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Der Ausdruck »Ente« für eine lügenhafte Nachricht, die eine Zeitung gebracht hat, ist allgemein bekannt. Dagegen streiten sich die Gelehrten darüber, wieso die Ente in den Geruch der Lügenhaftigkeit gekommen ist.
Professor Riegler hat sich z. B. in seinem vortrefflichen Buch: »Das Tier im Spiegel der Sprache« eingehend mit dieser Frage beschäftigt. Er macht daraus aufmerksam, daß im Spanischen und Französischen die gleiche Bezeichnung üblich ist, nämlich pajarotada und canard. Die Erklärung mit der Sage von dem »Entenbaum«, auf die Bartels verweist, lehnt er ab, da diese nach seiner Ansicht erst von der Ente im Sinne von Lüge ihren Ausgang genommen hat. Hingegen ist er wie Sanders der Meinung, daß das Geschnatter der Ente das tertium comparationis sei. »Welche Eigenschaft,« meint er, »berührt uns an größeren Vögeln unsympathisch? Das ist wohl die unangenehme Stimme, die so ziemlich allen größeren Vogelarten gemein ist. Hierbei denken wir zunächst an zahme Vögel, wie Gans und Ente, die wir als Haustiere in unserer unmittelbaren Nähe haben und daher am häufigsten hören, von ›Geschnatter‹ zur Bedeutung ›leeres Geschwätz, lügenhafte Nachricht‹ ist nur ein Schritt.«
Diese Erklärung läßt sich hören, steht jedoch auf sehr schwachen Füßen. Einmal ist Geschwätz und Lüge nicht das gleiche, es stimmt also die Hauptsache nicht. Sodann gibt es zahlreiche schwatzhafte Vögel, so daß die übereinstimmende Wahl von Ente im Spanischen, Französischen und Deutschen ein ungelöstes Rätsel bleibt.
Nicht nur die Gans schnattert, wie die Ente, sondern auch Papageien und Rohrsperlinge sind wegen ihres ewigen Plapperns bekannt. Am auffallendsten ist jedoch die Geschwätzigkeit der Elster. Das hebt auch Riegler selbst hervor, denn er schreibt in dem genannten Buche: Was aber die Elster besonders charakterisiert, ist ihr Geschrei, das sie mit staunenerregender Unermüdlichkeit stundenlang hören läßt. Daher gilt der Vogel mit Recht als Symbol der Geschwätzigkeit, und zwar in allen Kultursprachen. (Übrigens stammt von italienisch gazzera, Elster, auch gazzetta, die Zeitung, eigentlich die Schwätzerin.)
Der Spanier sagt von einer geschwätzigen Frauensperson, sie spricht mehr als eine Elster. Der Franzose gebraucht bec de pie, Elsternschnabel, für Schwätzerin, ebenso jaser comme une pie, schwatzen wie eine Elster usw.
Auch in Deutschland ist es eine alltägliche Redensart: Geschwätzig sein wie eine Elster!
Spanier, Franzosen und Deutsche haben also sämtlich Redensarten, die sich mit der Schwatzhaftigkeit der Elster beschäftigen. Folglich ist es ausgeschlossen, daß die Bezeichnung »Ente« von ihrem leeren Geschwätz herrühren könne, viel näher hätte es ja dann gelegen, die so bekannte Elster zu wählen.
Darüber herrscht nicht der geringste Streit, daß mit dem Ausdruck Ente ein lügenhaftes Tun dieses Tieres gemeint ist, d. h. also, daß die Sprache das Tier nennt, wenn es die Handlungsweise dieses Tieres meint. Kommen denn nun irgendwo Fälle vor, wo die harmlose Ente lügt?
In der Tat trifft das zu. Unsere Gelehrten sind im allgemeinen dem Tierleben zu sehr entfremdet, sonst hätten sie die Erklärung schon längst gefunden.
Alle friedlichen Erdbrüter geraten in eine üble Lage, sobald sich ein übermächtiger Feind naht, während sie ihre Jungen führen. Was soll das Rebhuhnpaar mit Jungen machen, sobald der Mensch kommt? Die beiden Alten können fortfliegen, aber was wird aus den Kleinen? Ebenso liegt die Sache bei dem Fasan, der Wachtel usw. Den Wasservögeln, z. B. der Ente, geht es auch nicht viel besser, denn ein Hund fängt beispielsweise mit Leichtigkeit die jungen Entlein.
Mutter Natur gab diesen Erdbrütern zu ihrem Schutze zwei Waffen. Einmal ist die Farbe der Jungen mit dem Erdboden so übereinstimmend, daß ein Mensch sie fast immer übersieht. Sodann aber gab sie den Eltern die Verstellungskunst, um den Feind fortzulocken.
Diese zweite Waffe ist eigentlich noch wichtiger als die erste. Denn die vielgepriesene sogenannte Schutzfarbe hat gegenüber einer Hunde- oder Fuchsnase so gut wie keinen Wert. Der Hund oder Fuchs findet mit seinem feinen Geruch die Jungen doch, mögen sie der Umgebung noch so sehr gleichen.
In vortrefflicher und durchaus zutreffender Weise hat Thompson die Verstellungskunst eines Erdbrüters verherrlicht bei der Schilderung, wie ein Fuchs auf eine Fasanenmutter mit Jungen stößt. Näheres findet man darüber in »Straußenpolitik« S. 56, wo über die Verstellungskünste der Vogeleltern berichtet wird.
Genau wie die Fasanenmutter stellt sich die Ente krank, sobald sich ihr ein überlegener Feind nähert, um sie von den Jungen fortzulocken. Die Ente spiegelt also in der Tat sogenannte unwahre Tatsachen – ein greulicher Ausdruck, denn Tatsachen sind begrifflich immer wahr – vor. Die Bezeichnung Ente für Lüge ist also durchaus sachgemäß.
Erwägt man, daß die Enten zu den gewöhnlichsten und weitverbreitesten Vögeln angehören, und daß man dies Verstellungsmanöver alljährlich längere Zeit beobachten kann, so ist die Wahl des Ausdrucks ganz erklärlich.
Gegen diese Deutung darf man nicht geltend machen, daß den wenigsten Gebildeten die Vorspiegelung des Krankseins bei der Ente bekannt ist. Denn unzählige Ausdrücke unserer Sprache beruhen auf einer sehr genauen Kenntnis der Tierwelt, weil eben unsere Vorfahren mit ihr aufs engste vertraut waren. Ich greife ganz willkürlich einige heraus: Warum heißt bei uns der Wiedehopf der Küster des Kuckucks? Weil der Ruf des Kuckucks die ganze Gegend durchhallt wie die Rede des Geistlichen die Kirche, und der Wiedehopf, dessen dumpfer Ruf ebenfalls weithin schallt, einige Zeit vor dem Kuckuck eintrifft, wie der Küster vor dem Pfarrer.
Was soll die Redensart besagen: Das weiß der Kuckuck! Unsere Vorfahren hatten vom Kuckuck wie von einigen andern Vögeln die Ansicht, daß er die Gabe besäße, in die Zukunft zu blicken.
Das Augurenwesen der Römer beruht, wie ich früher ausführlich dargetan, ebenfalls auf diesem Glauben.
Warum nennt man im Französischen einen besonders gerissenen Menschen einen Maulwurfsfänger? Weil man gerade beim Fangen eines Maulwurfs besonders vorsichtig sein muß.
Wer von unsern Gelehrten wäre imstande, solche und ähnliche Fragen aus eigener Wissenschaft zu beantworten? Ich vermute, daß es noch nicht zehn vom Hundert sind.
Daß es übrigens selbst im Häusermeer Berlin noch Menschen gibt, die die soeben besprochenen Eigentümlichkeiten der Ente kennen, erfuhr ich kürzlich zu meiner großen Freude in einer Gesellschaft. Zufälligerweise kam das Gespräch auf die Verstellungskünste der Vogeleltern. Zu meinem Erstaunen erklärte die Tochter eines hohen Beamten, eine geborene Berlinerin, daß sie selbst einen solchen Fall vor einiger Zeit beobachtet habe. Sie sei mit ihrem Hunde auf der Chaussee im Grunewald spazieren gegangen, als dieser am »Großen Fenster« an die Havel lief, um seinen Durst zu löschen, hierbei scheuchte er eine Wildente mit Jungen auf, die eilend flüchteten. Die Mutter stellte sich lahm, um den Hund von den Jungen fortzulocken. Sie befürchtete schon, daß der Hund die Alte greifen würde, was ihm jedoch nicht gelang.
Also selbst im zwanzigsten Jahrhundert kann man sich dicht bei Berlin von der Kunst der Ente im Lügen überzeugen.