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XXXVI

Martha Brandel hatte schon das siebenundzwanzigste Jahr hinter sich, als sie zu Coßmanns auf den Hof kam. Sie war so abgerissen, daß Frau Coßmann sie vollständig neu einkleiden mußte, von der Unterwäsche angefangen bis zum Arbeitskittel. Sie besaß weder ein paar Lederschuhe, noch hatte sie einen Kamm, sich das Haar zu strähnen. Zu Hause war nur ein »Einheitskamm«, von einem Indio aus Fischgräten angefertigt, vorhanden gewesen. Die Familie hatte ihn mit nach Asuncion genommen. Alles an diesem Mädchen war verwildert (nicht verkommen): der Körper, die Manieren, die Sprache und das Wissen um die Dinge jenseits dieser Landschaft.

Anne-Marie stand der Tochter Brandels ziemlich fremd gegenüber, allerdings nicht aus den vorgenannten Gründen. Es war etwas anderes, was sie sich zunächst aber noch nicht erklären konnte, von dem die Kälte und Fremdheit gespeist wurde.

Diese Zurückhaltung Anne-Maries der Tochter Brandels gegenüber fiel jedoch keinem weiter auf, nur ihr selbst. Und die Enttäuschung darüber, daß sie sich auf den Besitz einer Freundin vorher so gefreut hatte, und die Gewißheit, daß Martha Brandel diese Freundin nie werden würde, brannte schmerzhaft in ihrem Gefühl.

Sie überließ auch der Mutter allein die »Zähmung« der neuen Hausgenossin. Frau Coßmann tat es mit einer rührenden Besorgtheit und immer von dem Vorsatz bewegt: das im Grunde mimosenhafte Gefühl des in der Wildnis geborenen und in der Enge eines armseligen Kolonistenhauses aufgewachsenen Mädchens nicht zu verletzen.

Auch Onkel Heinrich bemühte sich um Martha. Er war es in der Hauptsache, der die Dummheiten und ordinären Einschläge ihrer Sprache verbesserte. Es geschah meist bei Tisch und an den Sonntagnachmittagen, wenn man auf der Veranda beisammensaß. Er hatte es von Anfang an so gehalten, daß man Martha wie ein Familienmitglied behandelte, und sie teilte auch mit Anne-Marie das Schlafzimmer. Zuerst hatte man die Absicht gehabt, sie in der Kammer bei der alten India schlafen zu lassen.

Es vergingen kaum sechs Wochen, da war aus Martha ein Menschenkind geworden, das sich sauber hielt, die ihr aufgetragenen Arbeiten willig und ordentlich verrichtete und adrett aussah. Frau Coßmann durfte sich sagen: Ich habe Mühe gehabt, um Martha in eine halbwegs vernünftige Form zu bringen, diese Mühe aber hat sich wirklich gelohnt. Überall verspüre ich, daß ich von den gröbsten Arbeiten im Haushalt wirklich entlastet werde. Von Anne-Marie habe ich diese Hilfe nie erwartet, denn es war ja nicht der Weg, auf dem sich das Kind bewegen sollte.

Anne-Marie war jetzt viele Stunden am Tage sich selbst überlassen. Onkel Heinrich lag von früh bis spät auf den Feldern, und der Vater hatte jetzt häufig in der Stadt zu tun. Er kaufte Säcke und Saatgut ein. Er bemühte sich bei der Bank um einen Kredit, um mit dem Geld einige neue Ackergeräte einzukaufen, ebenso Material für den Neubau eines Galpons und eines größeren und sauberer eingerichteten Wassertanks. Oft war er acht Tage hintereinander fort. Er mußte diese beiden noch »stillen Monate« ausnutzen. Der dritte brachte auf der Farm wieder mehr Arbeit, als Hände dafür vorhanden waren. Für die beiden Indios Yamacinto und Huacua, die als Tagelöhner auf dem Feld ausfielen, weil sie den Wald zu roden hatten, waren zwar drei neue verpflichtet worden, dafür aber hatte man auch drei Hektar mehr Baumwolle als im verflossenen Jahr angepflanzt.

An diesen nebelblau verhängten Vorfrühlingstagen ging Anne-Marie viel spazieren. Sie hatte die Mula für die Arbeit auf dem Feld »ausborgen« müssen. An das Verbot, einstweilen nicht mehr allein nach der Insel hinüberzufahren, hielt sie sich, obwohl niemand da war, der gepetzt haben würde, hätte sie sich in den Kahn gesetzt und den Fluß überquert.

Sie wußte, daß Cayrú jetzt jede Woche einmal nach der Insel unterwegs war, um die Reiherfedern einzusammeln. Er hatte bereits drei Kilo auf dem Hof abgegeben. Es war ja auch der Höhepunkt der »Ernte«. Die Hochzeit der Reiher stand vor der Beendigung. Eins aber pflegte Anne-Marie unentwegt: Cayrú im Schreiben und Lesen zu unterrichten. Sie tat es auf eine Art und Weise, die neu war und wenig mit dem Unterrichten, wie es in den Schulen geübt wird, zu tun hatte. Sie strich den lehmigen Sand vor der Agave glatt und schrieb auf diese sonderbare Schultafel mit einem zugespitzten Holz oder auch mit dem Zeigefinger, wie es ihr gerade einfiel, ein paar Buchstaben, die Cayrú sich einprägen mußte, auslöschen und wieder hinmalen. Bei dieser Art von Unterricht war es möglich, daß der Lehrer nicht immer dabei zu sein brauchte, wenn der Schüler übte.

Seit jener Totenfeier für die vom Puma getötete Mayahua war es auch nur einmal geschehen, daß Anne-Marie Cayrú hier an der Agave getroffen und über dies und jenes mit ihm geplaudert hatte. Denn wenn Cayrú auf den Hof kam, um Krebse oder Federn abzuliefern, war fast immer Muttchen zugegen, und bis zu einem gewissen Grade konnte Frau Coßmann den still und bescheiden auftretenden Burschen, der immer dienstwillig war und auch keine langen Finger machte, im Gegensatz zu anderen Burschen seiner Rasse, gut leiden.

Einmal war auch Martha Brandel dabei, als Cayrú einen Korb Fische ablieferte. Sie sprach Guarani besser als ihre Muttersprache und unterhielt sich fließend mit dem Burschen, während Anne-Marie immer ein paar spanische Brocken als Krücke benutzen mußte. Darauf sagte sich Anne-Marie: Die Martha wird mir jetzt jeden Abend eine Stunde Unterricht in Guarani geben müssen. Ich will es so gut sprechen wie sie.

Als Anne-Marie wieder einmal an der Agave vorüberkam und die Schreibarbeit Cayrús prüfte, sah sie ihn vom Fluß heraufkommen. Sie wartete, bis er nahe genug war, um das Signal loszulassen. Er nahm es auch sofort auf und kam wie ein Windhund herangefegt. Er dachte im Moment nicht an die Worte des Patróns. Wahrscheinlich wäre er aber auch dann gekommen, wenn er sich der Worte des Versprechens, das er dem Patrón gegeben hatte, erinnert hätte.

Anne-Marie fragte ihn, ob er das Federkleid schon fertig habe und ob er ihr nicht einen Busch Orchideen von der Insel bringen wolle; sie möchte versuchen, diese Blumen im Garten zu kultivieren. »Wozu haben wir denn dort die wunderbaren alten Bäume stehenlassen?«

Cayrú antwortete: »Das Kleid wird sein zuletzt fertig, weil die schönsten Federn noch abfallen werden von den Reihern. Du mußt noch haben Geduld. Aber die Blumen werde ich dir bringen, morgen vor Sonnenuntergang, und sie auch einpflanzen oben im Baum. Dort, wo gut ist für die Blumen, kannst du nicht hinkommen.«

»Wenn du das tun willst, Cayrú, wird es nicht nur mich, sondern auch meine Mutter freuen.«

»Und man wird dir auch bald bringen das Fell von unserem Schwarzen, es sein schon trocken geworden.«

»Meinst du das Fell von dem Puma, den ihr damals gejagt habt?« fragte Anne-Marie.

»Es sein das Fell von diesem Puma. Huacua hat es mir gegeben, weil das so sein muß wegen der Mutter.«

»Wenn deine Mutter etwas damit zu tun hat, Cayrú, dann darfst du auch das Fell nicht weggeben. Solch ein Andenken muß man immer und überall in Ehren halten.«

»Es sein dein Fell. Es wird gut sein, darauf zu schlafen. Es sein jetzt noch weicher als Federn«, beantwortete Cayrú den Einwand Anne-Maries, der vielleicht auch gar nicht einmal so ernst gemeint war, wie er sich anhörte.

Sie sagte jetzt: »Gott, wenn du meinst, daß es das Andenken deiner Mutter nicht beleidigt, wenn du das Fell jetzt mir schenkst, dann kann man es ja auch annehmen. Du mußt es mir aber auf den Hof bringen, und man soll dir eine Belohnung geben. Mein Vater wird dann auch keinen Argwohn haben. Verstehst du, Cayrú? Wie gefällt dir übrigens unser neues Mädchen? Sie hat doch so nett mit dir gesprochen … Martha heißt sie.«

»Es sein ein gutes Mädchen für den Patrón.«

Anne-Marie verstand nicht gleich, was Cayrú meinte. Deshalb fragte sie: »Wieso soll Martha gut sein für den Vater?«

»Nicht für den Patrón, der dein Vater ist, sondern für den anderen.«

»Ach so … du meinst für meinen Onkel Heinrich? Siehst du, daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Anne-Marie.

Sie schwieg eine ganze Weile darauf und dachte bei sich: Sonderbar, mit welchen Gedanken Cayrú sich herumplagt. Vielleicht ist er sogar eifersüchtig auf Onkel Heinrich …

»Man wird wieder gehn …«, sagte Cayrú. Er hatte das Mädchen angesehen, während sie schwieg und nachdachte, und hatte versucht, ihre Gedanken zu erraten. Es war ihm nicht gelungen.

Vom Wasser kam ein kalter Wind, und Anne-Marie schüttelte sich ein paarmal heftig. Das Sonnenlicht schimmerte mit einem bläulich-weißen Glanz auf den breiten Blättern der Agave. Aber es hatte noch nicht die Kraft, die Kühle zu besiegen.

Cayrú wiederholte: »Man wird wieder gehn …«

»Ja … Cayrú …«, antwortete Anne-Marie, und ihre Stimme klang so, als käme sie aus einer weiten Ferne. »Ich sehe es schon so kommen, daß man sich immer weniger trifft. Und niemand von uns beiden wird wissen: warum?«

Das verstand Cayrú nicht. Aber er erschrak, als Anne-Marie ihm mit der flachen Hand über das Haar fuhr. In ihren Augen war eine Dunkelheit, die er noch nicht kannte. Er fühlte sich glücklich und ängstlich zugleich. Und als jetzt ihr zerzaustes Haar seine Wange berührte, blieb ihm ein paar Schläge lang das Herz stehn, und ihm wurde es schwindelig.

Anne-Marie drehte sich schnell wieder herum und ging. Dort, wo der schmale Pfad in eine Kurve bog, drehte sie sich noch einmal um und winkte; und als Cayrú den Gruß erwiderte, verlor sie ihn auch schon aus den Augen.

Sie ging aber nicht gleich nach dem Hof, sondern die kleine Anhöhe hinauf, von der man einen weiten Blick auf die Felder hatte. Die Luft hier oben war wärmer als im Wald. Der Himmel in seiner ganzen Unendlichkeit zeigte nicht eine Wolke. Es zirpten die Grillen, ein Raubvogel kreiste, eine India, das Kind auf dem Rücken, kam vorüber und verdeckte das Gesicht, als sie des blonden Mädchens in dem blauen Poncho ansichtig wurde.

Anne-Marie bekam wieder schwermütige Anwandlungen, sie hätte jetzt heulen mögen, so sehr regte sie der Zwiespalt in ihren Gedanken auf, die sich auf ihr Zuhause und auf Cayrú bezogen. Er war ein Mensch … aber als Indio sollte er keiner sein?

Ein kaltes, hartes Gefühl löste das weiche in ihrer Brust ab. Sie zerbrach einen dünnen Zweig, der an ihren Beinen herumkitzelte, und verdrängte mit zusammengebissenen Lippen die Tränen.

 

Eines Tages fragte Heinrich Coßmann seine Schwägerin: »Wir haben die Martha jetzt drei Monate im Haus. Bist du mit ihr zufrieden? Ganz aufrichtig, bitte!«

»Was soll man da viel drum herum reden? Wem zuliebe, wem zuleide, Heinrich? Mich hat Martha jedenfalls nicht enttäuscht. Und soweit ich jetzt schon urteilen kann, wird auch der nicht betrogen sein, der sie einmal heiratet!«

»Wie kommst du auf Heirat? Hast du schon jemand im Auge?«

»No … aber nicht lange mehr, und das Mädel ist dreißig. Dann beginnt die kritische Zeit.«

»Der Meinung bin ich natürlich auch. Wer weiß, wie es ihr in Asuncion ergangen wäre. Brandel hatte vor, sie dort in einer deutschen Tabakfabrik unterzubringen. Und das wäre wohl nicht das Richtige gewesen als Übergang von der Wildnis und der entsetzlichen Primitivität zu Lippenstift, Stöckelschuhen und Dauerwellen. Wenn man diesen Typ in der Hauptstädtischen hat … dann kann einem nicht bloß der Atem wegbleiben …«

»Daß man Martha hier ins Haus hat nehmen können, ist natürlich die beste Lösung gewesen, und wahrscheinlich war es auch kein bloßer Zufall, daß du zu Brandels gefahren bist, um das Gespann zu kaufen. An solche Zufälligkeiten glaube ich ja nicht, wie du weißt. Oft erst nach Jahren erfährt man, warum eine bestimmte Sache so und nicht anders sich abspielen mußte«, sagte Frau Coßmann.

»Ich hatte erst ein wenig Angst, mit dem Vorschlag zu kommen, eins von den Mädchen Brandels ins Haus zu nehmen. Und vielleicht hätte ich sogar die jüngere von den beiden, die Gertrud, hier lieber gesehen. Aber nun kommt es mir mit der Martha schon so vor, als wäre sie bereits jahrelang hier und gehöre zu uns.

Gott, es kann ja auch noch so werden, daß sie in Wirklichkeit zu uns gehört und nicht bloß in meiner Phantasie.«

»Wie meinst du das, Heinrich?«

»Das kann doch nicht schwer zu erraten sein? Oder ist es dir mit der Zeit schon abhanden gekommen, daß ich ein lediger Mann bin und noch dazu in den sogenannten besten Jahren?«

»Du hast doch nicht etwa Absichten mit dem Mädchen?« fragte Frau Coßmann mit ziemlich erschrockener Miene.

»Vielleicht … denn immerhin ist es eine Frau und kein Bild aus Stein, und ich bin ja auch noch nicht zu alt.«

»Wenn du sie bloß so zum Spiel willst … Heinrich, dann laß, bitte, die Finger davon.«

»So einfach habe ich das vielleicht nicht gemeint«, antwortete Heinrich Coßmann.

»So nicht …? Bueno! Ich habe allerdings auch nicht die Absicht, dich zu bevormunden. Nur erinnern wollte ich dich daran, daß du dir bislang ein anderes Bild von der Frau gemacht hast, die du einmal heiraten würdest.«

»Solche Bilder sind fast immer veränderlich, und in den meisten Fällen bleiben die Bilder auch verwaist. Wenn es bei dir sich nicht so zugetragen hat … dann bildest du eben eine von den seltenen Ausnahmen. Zu diesen Ausnahmen, in einem gewissen Sinne, rechne ich mich auch. Denn das Bild, das ich mir von der Frau gemacht habe, ist in seinem Grundwesen immer noch da. Ich habe es in einer leicht verschleierten Form sogar täglich vor Augen. Nur läßt es sich eben nicht verwirklichen. Denn eine Nichte darf man wohl nicht heiraten, das steht fest.«

»Du bist wohl nicht mehr ganz bei Sinnen, Heinrich! Allein schon der Altersunterschied; gesetzt, unser Kind wäre eine Wildfremde, würde es nicht zulassen … wenn man mit Vernunftgründen an die Sache herangeht. Daß der Estanciero Tiburtius mit seinen vierundfünfzig Jahren eine Sechzehnjährige geheiratet hat, darf dich nicht animieren, auf ähnlichen unsinnigen Wegen zu wandeln. Man muß sich doch auch in die Lage solch einer Frau, die noch ein halbes Kind ist, hineindenken können.«

»Gewiß! Oder glaubst du etwa, ich belästige mein Gehirn nicht mit solchen Gedanken? Dem Alter nach liegt Martha mir natürlich näher. Aber lassen wir das doch! Auf ein oder zwei Jahre mehr des Wartens kommt es jetzt auch nicht mehr so genau an.«

»Das kann man nicht wissen, Heinrich. Du solltest dich einmal mit deinem Bruder aussprechen.«

»Das hatte ich ja auch bereits vor. Am Sonntag wird sich wohl sicher eine Gelegenheit dazu ergeben, denke ich.«

»An deinem Geburtstag? Tu das! Aber scheue dich nicht, auch zu mir zu kommen, wenn du einen Rat brauchst.«

Sie gaben sich die Hände und sahen einander fest in die Augen. Und beide hatten sie das Gefühl, daß einer dem anderen gegenüber aufrichtig war und es auch bleiben mußte.

Frau Coßmann hatte sich den Inhalt der Unterredung mit ihrem Schwager Heinrich lange durch den Kopf gehen lassen, ehe sie mit ihrem Mann darüber sprach. Und als sie eines Tages nach der Rückkehr von seiner Reise die gute Gelegenheit fand, ihn von dem in Kenntnis zu setzen, was sie erfahren hatte und was sie davon hielt, war er sehr erstaunt. Nicht etwa darüber, daß Heinrich sich mit Heiratsabsichten trug, sondern, daß er allen Ernstes an Anne-Marie gedacht hatte.

»Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen, Frau, daß Heinrich sich solchen Hirngespinsten hingegeben hat. Sicher hast du ihn nicht richtig verstanden. Wahrscheinlich wird er gemeint haben: seine Zukünftige müsse in ihrem Wesen und in ihrer Art unserem Mädel gleichen. Und das ist doch naheliegend.

Ich erinnere mich aber, daß er mir vor etwa drei Jahren einen anderen Plan entwickelte. Ich hatte ihn nämlich gefragt, ob es nicht an der Zeit sei, daß er nach einer Frau Umschau halte. Und da erklärte er mir: er wolle nicht eher heiraten, als bis unsere Farm den Umfang angenommen habe, der von Anfang an in unserem Plan vorgesehen war. Also ein Zuwachs von mindestens dreißig Hektar Land, das Sägewerk und der Hafen. Und die Arbeitsteilung war dann so gedacht, daß ich den industriellen und kaufmännischen Teil verantworten solle, während er sich lediglich dem landwirtschaftlichen Teil zu widmen hätte. Dann müsse auch ein neues Wohnhaus gebaut werden, ausreichend für zwei Familien; und die Frau, die er sich dann nehmen werde, habe ihm mindestens fünfzigtausend Dollar in die Ehe zu bringen. Alle Einwände, die ich damals machte, ließ er nicht gelten. Ich weiß noch den Wortlaut seiner Entgegnung in bezug auf die Frau. Er sagte: Sieh mal, Friedrich, daß du mich für einen besonders dummen Jungen hältst, habe ich nie angenommen. Und als ein Schwarmgeist mit langen Locken und großer Hornbrille hast du dich bislang auch noch nicht herausgestellt. Deshalb kann ich mich auch so ausschütten, wie es mir ums Herz ist, und brauche nicht nach Bildern und Vergleichen zu suchen, die den wirklichen Kern verhüllen. In diesem Fall wären es meine Ansichten über die Frau. Gut! Ein schöngeformtes Gesicht mit allem von der Natur angefertigten Komfort und ein gut gebauter Körper, so etwa, wie ihn Rodin zum Beispiel zu meißeln versteht … das ist etwas, was man an einer Frau sehr zu schätzen weiß, und wenn man es schließlich auch besitzt, als amtlich bescheinigtes Eigentum sogar … dann ist man meist auch zu allerlei Dummheiten fähig und achtet weniger auf das Wetter respektive auf den Weg. Das kann viele Jahre, das kann wenige Jahre gut gehen. Mit der Zeit aber werden alle Dinge für Staub und Motten empfänglich und sehen grau und leicht angeknabbert aus. Selbst wenn es in Wirklichkeit noch nicht ganz so weit ist mit der Gewohnheit und abgenutzten Empfänglichkeit … man empfindet das aber so und meint, es sei natürlich, und spricht auch wohl von einem Ruhebedürfnis, das jedes Lebewesen von Zeit zu Zeit befällt. Man lebt damit, man findet sich damit ab, man wünscht, daß es noch lange so nett und bequem bleibe. Das nennt man dann eine gottwohlgefällige Ehe, reif für goldene Hochzeiten und so weiter … immer vorausgesetzt, daß sich im Lauf des Wandels durch die Jahre keine Komplikationen materieller Art einstellen.

Wenn dieses wunderschöne Gesicht und dieser wohlproportionierte Körper aber nicht von einem goldenen Sockel getragen werden, wenn das graue Elend sich schon nach kurzer Zeit einstellt und aus dem anfänglichen leisen Weinen dann sehr bald ein Geschrei, Gepolter, Zeter und Mordio wird … dann ist es aus mit der Augenweide und den sonstigen Glücksgefühlen, selbst wenn sie als Fleisch und Blut und Bewegung noch in voller Pracht vorhanden sind. Brot kann man sich leider dafür nicht kaufen, und das Dach über dem Kopf ist noch viel teurer.

Ich bin also für die goldene Mitte, verstehst du? Nett muß die Frau sein, keine dumme Gänseliese, und den unseren Verhältnissen entsprechenden Zaster mit in die Ehe bringen. Dem Herrn Schwiegervater kann versichert werden, daß die Mitgift sich in jedem Betracht gut verzinsen wird …

Ich habe diesen von Heinrich angemachten Salat damals nicht fressen können, aber den Mund gehalten. Und nun muß ich ihn, ohne daß ich es eigentlich will, weit aufreißen vor Staunen. Ich staune über die radikale Wandlung. Und schließlich muß ich auch annehmen, daß es keine Augenblickslaune ist, die man vielleicht verstehen könnte, wenn man sich müht, sich in die Bedrängnis eines ledigen Mannes hineinzufühlen.

Sollte es Heinrich also ernst damit meinen, die Martha Brandel zu ehelichen, dann, von mir aus, im Namen aller guten Geister, auch der indianischen. Es besteht auch aus anderen Gründen kein Anlaß, ihm Hindernisse in den Weg zu legen. Bestehen bei dir vielleicht Bedenken? Ich meine: weil du immerhin die Martha tagtäglich vor Augen hast, dahintergekommen bist, wie es mit ihr beschaffen ist, innen und außen, und natürlich schärfer siehst als unsereins.«

Frau Coßmann antwortete mit jener tiefen, raunenden Stimme, die immer ihr eigen war, wenn sie sich dem Mann gegenüber überlegen fühlte: »Ich habe Heinrich ja deutlich genug zu verstehen gegeben, daß es mir sehr unangenehm wäre, würde er das Mädchen nur dafür wollen, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ich werde es hier im Haus, vor allem unter den jetzigen Verhältnissen mit unserem Kind, unter keinen Umständen dulden. Ich habe für Martha immerhin eine Verantwortung übernommen, nicht bloß ihren Eltern gegenüber. Wenn Heinrich es aber tatsächlich aufrichtig mit ihr meint und Martha nicht nein sagt, dann ist sie ja Familie. Und weshalb sollen sich hier zwei Hausfrauen nicht ebenso vertragen wie ihr zwei Männer? Man wird, genauso wie ihr, eine Arbeitsteilung vornehmen und damit allen Reibereien die Spitze nehmen.«

»Schön, Frau, du hast wieder einmal den Standpunkt der sogenannten goldenen Mitte eingenommen. Vielleicht auch etwas mehr. Ich halte es nur für das beste, wir lassen den Dingen ihren Lauf, bis sie eine feste Form angenommen haben.«

»Damit ist aber nur ein Teil des schwierigen Problems gelöst, Mann. Noch wichtiger scheint mir, soweit du und ich in Frage kommen, der andere Teil, verstehst du?«

»Welcher andere Teil?« fragte er und sah seine Frau mit erschrockenen Augen an.

»An unser Kind denkst du nicht?«

»Also schon wieder das Kind? Was ist vorgefallen? Spann mich doch nicht so auf die Folter, Frau!«

»Nichts Neues ist vorgefallen. Du tust ja jetzt gerade so, als hätten wir einen Ausbund erster Klasse im Haus. Es ist immer noch die alte Sache. Nur in einer anderen Beleuchtung.«

»Ich verstehe wirklich nicht, weshalb du jetzt wieder damit kommst; ich hatte schon damit begonnen, den Dreck zu begraben.«

»Es handelt sich, wenn du es noch immer nicht verstehst, um deinen Bruder Heinrich und um seine Beichte in bezug auf Anne-Marie.«

»Das ist doch kein Problem, liebe Frau! In welche Abwegigkeiten hast du dich denn begeben! No, durch sein Interesse für Martha wird Heinrich ganz und gar abgelenkt von dem Wahn, Anne-Marie sei ein Wesen, das zu ihm passe.«

»Gerade darum, Mann, er wird durch Martha abgelenkt und doch immer wieder aufgestachelt, je mehr das Kind sich zur Frau entwickelt. Daran sollten wir doch auch denken.«

»Bueno! Wenn du das so ansiehst, dann wirst du dir wohl auch Gedanken darüber gemacht haben, was man zu tun hat, um solchen und ähnlichen Komplikationen aus dem Wege zu gehen. Zum Heil der einen wie auch der anderen Seite.«

»Du weißt, daß ich bis vor wenigen Monaten dagegen war, das Kind jetzt schon nach Buenos Aires zu schicken. Ich wollte mindestens noch ein Jahr warten, besser noch zwei. Heute bin ich nun der Meinung, daß das Kind so bald als nur möglich aus dem Hause muß. Denn was sich zwischen Heinrich und Martha abspielen wird, kann für das Kind doch nicht verborgen bleiben. Und nun denk dir noch hinzu, daß sich da ein junger Mann in unserem Umkreis bewegt, um den Anne-Marie keinen weiten Bogen macht, gleich, welche Gefühle da mitspielen, man braucht ja nicht immer gleich an das Sexuelle zu denken. Die bekannte Tafel, die auch du aufgestellt hast, mit dem ebenso bekannten schönen Inhalt ›Verbotener Weg‹ hat noch in keinem Falle etwas genutzt. Einen geladenen Revolver kann man nicht immer danebenstellen.

Also wird es auch uns nicht viel nützen, wenn wir dem Kind dauernd mit dem Zeigefinger kommen: Das und das darfst du nicht tun, und dies und jenes schickt sich nicht für ein junges Mädchen, die eine Sache mußt du als eine Frucht von grüner Farbe ansehen, selbst wenn es dir klar ist, daß von grün nicht die Rede sein kann … die andere Sache ist von blauer Farbe, besser aber ist, du siehst sie weiß … und so weiter und so weiter. Ich bin mir gewiß nicht in allem klar über das Kind … aber was ich nun schon einmal sehe, das sind keine Hirngespinste.«

»Sage nicht immer: ›Das Kind!‹ Anne-Marie ist wirklich kein Kind mehr. Und weil sie es nicht mehr ist, bin ich durchaus damit einverstanden, daß sie sich einen anderen Wind um die Nase wehen läßt. Wenn du willst, schreibe ich schon morgen an das Institut. In drei, vier Wochen kann dann die Reise vonstatten gehen. Vorausgesetzt, daß dir dieser vernünftige Entschluß morgen nicht schon wieder leid tut.«

»Leicht ist der Entschluß mir gewiß nicht gefallen, mich für eine so lange Zeit von dem Mädchen zu trennen.«

»Sie wird immerhin die Ferien hier verbringen. Das Wichtigste aber ist: Wer wird mit Anne-Marie sprechen? Besser, du übernimmst das. Auf mich wird sie einen kleinen Pick haben. Und ich möchte auf keinen Fall, daß es zu einer Entfremdung zwischen uns kommt.«

»Gern tue ich es auch nicht, sie auf die Reise vorzubereiten, denn es ist ja nicht so, als wenn man den Mann für ein paar Tage verliert, weil in der Stadt wichtige Geschäfte zu erledigen sind. Ich werde gewiß mein möglichstes tun, um ihr und mir die große Szene zu ersparen. Es kann natürlich auch sein, daß die Erde wieder einmal bebt. Wahrscheinlich ist es schon zu lange her, daß sie nicht mehr bebte. Stimmt es so?«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Frau.«

»Es fiel in diesem sonst ziemlich ruhigen Haus einmal das Wort Hure … das wird man wohl noch nicht vergessen haben …«

»Laß doch die Toten ruhen, Frau!«

»Ich habe die Erinnerung nur deshalb laut werden lassen, um dir zu Gemüte zu führen, daß man mit der Zeit auch über sehr schwere Geschehnisse hinwegkommt, wenn beiderseits der gute Wille dafür vorhanden ist, zu vergessen und zu vergeben.«

»Hoffentlich findest du diesen guten Willen auch bei unserer Tochter. Ich sagte ja vorhin schon, daß es mir sehr nahegehen würde, käme es zu einer Entfremdung zwischen Anne-Marie und mir. Ich denke gerade an einen ähnlich gelagerten Fall bei unserem Nachbarn Adolf Schmolz. Er ist bereits zweimal Großvater geworden und darf seine Enkel nicht sehen.

Und unser Kind … ich habe mehr dafür übrig, als zulässig ist, will man sich nicht Affenliebe nachsagen lassen.«

»Darüber, Mann, laß dir nur ja keine grauen Haare wachsen. Mir aber geht mit dem Immer-erwachsener-Werden des Kindes Stück um Stück meiner eigenen Jugend zum Teufel.«

»Ich hoffe, die Martha wird dir nicht bloß im Hauswesen eine gute Stütze sein. Und schließlich und endlich bin ich ja auch noch da … oder zählt das nicht?«

»Ja … auch du, mein Friedel, bist noch da und bist nicht da, wie man es nimmt. Der Wald hier scheint alles zu fressen und zu verwandeln …«, sagte sie leise und tief.

Nun auch dies noch …, dachte er. Es war aber so laut gedacht, daß sie es hörte, vielleicht aber auch von seinen Lippen ablas. Denn sein Blick hing an ihr mit einem Ausdruck, der zuletzt mehr aussagte als ein bloßes Erschrockensein.

Sie lächelte verlegen und sagte, die Hand auf seiner Schulter: »Laß gut sein, Friedel! Wir werden uns auch noch einmal wiederfinden, so wie in jenen Wochen und Monaten, als diese schreckliche Wildnis noch nicht um uns war …«

Seine Lippen blieben fest geschlossen, eine lange Weile. Plötzlich aber nahm er ihren Kopf in seine beiden Hände, küßte die Stirn und die Augen der heftig zitternden Frau und fand zuletzt auch ihren Mund, den er lange festhielt mit seinen Lippen.

Anne-Marie stand in der offenen Tür, fühlte, wie ihr das Blut in das Gesicht hineinschoß und die Ohren sausen ließ. Sie senkte die Augen und schlich davon.

Im Garten unter den alten Waldbäumen begann die Dämmerung mit einem feinen Nebel, der sich wie ein leichter blauer Schleier um die Sträucher und Ranken legte. Die indianische Amsel (das kohlschwarze Federkleid mit einer goldenen Halskrause verziert) flötete ein schwermütiges Liebeslied. Von dieser Schwermut ließ sich auch Anne-Marie mitnehmen. Zum erstenmal in ihrem Dasein empfand sie, daß die Luft im Elternhaus immer kühler wurde und all den Dingen darin die natürliche Wärme nahm.


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