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XL

Die Gewitterdrohung zog sich noch bis zum Sonntag hin. Montag früh um sieben sollte das Motorboot in der Bai anlegen. So lautete die Abmachung mit dem Administrator der Estanzia. Die Koffer waren gepackt. Anne-Marie schien, was ihr Äußeres betraf, reisefertig zu sein. Martha sagte zu ihr: »Es ist zwar eine sehr lange Reise, aber du bist doch nicht aus der Welt heraus. Gelt, auch mir wirst du dann und wann ein Briefchen schicken. Sieh, ich habe ja sonst keinen Menschen, der mir schreibt. Fünf Monate sind meine Leute nun schon in Asuncion, und noch nicht eine Zeile habe ich von meiner Mutter erhalten. Früher hätte ich das sicher nicht so empfunden. Aber seitdem ich hier bei euch bin, ist alles ganz anders.«

»Natürlich werde ich dir schreiben, Martha. Ob viel und oft, das kann ich dir jedoch nicht fest versprechen. Ich weiß ja noch gar nicht, über welche Zeit ich dort verfüge, wo ich für dieses Land geradegebogen werden soll.

Mein Vater aber wird auf der Rückreise für ein paar Tage in Asuncion Station machen und auch deine Eltern besuchen. Das hat er gestern zu Muttchen gesagt. Richtiger wird sein, du sprichst nachher mit meinem Vater. Und wenn du ihm etwas bestellst, das wird er dir gewiß auch besorgen. Er hat dich gern, und unser Muttchen hat ja auch eine Menge für dich übrig.

Eins aber möchte ich dir noch sagen: Das, was dein Vater dir angetan hat, das mußt du endlich vergessen und weit von dir wegwerfen. Dann wird ein Kraut kommen und wuchern und auch die letzte Spur austilgen. Nach einigen Jahren wird es dann so sein, als hättest du die Sache nur geträumt. So, wie man ja auch von mancher Sache, die man geträumt hat, später glaubt, sie sei wirklich geschehen …«

So sprach die hoch nicht Siebzehnjährige zu der Dreißigjährigen. Und ein anderes Wesen als Martha würde geantwortet haben: »Was verstehst du nasses Küken schon von den schwierigen Problemen unseres Erdenwandels. Geh hin und laß dir erst einen kräftigen Wind um die Nase wehen!« Martha aber nahm die Worte so auf, als habe die Mutter zu ihr gesprochen. Obwohl diese Mutter sicher ganz andere Worte gebraucht haben würde. Rohe und gemeine Worte. So, wie die Leute oben an der Grenze von Brasilien sprechen, wo die Welt, in einem gewissen Betracht, tatsächlich mit Brettern vernagelt ist. Wo Blumen mit fingerlangen Dornen wachsen und Früchte, die so aussehen, daß man sich ekelt hineinzubeißen, die aber schmecken, daß einem die Augen überlaufen vor Wonne. Dort plagt sich der Kolonist mit einer Erde herum, die sich um keinen Preis zähmen lassen will. Er versucht es dennoch und verlernt dabei das Reden. Mit wem soll er sich hier auch unterhalten? Die Ochsen vor dem Pflug gehen ihren Trott. Sie bewegen sich zwischen der Futterkrippe und der Peitsche. Alle Geräusche im Kraut und in den Bäumen sind so monoton, daß man sie nicht mehr beachtet. Nur wenn die Heuschrecken heranschwärmen, meilenlange Züge, und die Sonne verdunkeln … dann bekommt auch das Feld ein anderes Aussehen. Denn aus dem »Garten Gottes« ist ein Misthaufen geworden und aus Mühe und Arbeit ein Fluch. Wer verflucht wird, der flucht noch kräftiger und hält sich dabei, weil der Schuldige für ihn unerreichbar ist, an die Schuldlosen, an die eigenen Leute in der Schilfhütte. Tränen schaffen aber kein Brot. Deshalb hören sie auch bald auf zu fließen. Alle Empfindungen werden hart, und die letzten Gefühle des Herzens stumpfen ab. Nur der Almacenero darf nicht aufhören, ein Einsehen zu haben. Der muß weiter »anschreiben« und auf die Bezahlung bis zur nächsten Ernte warten, oft auch bis zur übernächsten.

So verbrauchen sich die Kräfte, die physischen und die psychischen. Und so verbraucht sich das Leben schlechthin. Darin leben die Eltern und die Kinder. Auf solchen Bahnen bewegt sich das Dasein der Kolonisten in jener Gegend, von wo Martha herkam und die sie von Staats wegen als ihre Heimat zu betrachten hatte, Vater- und Mutterland. Als Anne-Marie zum Fluß ging, sah Martha ihr eine Weile nach, beschattete mit der gehöhlten Hand die Augen und schüttelte sich. Der Schauer kam aus ihrem Blut: Wenn ich doch nur einmal so jung und so erwachsen gewesen wäre wie dieses Mädchen, das mir wie eine fremde Welt vorkommt.

Anne-Marie machte den Einbaum flott und fuhr nach der Bai herüber. Sie fegte mit scharfen Augen das Wasser in allen seinen Ecken nach Cayrú ab. Sie kam bis zur Barranca. Mehr als ein Dutzend Krebsreusen trockneten in der Sonne, und auch das große Schöpfnetz hing an einem Baum.

Von Cayrú war nicht die Spur zu sehen.

Anne-Marie kletterte über die flachen Steine und suchte hinter der Hecke, dort, wo der junge Fischer die Räucherei anzulegen gedachte. Sie sah in die Hütte hinein und rief. Nichts antwortete. Vielleicht ist er heute über Land gegangen, um eine Bestellung zu erledigen, oder zu den Freunden seiner Mutter, um sich einen Rat zu holen, wie er sich zu verhalten hat, wenn die Mutter ihm wieder erscheint und von ihm will, daß er sich eine India zur Frau nimmt, sonst müsse sie ihn verfluchen.

Auf den Gedanken, daß die Mutter Cayrús, selbst wenn sie ihm nicht so erscheint, wie er sie zu sehen und ihre Stimme zu hören glaubt, dennoch in den Gedanken des mutterlosen Sohnes herumgeistert und daß alle die Ratschläge, die sie ihm einstmals gab, nun aus der Erinnerung heraufsteigen und eine Form annehmen, die wie von einem lebendigen Odem bewegt ist … kam Anne-Marie nicht. Sie hielt sich nur an ihre Gedanken und an das, was ihre Gefühle bewegte.

Und als plötzlich die Frage in ihr hochschoß: »Ist das auch wirklich Liebe, was mich zu Cayrú hinzieht?« … da war sie so überrascht und verwirrt davon, daß das Herz ein paar Schläge übersprang. Sie kniff die Lippen zusammen und versuchte, sich auch innerlich wieder zuzuschließen.

Aus der Wipfelspitze des Timbó, dessen Alter man auf mindestens fünfhundert Jahre schätzte, ertönte der Ruf des Kardinals. Der feuerrote Schopf leuchtete aus dem schwarzen und lackblanken Gefieder wie eine Blumenknospe. Ein großer gelber Falter umflatterte den roten Punkt. »Oh … du Dummer …!« flüsterte Anne-Marie Es war aber der Kelch einer Orchidee, von dem der Falter sich angezogen fühlte. Der Vogel störte ihn. Und Anne-Marie die Orchidee nicht von hier unten.

Als sie den Weg wieder zurückging, fiel ihr ein, sich nach Cayrús Boot umzusehen. Sie fand die Anlegestelle leer. Jetzt weiß ich es genau: Er ist nach der Insel gefahren. Er wird uns die letzten Reiherfedern bringen. Und ich werde ihn doch noch sehen, ein Stück weit mit ihm gehen und ihm sagen: Morgen ist der Traum zu Ende.

Welcher Traum ist nun zu Ende …? fragte sie sich nach einer Weile des Nachdenkens, das eine lange Kette von Geschehnissen bildhaft machte und Cayrú in den Mittelpunkt stellte. Kann es sein, daß es nur ein Traumdasein war, worin er und ich wie Wesen aus Fleisch und Blut lebten?

»Ich kann so nicht mehr weiterdenken«, flüsterte sie. Eine lähmende Schläfrigkeit zerrte an ihr. Sie mußte sich wieder in Bewegung setzen, um wach zu bleiben. Sie lenkte den Einbaum nach dem Fluß zurück, der so flach in kleinen Wellen ging, als sei auch ihm die Schwüle in alle Glieder gefahren. Sie sah nach der Insel hinüber. Die lag da wie der höckrige Rücken eines riesigen Yacarees in einem glasigen Dunst, der die Bäume formlos und stumpfgrau machte.

Sie verzog die Lippen. Es war der Ausdruck eines Schmerzgefühls. Der Kopf neigte sich schulterwärts: Hätte ich die Augen, die er hat, dann würde ich ihn rufen, so wie er mich aus dem Schlaf herausrief. Und ich war nicht einmal erschrocken, als er mich so rief und wach machte.

Sie knotete mit dem Bastseil den Einbaum an der Wurzel fest, die den Graben abschloß. Das Wasser gluckste unter dem dünnwandigen Kiel des Fahrzeuges. Der Fluß war wieder in Bewegung und trieb die ungestümen Wellen bis in den Graben hinein. Weiße Schaumbüschel blühten auf den Kämmen. Vom Wasser ging die plötzliche Erregung nach der langen Stille zu den Bäumen über. Welke Blätter wirbelten herab. Die hohen Gräser bogen sich empor und mußten sich wieder legen. Der Wind zerrte an ihnen herum. Der Himmel aber war noch immer wolkenlos.

Anne-Marie überquerte die Wiese und ließ im zögernden Gehen die Augen nicht von dem blumigen Grund. Auch die Unterlippe ihres Mundes hing herunter, blaßrot wie das äußere Blatt einer Oleanderblüte, das die letzten Sekunden seines Daseins erlebt.

Wenigstens seine Hand möchte ich noch einmal fühlen, drüben, unter der Agave. Und dann mag geschehen, was geschehen will. Die Rechnung werde ich so oder so bezahlen müssen.

Sie stolperte über eine Wurzel und griff in die Stacheln der wilden Ananas. Es war ein heftiger Schmerz, und der lenkte sie ab von den Gedanken, die nicht aufhören wollten, sie zu quälen.

 

Das Mittagessen schmeckte wiederum nur Martha. Friedrich Coßmann ließ sogar die mit frischem Bananenmark gefüllten Eierkuchen stehen, sonst sein Leibgericht, heute eine Art Henkersmahlzeit. Er verzichtete auch auf den Kaffee.

»Ich habe zwei Krüge Tee im Keller stehen, Mann, wenn du jetzt lieber etwas Kaltes trinken möchtest«, sagte Frau Coßmann.

»Laß man, Muttchen«, sagte er. Ein Wort, das er schon seit vielen Jahren nicht mehr gebraucht hatte. »Laß man, heute abend werden wir die Abkühlung mit Tee wahrscheinlich noch nötiger haben als jetzt. Man kann das Klettern der Quecksilbersäule beinahe mit den Augen verfolgen. Vierundzwanzig Grad Celsius waren es bereits um zehn Uhr, auf Strich vierunddreißig strebt es jetzt zu, nicht ausgeschlossen, daß die Vierzig noch erreicht werden. Für diese Jahreszeit etwas ganz Ungewöhnliches. Das Donnerwetter wird wahrhaftig nicht aus einer Vogelflinte kommen …«

»Ich schätze, daß wir spätestens um sechs Uhr das Gewitter oben haben«, sagte Heinrich Coßmann.

»Wenn es nur bis dahin kommen wollte. Denn wenn es sich erst in der Nacht entlädt oder gar in der Morgenfrühe, wie meist, dann wird es höchst fraglich sein, ob das Motorboot von Santa Anna herüberkommt. Du weißt ja, welche Sprünge unser Bächlein, auch Paraná genannt, machen kann. In der Regel liegt noch stundenlang nach den Regenfällen der Nebel berghoch auf dem Wasser«, antwortete Friedrich Coßmann dem Bruder.

»Ich habe geträumt, daß ich eine gute Reise haben werde. Im Traum bin ich auf dem Rücken eines Delphins nach Buenos Aires gefahren. Und da ich ja im Zeichen der Fische geboren bin, werde ich also Glück haben. Ausnahmsweise, nicht wahr?!« mischte sich nun auch Anne-Marie in das Gespräch und rauchte heute zum erstenmal eine Zigarette, die sie Onkel Heinrich abgebettelt hatte.

Er hatte auch Martha die Schachtel hingehalten, die aber dankte: »Eine richtige schwarze Zigarre wäre mir heute lieber. Zu Hause haben wir sonntags immer Zigarren geraucht, auch die Mutter. Sie mußte sie ja drehen, und das verstand sie ausgezeichnet, mindestens so gut wie die alten Indias.«

»Schade, daß sie dir das Zigarrendrehen nicht beigebracht hat«, sagte Friedrich Coßmann. »Unser Hoflieferant im Dorf dreht mir viel zuviel Rippen hinein. Dabei geben wir ihm einen ausgezeichneten Tabak. Tatsächlich, unser Tabak ist Klasse. Der Händler sagte mir einmal, daß er ihn als ›Flor de Habana‹ auf den Markt bringt. In der entsprechenden Herrichtung allerdings.«

»Warum soll mir die Mutter das Zigarrenmachen nicht beigebracht haben?« fragte Martha. »Wenn die Herren wünschen, werde ich mich in der nächsten Woche hinsetzen und ein paar Dutzend Coronas drehen. Ich weiß nur nicht, ob der Tabak dafür schon zugerichtet ist.«

»Nicht ein Blatt haben wir im Haus«, sagte Onkel Heinrich, brannte eine Zigarre an und gab sie Martha.

Martha qualmte mit einer Virtuosität, daß Frau Coßmann aus dem Kopfschütteln nicht herauskam. Es ist nur gut, sagte sie sich, daß Martha erst heute auf den Gedanken gekommen ist, sich hier als Zigarrenraucher zu etablieren. Anne-Marie wäre sicher eine gelehrige Schülerin gewesen.

»Das solltest du nicht tun und dir solche Kloben in den Mund stecken«, sagte Anne-Marie zu Martha, als hätte sie die Gedanken der Mutter behorcht und wollte ihr jetzt beweisen, wie sehr sie wieder einmal danebengeraten hätte.

»Aber das tut man hier im Lande doch allgemein, Männer und Frauen, bei den Indios sogar die Kinder«, antwortete Martha mit einem Erstaunen, das Frau Coßmann in Verlegenheit brachte, noch etwas zu sagen. Dafür aber erwiderte Anne-Marie: »Wenn du wüßtest, Martha, wie verboten du aussiehst mit diesem Fuhrmannsbolzen im Gesicht! Bestimmt nicht wie eine zivilisierte Frau, die du, im Gegensatz zu den Indias, doch sein willst.«

Martha merkte nicht die böse Spitze in der Bemerkung Anne-Maries. Sie lachte: »Na ja, wenn das unzivilisiert ist, dann werde ich euch den Gefallen tun und mit dem Zigarrenrauchen so lange warten, bis ich eine stinkalte indianische Quebrachowurzel bin.« Sie paffte darauf so hastig, daß ihr die Luft knapp wurde, sie sich verschluckte und die Zigarre ihr aus dem Mund fiel.

»Das habe ich allerdings nicht gewollt«, sagte Anne-Marie und hob den brennenden Glimmstengel von der Erde auf.

So schwätzt man sich nun mit gleichgültigem Zeug die schweren Gedanken aus dem Kopf, dachte Frau Coßmann und räumte ab. Martha steckte die etwas ramponierte Zigarre in den linken Mundwinkel und half Frau Coßmann. Gern tat sie es nicht, denn ihr »Heiner« machte wieder solche scharfen Augen, daß es ihr durch und durch ging und das Blut noch heißer machte.

Sich eine Stunde oder zwei hinzulegen, wie man es sonst an den Sonntagen nach dem guten Mittagessen zu tun pflegte, fiel heute keinem ein, obwohl man von der Schwüle so mitgenommen war wie nicht einmal nach einem schweren Tag im Erntefeld. Alle hatten sie kleine Augen und konnten das Gähnen nicht unterdrücken. Dennoch war ein jeder erregt, wenn auch nur im Unterbewußtsein.

Onkel Heinrich fragte seinen Bruder, ob ihm schon einmal das passiert wäre, eine Sache tun zu müssen, ohne darüber nachzudenken, ob in dieser Sache auch ein Sinn läge … »Verstehst du, Fritz, blind etwas tun müssen, ohne daß es im eigenen Willen liegt.«

»Eigentlich sind das zwei verschiedene Dinge, die du da durcheinanderwirfst. Der Mensch tut häufig etwas, ohne von dem eigenen Willen dazu aufgefordert zu werden. Und ebenso häufig geschieht es, daß er sich mit einer Sache abgibt, die sinnlos ist. An was, zum Beispiel, hast du gedacht bei dieser Fragestellung? Schwebte dir etwas Konkretes vor?«

»Ganz einfach: Ich dachte an die Reise, die Anne-Marie jetzt antritt. Und ich habe bis jetzt noch nicht bemerkt, daß Anne-Marie innerlich daran beteiligt ist, weder in einem bejahenden noch in einem ablehnenden Sinn. Und das ist mir total neu an dem geliebten Mädchen, sofern ich mir den Charakter vor Augen halte, den sie uns bislang offenbart hat oder auch zu verstecken suchte, wie man es nimmt.«

»Aber Heinrich, stoß das Kind doch nicht mit aller Gewalt auf Dinge, die ihre Gefühle schon genug verwirren.«

»An den Gefühlen, die du meinst, Vater, ist nicht mehr viel zu verwirren. Und was Onkel Heinrich vorbrachte, ist ebenfalls ziemlich altbacken.«

»Natürlich … gewiß doch!« lachte Onkel Heinrich. »Die Erfahrung, die du dir bereits an den Schuhsohlen abgelaufen hast, werden wir Säuglinge uns mit den Jahren noch mühsam zusammenstoppeln und dann auch noch Nachhilfeunterricht bei dir nehmen müssen.«

»Für dich bin ich ja nie die Regel gewesen, immer eine Ausnahme. Dabei hast du es nicht einmal bemerkt, daß ich mir neuerdings auch die Mondsucht noch zugelegt habe und Unterricht in der Affensprache nehme«, gab Anne-Marie schroff zurück und drehte sich vom Tisch weg. Sie sah zur Decke empor, zuerst, um die Verärgerung verrauchen zu lassen. Dann bemerkte sie die zwei schwarzen Spinnen, die einander umkreisten, bis die stärkere die schwächere matt setzte und zuletzt geschlechtlich umkrallte. Der Liebeskuß war zugleich der tödliche Biß. Ein Schauer lief durch das Blut Anne-Maries. Sie wandte sich ab von dem gräßlichen Bild und sah in den Garten hinaus.

Von heftigen Windstößen hin und her gerissen, schwankte die mächtige Krone des Lapacho. Wie Bündel aus grauer Watte flogen die Wolken über das Haus. Ein weißblauer Blitz schoß senkrecht herunter. Nach sieben, acht Sekunden erst stolperte ein schwacher Donner hinterdrein. Der zweite Blitz, kam schon aus einem pechschwarzen Himmel, und durch den Riß schössen die Wassermassen herab. Auf der Veranda war es zum Ersticken. Die Fenster durfte man nicht öffnen bei diesem Guß, der in seiner Mächtigkeit wie ein reißender Strom die Wassermassen bewegte und im Gebrüll einem Katarakt nichts nachgab.

Vier geschlagene Stunden tobte das Wetter. Eine Zeitlang bestand alles, was jenseits der Mauern des Hauses lag, aus Feuer und Wasser. Die Donnersalven schwächten ab, setzten aus und kamen wieder zurück. Es war, als drehe das Gewitter sich im Kreise oder käme nicht über den Fluß hinüber. Es machte viele Anläufe, überschlug sich dabei mit furchtbaren Entladungen und wurde dann wieder zurückgestoßen.

»Wer jetzt unterwegs ist, den kann man wahrhaftig nicht beneiden. Selbst meinem ärgsten Feind möchte ich diese Bescherung nicht wünschen«, sagte Friedrich Coßmann.

Anne-Marie, die in der äußersten Ecke der Veranda im Korbsessel hockte, hatte mit einem Male das Gefühl, als habe der Vater diese Worte nicht im allgemeinen gesprochen, sondern sie ihr ins Gesicht geschlagen. Sie bedeckte ihre Augen mit beiden Händen und wurde von dem Gedanken hin und her gezerrt, ob Cayrú sich noch rechtzeitig von der Insel habe retten können. Gewiß wußte er über das Wetter besser Bescheid als alle, die hier geborgen saßen und nichts mit sich anzufangen wußten. Könnte es aber nicht doch sein … daß das Gewitter ihn überrascht hat?

In diesen bangen Minuten erlebte sie eine tiefe Wandlung. Sie wurde sich klar darüber, daß mit dem Haus hier und seinen Insassen auch Cayrú von ihr abgleiten würde. Denn hätte er ihr mehr gegolten in den letzten Gründen ihres Ichs … dann würde sie heute vormittag den Einbaum nicht zurückgelenkt haben. Dann wäre sie zur Insel hinübergefahren und hätte ihn von unterwegs gerufen, so wie er sie immer rief.

Sie sah das blaue Feuer zwischen den Bäumen. Das Wetter war endlich über den Fluß hinübergekommen. Jetzt tobte es sich drüben aus. Der Donner übertönte nur in Pausen das Gebrüll der Wogen.

Noch einmal loderte in Anne-Marie das Verlangen nach Cayrú auf, als sie, kurz vor dem Nachtmahl, in einer Pause, als der Regen nachgelassen hatte, sich auf die Erde zu stürzen, in den Garten hinunterging, nur ein paar Schritte, soweit eben die flachen Steine reichten, die als Weg zum Schuppen der Bienen führten.

Sie stand viele Minuten lang mit weitaufgerissenen Augen und starrte nach der Richtung, wo die Insel sich befand. Wieder leuchtete es blau auf und blieb stehen wie eine riesige Gasflamme. Ein Phänomen, das selbst in dieser Gegend nicht häufig ist.

Anne-Marie öffnete die Lippen und stieß den Vogelruf aus, der das Signal war, Cayrú herbeizurufen. Im Atem dieser Sekunde, die den Vogelruf umspannte, war alles enthalten, was sie Cayrú hätte sein können, in einer Hingabe ohne Ende. Er hörte den Ruf nicht. War er schon so fern?

 

Cayrú hatte in der Tat damit gerechnet, daß die Gewitterwolken den Fluß nicht »überspringen« würden. Das blaue Geleucht bohrte sich in seine Augen hinein. Er verspürte es körperlich wie einen jener spitzen Stäbe, den die Criollos aus der Glut ziehen, um die Augen eines störrischen Zuchtbullen zu blenden.

Manchmal war die Berührung mit dem durch den Wald hinfließenden Licht so stark, daß Cayrú den Kopf erschrocken beiseite drehte. Dann sah er für eine ganze Weile nur eine undurchdringliche Schwärze vor Augen und kam ab vom Weg.

Die Poren der Haut öffneten sich weit und trieben den Schweiß hinaus. In dicken Tropfen sammelte er sich auf der Stirn und rann das Gesicht hinunter. In kurzen und schnellen Stößen arbeitete das Herz und machte auch den Atem kurz. Es ging nicht der leiseste Hauch eines Windes. Starr, wie aus einem Eisengerüst gemacht, standen die Bäume. Nur der ausströmende, beizend scharfe Geruch verriet, daß noch Leben in ihnen war, ein frisches, lebendiges Wehen, das sich mit dem Atem des durch das Gestrüpp hintappenden Menschenwesens verband.

Es schien Cayrú so, als sei er zum ersten Male auf der Insel. Das blaue Feuer zwischen den Stämmen verwandelte den Wald. Es machte aus dem Gestrüpp schroff aufsteigende Wände und aus den fast trockenen Wasserlöchern tief hinunterstürzende Abgründe. Es verwischte die Spur des Weges und ließ die dicken Blattstrünke der Agaven oft quer in der Luft liegen. Es war von einer grauenhaften Stille. Es blitzte auf, stieß ein großes, schwarzes Loch in das Gebüsch und zerbrach die Stimmen, die sonst nie aufhörten, eine mächtige Bewegung von Gezirp und Gewisper in den Tiefen der Laubmassen zu sein.

Mit einem Male verspürte Cayrú das Licht wieder so scharf in den Augen, daß er die Hände hochwarf und das Gesicht bedeckte. Darüber geriet er ins Stolpern und riß sich an der Säge eines dürren Kakteenblattes das Schienbein auf. Es war ein abscheulicher Schmerz. Der Körper schlug lang hin, und breit und dumpf rollte der erste Donner über ihn hinweg.

Viele Minuten lang blieb Cayrú im Kraut liegen und ließ die Donnersalven über sich hinwegfegen. Und mit dem Donner war schließlich auch der Wind gekommen, er riß mit brutalem Griff an den Zweigen und Blättern. Schnurrend flogen die Vögel hoch und suchten sich sichere Stellen in den oberen Gabelungen der Äste. Die Schäfte der Bäume knarrten. Es war wohl die Sprache, worin sie sich jetzt unterhielten: Frage und Antwort, wie man dem Unwetter zu begegnen habe.

Cayrú verstand diese hart murrenden Worte noch nicht zu deuten. Vielleicht wären sie ihm aber doch verständlich geworden, wenn der Schmerz im Bein ihn nicht so gepeinigt hätte. Er befühlte jetzt die Hautstellen, wo sich die Stacheln hineingebohrt hatten, und versuchte, sie herauszuzupfen. Schließlich gelang es ihm, einen Stamm zu umklammern und sich daran hochzuziehen. Kälter als die Haut an dem verwundeten Bein fühlte sich die Rinde des Baumes an, sie war haarig wie das Fell eines Affen.

Die Affen im Wipfel der Mangos und Espinillen schrien jetzt entsetzlich. Der Donner kam vom Fluß herübergefahren und brachte die ersten großen Eistropfen mit.

Cayrú dachte: Haben diese schwarzen Schreihälse nur vor dem Hagel und seinen peitschenden Schlägen solche Angst, daß sie ihr Inwendiges sicher nach außen kehren mit dem Geschrei, das hundertmal größer ist als der Schrei einer Wildkatze im Eisen?

Angst … nein, nein, das allein war es wohl nicht. Wenigstens nicht diese Angst vor einem kleinen Peitschenhieb, von oben herunter oder schräg von der Seite her.

Und auch das ist nicht mit Angst zu erklären, mit jener einfachen Angst vor dem Unwetter und dem Spuk in seinem Gefolge, was sich jetzt in die Schläfen Cayrús hineinhämmerte. Und auch nicht die Unsicherheit, das bohrende Gefühl in der Frage: ob man den Weg zur Rohrhütte noch unter den Füßen hat.

Das blaue Licht hatte schließlich einem grellweißen weichen müssen, einem Feuer, das die Stämme wie von der Sonne gebleichte Knochen aufleuchten ließ, ein Geflecht aus riesigen Knochen, das mit Ächzen und Knarren den Boden rundum schwanken machte.

Mit jedem Schritt tiefer in das Gehölz hinein sprang Feuer aus dem Kraut herauf, stob auseinander und löschte aus. Es konnten noch nicht die Regentropfen sein, obwohl man sie auf dem Fluß schon trommeln hörte. Nicht Tropfen, sondern Stücke Eis, immer noch. Das Eis fegte das Laub von den Bäumen.

In Pausen erschien es Cayrú so, als sei er den Weg zurück zum Fluß gegangen. So weiß und voller Bewegung lag das hohe Gras der Rinconada da. Der Nebel war hier eingeschlossen, die Bäume ließen ihn nicht heraus. Er säulte sich um unzählige kleine schwarze Hügel herum. Diese Hügel konnten nur die verlassenen Zwingburgen der Ameisen sein. Und gleich hinter diesen Hügeln stand die Rohrhütte. Darauf ging Cayrú jetzt zu. Es freute ihn, daß er den Weg nun doch nicht verfehlt hatte. In der Hütte: Jetzt konnte der Himmel sich ausschütten und mit den Donnerkeulen den Wald zerfetzen!

Es ist auch nicht so gewesen, daß Cayrú sich in der Hütte geängstigt hätte, als die Wände sich auseinanderbögen und durch die Löcher im Dach der Hagel fuhr … Eissteine, so groß wie die Eier der Rohrhenne. Manche von diesen Stücken wühlten sich in sein schweißiges Haar hinein und zergingen in der Glut, rannen als Wasser über das Gesicht hin, kühlten es um ein weniges ab und linderten auch das Hämmern in den Schläfen.

Cayrú hockte in einer Ecke, die dem Wind noch am wenigsten ausgesetzt war, und sah durch die Ritzen im Geflecht das Licht aufleuchten, das wieder von blauer Farbe war und erst eine ganze Weile hernach den Donner folgen ließ, der in die dunkelsten Abgründe des Waldes hinunterfiel.

Lange nach dem letzten Aufleuchten, das keinen Donner mehr hatte, hob Cayrú das Bündel Reiherfedern, das für Anne-Maries Vater bestimmt war, auf die Schulter und lief quer über die Rinconada zum Fluß zurück. Er stolperte noch viele Male und riß sich dabei Wunden an Arm und Bein.

Aus einem Spalt der zerrissenen Wolken lugte dann und wann der halbe Mond, ob er es wohl schon wagen dürfe, den beschwerlichen Weg in den Frühmorgen anzutreten. Viele Male war er da, immer nur sekundenlang, und verschwand wieder. Und als er aus dem Intervall von wenigen Sekunden schließlich doch einmal eine Minute wurde, in einem sanften Auf- und Niederschweben, bekam der Fluß wieder ein wenig Licht, und Cayrú sah ihn keine dreißig Schritte vor sich liegen. Er sah auch den tausendjährigen Ombú am Ufer, wie ein Haus, das ein Sonnendach trägt.

Auf diesen Baum ging Cayrú jetzt zu. Der Druck in seinem Blut machte ihm das Atmen immer noch schwer, und auch die Luft war dick von Feuchtigkeit und Gerüchen, als sauge man sie durch ein filziges Blatt ein. Zuletzt schmerzten ihm die Lungen so arg, daß er laut aufstöhnte und sich krümmte.

Wäre es nicht zufällig das Boot gewesen, über das er stolperte und lang hinfiel, wäre es vielmehr ein Ameisenhaufen gewesen oder die morschen Trümmer eines Baumes … auch dort wäre er liegengeblieben, ohne sich zu rühren. Die Bewußtlosigkeit dauerte viele Stunden. Als er wieder bei Besinnung war und verspürte, wie das jetzt ein wenig schneller zirkulierende Blut die Glieder warm und beweglich machte, überlegte er, ob er die Überfahrt versuchen könne. Er richtete sich auf, kippte das Boot um und ließ das Wasser hinauslaufen. Er suchte nach den Ruderblättern und fand schließlich auch eins nach langem Suchen. Es hatte sich im Geäst eines entwurzelten und unter Wasser gesetzten Baumes festgeklemmt. Um das Unglück vollständig zu machen, war das Blatt auch noch angebrochen. Ohne sich lange zu besinnen, riß er sich das Hemd herunter, das wie eine borkige Haut an seinem Körper klebte. Mit den Leinwandfetzen und einer Astrute reparierte er das Ruder notdürftig. Das zweite, nicht auffindbare, mußte eine dicke Bambusstange ersetzen. Ein kläglicher Notbehelf; ihn zu benutzen, wurde mehr von der Verzweiflung als vom Verstand eingegeben.

Der Fluß warf meterhohe Wellen empor. In kurzen Läufen überschlugen sie sich und wirbelten Schaum auf. Diese aufgeregte Wasserbahn jetzt zu überqueren, hätte ein erfahrener Bootsmann weit von sich gewiesen, und wenn man ihm drei neue Leben zugesichert hätte. Vielleicht hätte er sogar die Zähne ein wenig geöffnet, um das Brummen herauszulassen: »Hat man all die Stunden gewartet, dann kommt es auch auf ein paar mehr nicht an. Warten wir ruhig ab, bis die Sonne wieder da ist …«

Der Wind wehte vom anderen Ufer herüber und trieb einen dicken Nebel vor sich her. Cayrú sah auf das Wasser, sah auf das Boot und wog das armselige Gestänge, das die Ruderblätter darstellten, eine Weile gedankenlos in der Hand.

Mit einem Male fuhr er hoch, als habe ihn jemand gestoßen. Er fuhr zusammen, sah sich aber nicht um, wer es war, der ihn so heftig gerempelt hatte. Er sackte nur ein wenig in die Knie hinein. Eine Stimme war laut in ihm: Komm!

Er konnte sich nicht klar darüber werden, wo er diese Stimme schon einmal gehört hatte. Es hätte die seiner Mutter sein können. Es konnte aber auch die seiner Muñeca sein. Noch einmal kam die Stimme, und, wie es ihm schien, jetzt von außen her: Komm!

Er gehorchte, schob das Boot ins Wasser und setzte sich hinein. Aber er war noch keine dreißig Meter vom Ufer entfernt, da brach zuerst die Bambusstange mitten durch und wenige Minuten darauf auch das Ruderblatt.

Das Boot drehte sich jetzt wie ein von irrsinnigen Pferden bewegtes Karussell. Cayrú legte sich flach in das Boot hinein. Mit beiden Händen krallte er sich an der Bordwand fest und schloß die Augen: »Es wird geschehen, was geschehen muß.«

Eine riesige Welle packte das Boot und schleuderte es viele hundert Meter vorwärts in einer rasenden Fahrt. Es schwebte über dem Abgrund zwischen zwei Wellenbergen in der Luft, wie eine Heuschrecke, die einen mächtigen Sprung über eine breite Grasschneise macht. Mit diesem Sprung war sein Dasein als Fahrzeug auch schon beendet. Das Holz splitterte in zwei Teile, und wie von einer Rutschbahn herunter sauste der menschliche Körper in die Tiefe.

Er kam noch einmal hoch und hörte auch den Schrei, der von dem schwerdampfenden Motorboot herüberschrillte. An dem stählernen Bug dieses Fahrzeuges, mit dem die Wellen kein so leichtes Spiel hatten, war der armselige Einbaum zerschellt.

Der Schrei war von einem Mädchen ausgegangen, das sich auf der Reise nach Buenos Aires befand. Der Schrei galt jenem Menschen, der untertauchte und nicht mehr hochkam, obwohl das Mädchen namens Anne-Marie nicht wissen konnte, daß es das Kanu Cayrús war, von dem als Hindernis das Motorboot den Stoß erhielt.

Sie hätte sich vielmehr an den Kapitän halten können, denn der sagte zu dem Vater des Mädchens: »Dusel haben wir gehabt, lieber Coßmann. Mächtigen Dusel. Es hätte nämlich auch ein entwurzelter Baum sein können, der uns da in die Quere kam. Wahrscheinlich war es eine Bohle, ein Stück von einer weggeschwemmten Brücke, und das kleine Fräulein scheint sehr schreckhaft zu sein.«

»Nur zu gewissen Zeiten«, antwortete Friedrich Coßmann.

 


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