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XXX

Das Land stand wieder einmal im Zeichen einer heftigen Finanzkrise. Das stellten die Brüder Coßmann bereits beim Notar fest, als sie für die Beglaubigung der Unterschriften in dem Vertrag mit den beiden Indios Yamacinto und Huacua den vierfachen Betrag von dem zahlen mußten, was bisher, den Vorschriften entsprechend, die amtliche Person fordern durfte. Der Herr Notar begründete die Mehrforderung mit den Mehrausgaben, die er an den Staat zu leisten habe. »Aber auch Sie, meine Herren, werden bald in der gleichen Richtung wie wir als ratzekahl geschorene Schafe dahinwandern und durch mehr Arbeit die verlorene Wärme wieder einzuholen versuchen. Sie glauben mir nicht? Oh, die Dekrete sind bereits in der Richtung nach hier abgegangen. Der Herr Gobernador wird nicht weniger Eile haben als die Staatsregierung. Mit den neuen Steuern sollen bekanntlich die Errungenschaften der letzten Revolution stabilisiert und verteidigt werden. Lassen Sie deshalb Ihr Bargeld nicht so unbeaufsichtigt vor fremden Augen herumliegen. Die Banken sind verpflichtet, Auskunft zu geben, desgleichen auch das Baumwollekontor und die Entkernungsanstalt. Man kennt die Ergebnisse Ihrer guten Ernte. Als alter Freund der Familie fühle ich mich verpflichtet, Ihnen hierüber Auskunft zu geben …«

»Ein mit Pirañablut getaufter Halsabschneider«, sagte nachher Heinrich Coßmann in der Gaststube der »Deutschen Eiche«. In diesem kleinen sauberen Hotel hatten die Brüder Coßmann sich für zwei Tage häuslich niedergelassen. Die Zungen der meisten deutschen Gaue waren in diesen Tagen hier versammelt. Der landwirtschaftliche Verein »Alto Paraná« hatte seine Mitglieder zu der in einem jeden Jahr um diese Zeit üblichen Generalversammlung einberufen. Die meisten kamen von sehr weit her, hatten eine Reise von vier, fünf Tagen hinter sich, auf dem primitivsten aller ländlichen Beförderungsmittel, auf dem Ochsenkarren. Denn sie mußten gleichzeitig ja auch was verkaufen in der Stadt, um wieder einkaufen zu können. Es waren Gestalten, wie man sie anderswo in der Welt wohl nicht zu sehen bekommt. Es waren Deutsche, und sie lebten bei härtester Arbeit in einer Armut, von der ein Arbeiter in Deutschland sich nicht so leicht eine Vorstellung wird machen können. Dabei waren sie »freie Siedler auf einem freien Land«. Worin die Freiheit allerdings bestand, das dürfte nun nicht mehr schwer zu erraten sein, wenn man von den Brüdern Coßmann absieht, die nach den hiesigen Begriffen zu den reichsten Bauern des Siedlervereins gehörten.

Die Tagung der Siedler fand natürlich nicht in aller Stille statt. Es wurden heftige Debatten entfesselt. Es wurden große und noch größere Reden geschwungen. Und wie immer: es blieb meist alles beim alten; die seit Jahren geplante Zentral-Einkaufsstelle und die genossenschaftliche Baumwoll-Entkernungsanstalt blieben wieder Projekt bis zur nächstfälligen Jahrestagung.

Man sprach auch über die vor der Tür stehende neue Krise. Man beschloß, an die Regierung eine dringende Note zu schicken, des Inhalts: die Siedler dieser Gegend mit neuen Abgaben zu verschonen. Man habe in den letzten fünf Jahren drei schlechte Ernten gehabt und stecke noch tief in Schulden. Man ließ auch einen politischen Advokaten »über die derzeitige Lage« sprechen und verpflichtete sich, ihm bei den kommenden Wahlen die Stimme zu geben.

Am heftigsten wurde nachher über ein Manifest debattiert, das in Rot und Schwarz gedruckt, auf einem wunderbar weißen Kanzleipapier noch dazu, von den Schülern der Landwirtschaftsschule verteilt wurde. Es standen die bezeichnenden Sätze darin: »Wir werden auch unsere indianischen Brüder erlösen und würdig machen, das wird die vornehmste Pflicht unseres nationalen Programms bilden …« Es waren viele Söhne der deutschen Kolonisten auf dieser Schule, vielleicht waren sie sogar in der Mehrheit.

Friedrich Coßmann steckte sich ein Exemplar des Flugblattes in die Tasche. »Für Anne-Marie«, sagte er zu seinem Bruder Heinrich. Doch der überhörte es. Er beschäftigte sich bereits mit der Frage, wie man sich aus den neuen Steuern würde herauswinden können, ohne dabei die letzte Haut vom Leibe zu verlieren. Was er unter der letzten Haut verstand, betraf die Einnahme aus der Zuckerrohrernte.

Als sie sich wieder auf der Heimreise befanden, war die leidige Frage, was man tun müßte, um von der Krise nicht allzuheftig belästigt zu werden, noch nicht geklärt. Nur wer die neuen Komplikationen heraufbeschworen hatte, darüber war man sich klar. Aber was konnte man sich dafür kaufen?

Die Erreger der Krise waren von den Vereinigten Staaten ausgesetzt worden. Die Yankees präsentierten nun zum vierten Male der Regierung die Rechnung für den Beistand im Chacokrieg. Es hat sogar für ganz Latein-Amerika seine Schattenseiten, wenn die Herrschaften von Wallstreet »bevorrechtigte Forderungen« stellen. Nicht immer holen sie sich dabei eine solche Abfuhr wie in Brasilien, wo sie viel, viel Geld verloren. (Und es sich mit Zins und Zinseszinsen sicher sehr bald wieder holen werden!)

Aber in La Paz (früher »Die Stadt Unserer Lieben Frau vom Frieden«) sagten die »verurteilten Verlierer des Krieges« zu den mit urgesunden Gebissen versehenen Gerichtsvollziehern: »Wir haben schon längst nichts mehr überflüssig, Mister Rockefeller. Und wenn Sie dreihundert Flugzeuge mobilisieren … die Spesen dafür gehen zu Ihren Lasten. Wir haben wirklich nichts zu verschenken. Mit Zinn, das uns doch nur zu 18% gehört, könnt ihr die Sümpfe am Rio Guaporé trockenlegen, das Silber haben die bereits noch früher als Sie, Mister Rockefeller, aufgestandenen Herrschaften bereits in der Tasche. Selbst das Gold der Krone auf dem Haupt Unserer Lieben Frau von Ayacucho hat sich zu einem bronzierten Zinkblech erniedern müssen. Zum Glück haben es unsere Leute noch nicht gemerkt. Aber die Löcher in ihren Ponchos sind nicht mehr zuzustopfen mit dem sogenannten Recht auf den ›Täglichen Puchero‹. Die Freie Republik wird die paar Pesetas für uns mitbezahlen, wie sich das für jedermann gehört, der auf dem üblichen kalten Wege einen Prozeß gewonnen hat.«

Die Freie Republik ließ es sich noch ein paarmal sagen. Erst als die Friedenskonferenz beschloß, noch sieben neue Unterkommissionen der Kommission 24a Abteilung 93 einzurichten, empfing man die ehrenwerten Herren des Büros Rockefeller im Regierungspalast zu Asuncion und nahm die Rechnung unter Vorbehalt in Empfang. Der Rechnung waren gleichzeitig auch die Anweisungen beigegeben, auf welchem Wege das Geld von den Untertanen einzutreiben sei für die notleidende Firma Rockefeller. Diese Wege waren natürlich nicht neu. Elend und Armut standen als Kilometersteine zu beiden Seiten und kennzeichneten die nahe Entfernung zum allgemeinen Bankrott.

10% vom diesjährigen Ernteerlös hatten die »landfremden Bauern« zu zahlen. Auf die Brüder Coßmann entfielen 698 Pesos in Gold. Das war genau die Hälfte von dem, was sie noch an Bargeld auf der Bank liegen hatten. Der Pferdeankauf fiel diesem neuen Schrecken zuerst zum Opfer, ferner das zweite Lastauto und ein neuer Wassertank aus Zink. Anne-Marie mußte sich noch bis zum nächsten Erntejahr von der weißen Mula durch die Landschaft schaukeln lassen. Und wenn der Vertrag mit den beiden Indios nicht schon perfekt gewesen wäre, dann hätte man auch die Rodung des Urwaldes noch um ein Jahr verschoben. »Aber was man unterschrieben hat, das muß man auch ausführen, denn wir leben ja nicht im Kongo«, sagte Friedrich Coßmann mit spöttischer Miene zu seinem Bruder.

»No …«, antwortete Heinrich Coßmann. »Leider nicht. Wir leben vielmehr an den Nebenflüssen des Amazonas. Was im Grunde zwar die gleiche Wildnis ist … aber das darf man hier ja nicht laut sagen, vor allem ein ›Landfremder‹ darf es nicht.«

Er ging an einem regengrauen Montag mit den beiden Indios das Waldstück ab und bezeichnete die Bäume, die er als Nutzholz verwerten wollte. Die Indios machten von sich aus den höchst vernünftigen Vorschlag, die Arbeit in vier Teile zu zerlegen. Das heißt: sie wollten zunächst ein Viertel schlagen und roden und dann sofort pflanzen und danach das zweite Viertel und so weiter. Damit war der Patrón auch einverstanden, denn das Bargeld wurde bei dieser neuen Regelung ein wenig in die Länge gezogen.

Am nächsten Tag begannen die Leute auch schon mit der Arbeit. Sie suchten sich zunächst einen Winkel aus, wo sie die Hütte aufstellen konnten, eine einfache, nach oben hin spitz zulaufende Rohrhütte. Dort wollten sie die sechs Nächte der sechs Arbeitstage zubringen, am Sonntag aber schnell nach Hause flitzen und sehen, was inzwischen aus der Frau und den Kinderchen geworden war.

Als sie die Hütte stehen hatten, was zwei Tage in Anspruch nahm, und hier draußen sich ihr erstes warmes Essen bereiteten, auf dem aus sechs über- und nebeneinander geschichteten Steinen bestehenden Herd ein paar Schritte weit ab von der Hütte, kam Mayahua des Weges gegangen. Denn es war ja »ihr Weg«, diese schmale Fußspur von der Lagune bis zur Bai. Fast an einem jeden Tag war sie auf ihm gegenwärtig, immer noch mit den beiden Tragkörben und den zehn Dutzend Krebsen als Inhalt.

»Oh, Schwager, was habt ihr hier zu schaffen?« fragte sie Yamacinto. »Wollt ihr für den Patrón Holzkohlen brennen? Wollt ihr ihm ein großes Schiff bauen? Ach, der Wald wird immer weniger und weniger. Wo soll unsereins noch hin, wenn kein Wald mehr da ist und auch das Wasser uns genommen wird? Was soll dann aus uns werden?«

»Dieses Jahr brauchst du noch nicht fort von hier, Schwester«, antwortete Yamacinto. »Dort, wo deine Hütte steht und die Krebse immer größer werden, läßt der Wald die häßlichsten Bäume wachsen. Wir wollen sie uns bis zuletzt aufbewahren. Und dann wird es auch noch früh genug sein, daß einem das Blut schlecht wird von dieser schweren Arbeit.«

»Wollt ihr wirklich aus dem Wald ein unnützes Feuer machen, Schwager? Sind doch schon zu viel Felder da.«

»Schwester, wir wollen uns ein wenig Geld machen. Die Estanzia hat uns nicht mehr angenommen als Peone, man sagt uns: Viel zu alt seid ihr, geht schlafen und steht wieder auf, und dann könnt ihr noch einmal wiederkommen! Man will jetzt nur noch ganz junge Leute. Dabei gibt es doch so wenig im Land. Der Krieg hat eine zu gute Ernte gehalten. Im nächsten Krieg, Schwester, wird man wohl auch deinen Sohn absicheln. Was tut überhaupt der gute Junge jetzt? Man sieht ihn noch immer nicht auf dem Hof des Patróns. Will er sich jetzt als Krebsfischer selbständig machen? Man sagt, daß er auf der Insel einen neuen Fangplatz entdeckt hat. Er ist oft dort.«

»Man wird Cayrú bald wieder auf dem Hof sehen, Schwager. Und wenn du ihn siehst, dann sage ihm, so wie ein Vater es seinem Sohn sagt, daß du eine schöne Frau für ihn hast. Er muß jetzt schnell eine Frau haben.«

»Man sagt aber, Schwester, daß es eine weiße Frau sein soll. Woher soll ich die nehmen? Vielleicht schickst du den Jungen in die Stadt. Und wenn er ein gutes Brot hat, bueno; es kommt in der Stadt jetzt oft vor, daß eine Weiße einen Indio nimmt, weil doch die Männer in der Stadt noch weniger sind als hier draußen«, antwortete Yamacinto.

Und Huacua sagte noch dazu: »Wieviel Mädchen hat man deinem Jungen schon vorgeführt?! Keine war ihm gut genug. Vielleicht ist dein Sohn gar kein richtiger Mann, Schwester? Das kommt auch vor.«

»Du ärgerst dich nur, Schwager, daß er nicht in dein Haus hineingeheiratet hat. Vielleicht ärgere ich mich auch darüber, wenn ich an Llamicha denke. Was wäre die doch für eine gute Frau für meinen Sohn gewesen!«

»Llamicha hat jetzt einen Sohn bekommen, Schwester. Ein schönes, fettes Kindchen. Aber der Vater taugt nicht viel. Und nur deshalb bin ich vielleicht böse«, antwortete ihr Huacua.

»Laß es dich nicht verdrießen, Schwager! Such auch du weiter nach einer Frau für meinen Sohn. Man wird mit den Geschenken gewiß nicht geizig sein. Wir haben eine gute Ernte in diesem Jahr gehabt. Wir waren in der Baumwolle und im Zuckerrohr.«

»Schwester«, sagte jetzt wieder Yamacinto, »man wird die Frau für Cayrú bald finden. Ich werde am Sonntag auch mit dem Kaziken sprechen. Ich meine: der Kazike hat noch eine Tochter. Und die Kinder vom Kaziken sind alle wie Nüsse so schön rund und ohne Würmer vom guten Essen.«

»Du wirst nicht vergessen, mit dem Kaziken zu sprechen, Schwager? Hast du an diesem Sonntag nicht Zeit, dann wirst du am anderen Sonntag Zeit haben«, antwortete Mayahua.

»Weshalb soll ich das vergessen, Schwester? Du wirst mir ja auch eine Belohnung geben, nicht wahr? Und wann wirst du uns wieder einen Korb Krebse bringen? Man wird hier im Wald bei der schweren Arbeit auch einmal Krebse essen dürfen, nicht wahr?«

»Man wird euch die Krebse vielleicht schon morgen bringen, Schwager. Und es werden die fettesten sein, die in der Bai zu Hause sind«, sagte Mayahua und humpelte mit ihren vollen Körben nach dem Dorf, wo immer viel Nachfrage nach den Krebsen oder Welsen war.

Und als Mayahua schon die Lagune erreicht hatte, sagte Yamacinto zu seinem Nachbar Huacua: »Der Cayrú hat es auf das weiße Mädchen des Patróns abgesehen. Immer liegt er auf der Lauer, sie zu sehen. Das hat mir Pedro gesagt. Der Junge ist wie sein Vater, und was dieser dumme Kerl dafür hat ernten müssen, das weiß man ja. Und die Mayahua weiß es noch besser. Sie sollte es aber auch ihrem Sohn sagen, damit er nicht den gleichen Weg in die Verfluchung gehen muß.«

»Ich meine: wenn die Mutter nicht mit dem Sohn reden will, dann werden wir es tun müssen. Er muß von dem weißen Mädchen ablassen. Tut er es nicht, kann es für uns alle ein Unglück sein.«

»Es wird deine Sache sein, mit Cayrú zu reden!« sagte Yamacinto. »Deine Hütte steht näher an der Hütte Mayahuas. Und du warst es doch auch, der ihn auf dem Fest zum Mann gemacht hat. Also wird er dir mehr glauben als mir.«

Sie hetzten sich schließlich in eine Erregung hinein, darüber, wer mit Cayrú zu sprechen verpflichtet war, daß sie für ein paar Stunden die Arbeit vergaßen. Es war schon später Nachmittag, als sie endlich daran gingen, die Äxte zu schleifen. Und es war eine sehr anstrengende Sache, dieses Schleifen der doppelt verstählten Schneiden. Sie hatten nur die primitiven Werkzeuge: zwei flache Steine; der eine, ein ganz harter, diente zum Vorschärfen, der andere, weichere, gab der Schneide den letzten Schliff. Zum Polieren nahmen sie die kalkige Innenseite einer im Sand schon verwesten Flußmuschel.

»Nanu … das ist doch …«, sagte nach einer Weile Yamacinto zu Huacua und suchte am Erdboden im Gestrüpp herum.

»Was ist … du hast deinen Stein verloren?« fragte Huacua und bückte sich auch gleich zu Yamacinto ins Kraut, um suchen zu helfen, ohne daß er schon wußte, was er suchen sollte.

»Ich meine: Das ist hier doch eine Spur von unserem lieben schwarzen Teufel? Hier, siehst du nicht?«

»Ja … gewiß hat das unser lieber schwarzer Teufel verloren. Und lange liegt der Kot auch noch nicht hier. Das ist keine gute Sache, mein Bruder! Wie aber kommt der Schwarze mit einem Male wieder hierher? Es ist doch schon so lange her, daß er uns mit seinem Besuch beehrt hat?«

Sie krochen beide ein Stück durch das Kraut und sahen auch die Schürfspur des »Schwarzen«. Es war der Puma gemeint, der in der Tat seit länger als zwei Jahren sich in dieser Gegend nicht mehr hatte sehen lassen. Im Wald jenseits des Flusses war er allerdings eine alltägliche Angelegenheit.

Er hatte es nicht gern, wenn Menschen von ihm wußten. Und es schien so, als handelte es sich bei dem Tier, dessen Spur die beiden Indios entdeckt hatten, um ein noch junges und vom eigentlichen Revier abgekommenes Exemplar dieser Raubkatze. Man hatte auch noch nichts davon gehört, daß auf der Weide ein Stück Vieh angeschlagen worden war.

Die beiden Indios gingen der Spur bis zur Lagune nach, dort verlor sie sich im Rohr.

»Man wird es dem Patrón melden müssen«, sagte Yamacinto.

»Vielleicht wird er dann schreien: Daran seid allein ihr schuld, verfluchte Roscas.«

»Das wird der Patrón nicht sagen, Bruder, daß wir verfluchte Roscas sind. Das sagen diese landfremden Weißen nicht.«

»Er wird aber sagen: Laßt eure Arbeit jetzt eine Weile liegen, bis der Schwarze wieder weg ist!«

»Wir haben einen Vertrag, Bruder, und der Vertrag wiegt schwer bei der Gobernacion. Das wissen die Weißen. Aber sie brauchen nicht zu wissen, daß der Schwarze sich hier hat sehen lassen, das soll sein. Und wir werden noch ein paar Tage warten, was aus dem Schwarzen hier wird. Vielleicht weiß er, daß wir hier sind, und kommt jetzt nicht mehr wieder.«

»So wollen wir es halten, Bruder!«

Sie gingen wieder zur Hütte zurück. Die Sonne hatte schon viel Müdigkeit in den Augen. Bald wurde es grau zwischen den Stämmen. Und mit einer scharfen Axt soll man nicht umgehen, wenn die Bäume anfangen, die Nacht herbeizurufen. Außerdem war das Blut der beiden Indios jetzt von Furcht bewegt, und diese Furcht nahm ihnen sogar noch die Kräfte, eine Weile an den Reserveäxten herumzuschleifen. Sie setzten sich vor die Hütte auf einen Wurzelstubben und aßen ihre kalten schwarzen Bohnen. Sie kauten und schmeckten nicht, was sie kauten. Sie sahen dem letzten Streifen Rot am Himmel nach und verloren sich in einen Halbtraum. Sie blieben darin, bis die Nachtkälte sich wie eine scharfe Säure immer tiefer in ihr Fleisch hineinfraß.

 

Cayrú lag unter der Agave und wartete auf Anne-Marie. Er hatte beobachtet, daß sie durch den Busch streifte, dort, wo ihr Einbaum im Wasser lag. Vielleicht wird sie zur Insel fahren, und dann muß sie ja auch hier vorüberkommen, dachte er.

Anne-Marie hatte in der Tat vor, eine Reise im Einbaum zu machen. Aber sie wollte nicht zur Insel, sondern bloß bis zur Bai, zu Mayahua. Sie wollte die Mutter Cayrús fragen, wann man wieder Krebse bekommen könne. Alle im Haus hatten sie Appetit darauf.

Als Anne-Marie die Kreuzung der beiden Pfade erreicht hatte, ließ Cayrú seinen Pfiff los. Sofort hob Anne-Marie den Kopf und spähte nach der Agave. Cayrú winkte mit einem Beerenzweig. »Fein, daß ich dich treffe, Cayrú! Ist deine Mutter daheim?«

»Sie wird sein in der Hütte.«

»Komm, dann fahren wir schnell hin zu ihr! Unterwegs sage ich dir auch etwas Schönes.«

Cayrú lockerte das Bastseil vom Pfahl, zog den Einbaum ein Stück herauf und wartete, bis Anne-Marie eingestiegen war und saß. Dann nahm er die Ruderblätter und lenkte den Einbaum zur Bucht.

»Du siehst jetzt in deiner neuen grauen Hose wie ein Peon aus«, sagte Anne-Marie. »Deine alte blaue gefiel mir besser, wenn sie auch schon viele Löcher hatte. Und ein neues Hemd hast du auch?«

»Man hat Geld bekommen von der Ernte. Und die Mutter sagte, man muß schnell etwas kaufen für das Geld, sonst frißt es die Zeit auf, und die nächste Ernte kann eine schlechte sein.«

»Deine Mutter ist klug, Cayrú.«

»Man hat es ihr gesagt im Dorf, daß es immer weniger wird, das Geld, wenn man es im Beutelchen mit sich herumschleppt.«

»Und für ein Paar Stiefel hat es nicht mehr gereicht, das Geld?« fragte Anne-Marie. »Wenn ich nämlich erst meinen Goldfuchs haben werde, dann wirst du auf meiner weißen Mula reiten und immer bei mir sein, mit großen Sporen an den Stiefeln.«

»Ich werde warten, bis ich mit dir darf reiten …«, antwortete Cayrú, und auf seinen Augen lag ein grauer Hauch von Trauer.

»Gewiß, noch ein paar Wochen wirst du schon warten müssen. Heute aber weiß ich etwas Schönes für dich. Freust du dich?«

»Es wird sein alles schön, was du bringst.«

»Hör mal: Unsere Leute möchten wieder einmal Krebse essen. Wird deine Mutter uns Krebse verkaufen?«

»Ich werde Krebse fangen, heute nacht. Es wird sein ein großer Mond. Den großen Mond suchen die Krebse und kommen heraus aus ihrem Haus.«

»Das ist fein. Und dann wirst du uns auch die Krebse bringen, nicht wahr? Ich möchte nämlich, daß du sie bringst.«

»Mußt sagen zu meiner Mutter, daß ich die Krebse bringen soll zu euch auf den Hof.«

»Das werde ich tun, Cayrú, um mit deiner Mutter zu sprechen, bin ich ja gekommen.«

»Man wird sich freuen, daß du wieder kommst, Krebse bestellen.«

Als das Boot die Anlegestelle erreicht hatte, sah Anne-Marie die Mutter Cayrús vor der Hütte im Gespräch mit Yamacinto. Sie hatte das Herannahen des Einbaumes erst im letzten Augenblick bemerkt.

»Was ist das für ein Mann, der dort bei deiner Mutter steht?« fragte Anne-Marie.

»Das ist Yamacinto. Der wird den Wald wegreißen und andere Bäume pflanzen. Für den Patrón. So hat er es meiner Mutter gesagt.«

»Für uns? Ach ja … es sollen hier bald Orangen wachsen. Aber eure Hütte, die soll stehenbleiben, das hat mein Vater mir fest versprochen. Und das ist das Schöne, was ich dir habe sagen wollen. Und nun freust du dich nicht einmal darüber. Warum nicht, Cayrú?«

»Immer kommt die Sonne wieder nach dem Regen, und die Coroschiré singt schön in der Nacht nach dem Regen. So werde ich mich freuen. Und du wirst es hören, wenn ich auf der Flöte blase die Nacht.«

»Dann ist ja alles gut, wenn du dich freust, Cayrú. Und jetzt geh zu deiner Mutter und sage ihr, sie möchte hierherkommen! Ich bleibe so lange im Boot!«

Cayrú sprang über den schmalen Steg und lief zur Hütte. Er begrüßte Yamacinto. Und Yamacinto griff Cayrú in das glattgesträhnte Haar. »Bist ein großer und schöner Mann geworden, Cayrú. Komm doch Sonntag zu uns ins Dorf, man wird tanzen.«

Cayrú behielt das Wort, das er Yamacinto hinwerfen wollte, schluckend im geschlossenen Mund. Und nach einer Weile erst zog er die Mutter am Arm und brachte sie zum Steg.

»Oh … oh …«, rief Mayahua aus, »die Tochter der Sonne!«

»Ich bin gekommen, Mayahua, dich zu bitten, uns Krebse zu bringen. Vielleicht morgen schon. Unsere Leute warten sehr darauf«, sagte Anne-Marie, ein wenig unsicher gemacht durch den fremden Mann vor der Hütte.

»Ich werde morgen dem Patrón drei Dutzend Krebse bringen …«, antwortete Mayahua.

»Es kann ja auch Cayrú sein, der die Krebse bringt«, sagte Anne-Marie. »Vielleicht wirst du weniger Zeit haben als Cayrú.«

»Wenn er wieder sein darf auf dem Hof, weshalb soll mein Sohn nicht kommen? Er wird kommen und die Krebse bringen.«

»Und auf dem Hof wird man sich freuen, wenn Cayrú zu uns kommt. So lange schon war er nicht mehr da.«

»Ach ja … das ist schon lange, daß er nicht mehr auf dem Hof war, vielleicht wird man ihm auch Arbeit geben?«

»Das hat mein Vater doch schon gesagt. Und wenn Vati etwas verspricht, dann hält er es auch. Man muß nur Geduld haben und abwarten, bis der Tag da ist.«

»Weshalb sollen wir nicht warten?« sagte Mayahua. »Alles dauert seine Zeit. Aber soll ich der Tochter schnell Chamaruñas backen? Man hat alles im Haus für Chamaruñas.«

»Die Chamaruñas haben mir damals sehr geschmeckt. Und ich werde auch wieder einmal welche essen. Heute kann ich aber nicht. Ich muß schnell wieder nach Hause. Cayrú wird mich zurückrudern, nicht wahr?«

»Du wirst bald wiederkommen, Tochter, Chamaruñas bei uns essen?«

»Vielleicht komme ich noch vor Sonntag herüber.«

Sie winkte mit der Hand einen Abschiedsgruß, Cayrú nahm die Ruder und fuhr in die Bai hinein. Unterwegs bis zur Barranca sprachen sie kein Wort miteinander. Jedes von den beiden jungen Menschen dachte bei sich: »Wie schön, daß wir wieder einander so nahe sind. Aber es steht doch jemand zwischen uns und sieht uns mit bösen Augen an. Was muß man tun, damit die bösen Augen keine Macht über uns gewinnen?

Die Uferseite des Stromes lag spiegelglatt, und das Boot glitt dahin, ohne daß die Ruder es vorwärts bewegten. Cayrú tauchte nur dann und wann ein Blatt ins Wasser, um einem treibenden Baumstamm oder einer schmalen, vorspringenden Insel auszuweichen.

Anne-Marie hatte sich zu Cayrú herumgedreht. Sie sah ihn aber nicht an. Sie saß mit gesenkten Lidern da und spielte mit dem Kelch einer Wasserrose. Nur von Zeit zu Zeit wurde der Glanz des Auges sichtbar. Es war von einer dunklen Bläue wie die Blüte der Schwertlilie am Rand des Ufers. Und wenn das Auge sich öffnete, erschauerten die langen Wimpern wie ein Vogel, der auf dem Nest sitzt und den ein plötzlich einbrechender Wirbelwind erschreckt.

Es war jetzt jener Punkt da, wo der Graben sich abzweigt. Und ehe Cayrú das Boot hineinlenkte, sagte Anne-Marie mit leiser Stimme: »Ich möchte noch ein Weilchen hier draußen bleiben, Cayrú!«

Er zog die Ruderblätter ein und legte sie quer über den Schoß. Er hob ein wenig den Kopf und sah Anne-Marie an. Und so, als habe sie diese stumme Frage nicht verstanden, wurde ein Wort in ihm laut. Er glaubte, es nur für sich gesprochen zu haben. Aber es war doch über seine Lippen gegangen und berührte Anne-Marie.

Sie antwortete vielleicht noch eine Wenigkeit leiser als vorhin: »Ja … heute bin ich wieder deine Muñeca. Heute höre ich es gern, wenn du so zu mir sprichst … Cayrú!«

Er senkte die Augen und sah auf die Hände Anne-Maries. Sanfte, weiße Hände. Sie bewegten sich auf dem dunkelroten Holz der Bordkante des Fahrzeuges hin und her wie zwei weiße Tauben, die einander suchen und zärtlich sein wollen. Sensible Finger. Leichte, gebrechliche Gelenke. Und darüber, wie aus einer Cayawurzel gedrechselt, die Arme mit einer samtstumpfen Haut, mit einem feinen blauen Geäder und einem hellgoldenen Flaum.

Jawohl … genauso wie eine Cayawurzel, wenn man sie geschält hat, um einen Bogen daraus zu schnitzen … dachte Cayrú.

Er spürte den Wind über sein Gesicht hinstreichen. Der Wind wühlte sich in das Blut hinein, das von den Adern sich nicht eingeengt fühlte. Das Blut hämmerte und galoppierte im Kreis durch den ganzen Körper, um endlich jene Stelle zu finden, von wo aus, verwandelt zu einer anderen Form, es hinauskonnte aus der Enge und in einer Freude sich ausbreiten, so wie jetzt der leichte Wind, der das dünne Rohr mit dem schweren Behang des Büschelhaars hin- und herbewegte, auf das Wasser herunterbog, die wehenden Haare hauchend berührte, das Lichte zum Dunklen und das Rauhe zu dem Sanften, das Wehende zu dem Fließenden.

Anne-Marie beobachtete das Gesicht Cayrús. Zuerst erschien es ihr wie das Gesicht jener großen kupferroten Eidechse mit den tiefschwarzen Leuchtkugeln, das sie so oft schon vor Augen gehabt hatte. Denn die Eidechse war in einem hohlen Baum zu Hause, der im Garten nahe dem Zwiebelbeet stand.

Die kupferrote Eidechse wartete auf die Sonne, und sobald auch nur ein ganz kleiner Schimmer von ihr da war, nahm sie ihn mit der spitzen Zunge auf und trank und schmeckte, ohne daß auch nur die geringste Bewegung durch den Körper ging.

An dieses Gesicht einer Eidechse dachte Anne-Marie im Betrachten des Gesichtes von Cayrú. Und doch war es nicht dieses Gesicht, mußte sie sich schließlich sagen. Es war aber jenes andere, das mit den dunkelgoldenen, tief nach innen versunkenen Augen, als holten diese Augen all jene Worte aus einem tiefen Brunnen herauf, die sich langsam zu einem Märchen fügen.

Ja … dieses Gesicht ist es, kein anderes, das mich damals schon verwirrte, als ich die Geschichte von dem kleinen Affen Chucuchu hörte, dachte Anne-Marie. Sie ließ die Hände von der Bordkante los, griff nach der Wasserrose, die in ihrem Schoß ruhte, hob den Kelch der Blume an den Mund und trank den bittersüßen Geruch viele Minuten lang.

Plötzlich ließ sie die Rose fallen und fragte Cayrú mit einem ganz anderen Ton in der Stimme: »Wirst du mir jetzt sagen können, weshalb das böse Auge immer zwischen uns ist?«

»Es ist nicht, Muñeca! Es ist nicht mehr zwischen uns.«

»Das weißt du genau?«

»Es ist nicht mehr …«

»Und warum ist es nicht mehr?«

»Weil du stärker bist … als das böse Auge. Stärker als der Atem, der von dem bösen Auge ausgeht.«

»Darüber werde ich noch nachdenken müssen, Cayrú!« antwortete Anne-Marie. »Und jetzt fahr das Boot in den Graben hinein!«

Cayrú zog die kleine Kurve mit einem Ruder. Der Schwung steuerte das Fahrzeug haargenau bis zum Graben. Cayrú sprang auf die Böschung und zog den Einbaum bis zum Pfahl. Er half Anne-Marie heraus. Und als er das Seil um den Pfosten schlang, fragte sie ihn:

»Warst du in den letzten Tagen wieder auf der Insel?«

»Ich war gestern dort.«

»Und du hast auch nach den weißen Federn gesucht?«

»Ich habe schon viele Federn gefunden, und bald wird auch das weiße Kleid für dich fertig sein.«

»Wann fährst du wieder zur Insel hinüber?«

»Vielleicht heute noch.«

»Willst du mir ein Bündelchen von den schönen weißen Federn mitbringen? Es brauchen ja nicht viel zu sein.«

»Ich werde dir bringen, wenn die Krebse im Korb sein werden.«

»Das ist ein guter Gedanke, Cayrú! Mit diesen Federn will ich etwas tun für dich, verstehst du? Etwas, wodurch du schnell wieder zur Arbeit bei uns kommst.«

»Es werden dann aber fehlen die Federn zu deinem Kleid.«

»Du sagtest vorhin aber, daß es viele Federn dort gibt. Und nun nicht mehr?«

»Nicht immer sind viel.«

»Das Federkleid möchte ich natürlich auch haben. Also bring so viel Federn, als du meinst, daß sie zum Kleid nicht fehlen!«

»Es wird so sein, wie du willst, Muñeca.«

»Dann ist es ja gut. Und jetzt geh wieder schön nach Hause, und wenn du an mich denkst, dann denke nichts Schlechtes von mir!«

Sie gab ihm die Hand und fuhr dabei mit der anderen Hand über sein Gesicht. Darauf drehte sie sich schnell um und verschwand bald in den Büschen, die wie eine tiefe Mauer den Hof umsäumten. Cayrú aber sah ihr sinnend nach.

Yamacinto stand noch immer bei der Mutter, als Cayrú auf dem Umweg durch den Busch zurückkehrte. Er hatte es nicht eilig mit der Arbeit; die Neuigkeiten, die er Mayahua noch zu erzählen gedachte, obschon er doch über eine Stunde dabei war, zu erzählen, schienen ihm wichtiger.

Er tat jetzt aber so, als erinnere ihn Cayrú daran, daß man schließlich auch etwas arbeiten müsse. Er fuhr sich über die Stirn und sagte: »Ach ja … ja … ja, es ist ein großes Unglück mit der Zeit, daß sie jetzt so schnell davonläuft, seitdem die Weißen sie messen nach Stunden, Tagen, Monden und Jahren. Und ob sie richtig messen oder falsch … was wissen wir? Es ist gut, wenn man bei der Sonne bleibt. Und du, Cayrú, wirst auch darin bleiben müssen, willst du nicht den elenden Würmern zugezählt werden, die weiß sind und vor der Sonne sich verkriechen.«

»Du hast viel erzählt, und wenig habe ich gehört«, antwortete Cayrú.

»Ich kann jetzt nicht gut alles noch einmal wiederholen, was ich gesagt habe. Aber das Wichtigste sollst du hören, nachdem deine Mutter es schon weiß und große Sorge um dich hat. Es ist da wieder der schwarze Unhold im Busch. Vor wenigen Tagen haben wir die Spur von ihm gefunden, der Huacua und ich. Du weißt doch, wer er ist, dieser Schwarze, und was er alles anrichten kann?«

»Es wird keine Angst sein!« antwortete Cayrú.

»Gewiß nicht, mein Sohn! Aber … ich wollte dir bloß sagen, daß dein Vater siebenmalzwei Zähne von unserem lieben Schwarzen am Gürtel hatte. Frage deine Mutter, ob meine Rede die reine Wahrheit ist oder nicht!«

»Ich weiß von den siebenmalzwei Zähnen, das hat der Vater mir noch erzählt, ehe er zum letzten Male die Krebse fing. Es war aber ein anderer Wald, dort, wo mein Vater zu Hause war. Und wenn ich sein werde dort im Wald, werden es auch viele Zähne vom Schwarzen sein, die ich in einer Kette um den Hals trage. Aber es ist doch besser, man hütet sich und geht nicht wieder zurück in den Wald.«

»Dann wird es ein anderer Wald sein, mein Sohn. Überall ist Wald, wenn man will.«

»Ja … wenn man will. Ich will … und ich will nicht. Es wird sein, wie meine Muñeca will.«

»Deine Muñeca?« fragte Yamacinto und riß den Mund weit auf. »Was ist das?«

»Ach … Ein Vogel. Eine Blume. Ein Stern im Wasser …«

»Wenn du es nicht weißt, mein Sohn … ich aber weiß es. Du mußt eine Frau haben. Und wirst Sonntag zum Tanz kommen?«

»Ich weiß noch nicht, wie Sonntag das Wetter sein wird. Es ist weit bis zum Dorf und wird immer weiter und weiter.«

Er drehte sich herum, ging in die Hütte und holte sich das Flechtwerk für eine neue Matte heraus.

Yamacinto schüttelte den Kopf und wartete auf Mayahua, die von der Bai mit den beiden Krebskörben heraufkam.

»So kommt die Arbeit zu uns«, sagte Yamacinto zu Mayahua. Er ließ die Frau vorangehen und schaukelte mit seinen krummen Schultern hinterher bis zu jenem Punkt, wo Huacua immer noch auf das Kommen der Arbeit wartete.

 

Es war noch nicht Mittag, als Cayrú den mächtigen Timbó aufsuchte, der ein wenig links von der Hütte stand und unter dem es kühl, aber auch hell genug war. Die Bastschnüre, die den Grund der Matte bildeten, waren von silbergrauer Farbe und weicher noch als die Wolle von der Vicuña. Die Muster der Matte wurden von Zickzacklinien gebildet, solcherart, wie sie über den Rücken der Wasserschlange laufen, und auch die Farben – blau, dunkelgelb und rot – sind die gleichen.

Gern hätte Cayrú das Bild Anne-Maries in die Matte gewebt, wenn dafür eine Möglichkeit gewesen wäre. In seinen Augen war das Bild groß und klar, nur in die Hände ließ es sich nicht hineinlegen, um es als Muster zu formen.

Das Bild seiner Muñeca wich nicht von seinen Augen. Manchmal stiegen Zweifel in ihm hoch und machten sich in den Gedanken breit. Zweifel darüber, was es eigentlich sei mit diesem Mädchen und ob das Warten auf ein Wiedersehen mit ihr eine Notwendigkeit sei und wozu eine solche zwingende Notwendigkeit?

Vielleicht mag es nicht gut sein, sagte sich Cayrú in der Anfechtung jener Gedanken, die voller Zweifel waren, daß man das Bild des Mädchens so lange mit sich herumträgt in den Gedanken, weil es doch von einem anderen Wesen ausgeht als von jenen, die meine Brüder und Schwestern sind …

»Ja …«, sagte eine Stimme vom Baum herunter, deren Klang Cayrú gar nicht einmal so fremd und sonderbar erschien … »Ja, nicht einmal so verwandt ist jenes Wesen mit deinem Wesen wie dieser Baum hier mit dem danebenstehenden Baum, der doch aus der gleichen Erde heraufwächst, eine silberne Rinde hat und Blätter, die wie Menschenhände aussehen, dünne, lange Hände, wie die Spinnen sie haben, die gelben, die den kleinen Vögeln, wenn sie schlafen, das Blut aussaugen. Im Traum von den Honignäpfen der Blumen … nichts merken die kleinen Vögel davon … nichts. Hörst du, Cayrú?

Braun der eine Baum und hell der andere … und beide sind doch Bäume. Beide eines Wesens, das jetzt so still daliegt und so tief ist wie hier das Wasser der Bai und in der Tiefe einen Himmel hat und weiße und rosarote Wolken.

Du weißt nichts von diesem Wesen, Cayrú? Du wirst es zu spät erfahren. Zu spät für uns beide …«

Ach, das Bild des Mädchens ist es ja nicht allein, das die Gedanken so festhalten, seufzte Cayrú. Es ist auch der Geruch. Ein Geruch, wie ihn keine Pflanze und kein Tier in diesem Wald hat. Den Geruch bringt allein das Mädchen mit. Und wenn sie wieder geht, die liebe … die Muñeca … dann bleibt der Geruch noch eine ganze Weile stehen in den Gebüschen, die auch einen Geruch haben, aber nicht diesen. Deshalb verspürt man ihn noch sehr lange, über all die anderen Gerüche hinweg. Nein, so lange stehen die anderen Gerüche nicht still. Denn wenn man von dem Pfefferbaum weggeht, kommt dessen Geruch nicht mit. Er bleibt stehen, wo er zu Hause ist. Oder man müßte schon eine Blüte oder ein Beerenbüschel abbrechen und mit sich herumtragen, wenn man will, daß der Geruch bleibe. Das Mädchen ist fort, der Geruch aber ist noch da und zu dem Geruch in den Gedanken das Bild.

Es muß etwas Ungewöhnliches, Geheimnisvolles sein, das von dem Mädchen ausgeht. Und deshalb muß man wohl auch so lange darüber nachdenken und kann doch nicht damit zu Ende kommen.

Cayrú fielen jetzt wieder die Worte der Mutter ein, die sie zu ihm sagte, damals, als er sich nicht zu Llamicha hatte legen wollen:

Sie ist nicht von unserer Art, diese Weiße. Ein Vogel mischt sich nicht mit Krebsen und ein Fisch nicht mit einer Spinne. Und so müssen auch wir in dem Unsrigen und bei Unseren bleiben. Werden wir ungehorsam diesem Gesetz, dann hören wir auf zu sein, und es bleiben die anderen …

Als er diese Worte der Mutter auf die Zunge nahm und laut wiederholte, als spräche sie jetzt ein dritter Mund, nicht der der Mutter und nicht seiner … verblaßte das Bild des Mädchens in den Gedanken. Es war auch schon Abend geworden. Leicht stiegen die Nebel aus dem Schilf empor, und die Fische fuhren flach über dem Wasser hin und her.

Cayrú trug die Matte in die Hütte zurück und ging noch ein Stück weit in den Busch hinein. Er schritt wie ein Tier, das sich von der Tränke gelöst hat, die Finsternis fürchtet und die warme Erdhöhle aufsucht.

Erst bei der Agave, dem alten Ruheort, blieb er stehen und schüttelte etwas von sich, eine rote Spinne, die an seinem Körper emporkroch, vielleicht aber auch war es die Feuchtigkeit aus der Erde herauf … oder die Anfechtungen, die immer wieder kamen und gingen, um das Bild des Mädchens aus den Gedanken herauszunehmen. Cayrú wußte nicht, warum er sich schüttelte. Es war auch nicht er, der sich schüttelte, es war das Blut, das ihn schüttelte. Sein Körper war schweißbedeckt, und doch fror ihn nicht. Er verspürte auch nichts mehr von dem Entsetzen, das ihn sonst immer überfiel, wenn ein Vogel tot aus dem Nest fiel. Das Vogeljunge, das jetzt fiel, fiel in seine offene Hand hinein, die er ausgestreckt hatte, den Mond heranzulocken. Er bückte sich und legte den Vogel auf das unterste Blatt der Agave, dorthin, wo seine Flöte lag. Sie war aus dem Schienbeinknochen eines weißen Reihers geschnitten und stammte noch von seinem Vater, der sie auch verfertigt hatte.

Der Wald schwieg ein paar Minuten lang still, als er das traurige Läuten hörte, das von dem flötenden Mund des Knaben ausging.


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