blaue Spritzer hoch, und in dem Rauch war ein Geruch von Zimt und Vanille.