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In einem der schönsten Täler unserer Alb liegt die Oberamtsstadt Blaubeuren. Ihren Namen (Beuren, Buron, Born, Bronn-Quelle) hat die Stadt von dem herrlich blauen Quell, der hart am Fuße der Albwand in einem großen runden Kessel von etwa 130 Fuß im Durchmesser aus beträchtlicher Tiefe empordringt. Vor etwa 1000 Jahren, so erzählt die Sage, war der ganze Talkessel, in dem nun Blaubeuren liegt, bis hinab zu dem etwa eine halbe Stunde entfernten Gerhausen von einem finsteren See bedeckt. Düster bewaldete Berghänge und kahle Felswände spiegelten sich in seinen Wassern, und von den kühnsten Gipfeln am Seeufer schauten 3 gewaltige Burgen herab: Ruck, Gerhausen und Blaustein. Die Herren der Schlösser, Angehörige eines Geschlechtes, hatten vom Herzog von Schwaben die Pfalzgrafschaft Tübingen bekommen und waren nun von den unheimlichen Gestaden des Sees ins liebliche Neckartal gezogen. Nur ab und zu kehrte einer oder der andere von ihnen für einige Wochen in die väterlichen Hallen zurück, um in den umliegenden Forsten der fröhlichen Jagd zu pflegen. So hatte sich auch an einem schönen Sommermorgen der Graf Sigiboto mit einem herrlichen Gefolge in der alten Heimat eingefunden. In der Burg Blaustein, die sich auf zwei steil über dem See aufragenden Felsspitzen erhob, nahm er Wohnung. Bald erscholl durch die Wälder und über den See hin das wilde Gekläff der Rüden, der Halloruf der Jäger und der Klang der Hörner. Die Nacht fand die fröhliche Gesellschaft bei Trunk, Spiel und Sang in den Hallen der Burg versammelt.
Nun hatte der Graf auch eine liebliche Tochter, Berta, bei sich. Sie stand in der Blüte ihrer Jugend und galt für eine der schönsten und tugendhaftesten Jungfrauen Schwabens. An dem lauten Treiben von Jagd und Festen fand sie wenig Geschmack. Oftmals, wenn die andern sich lärmend im Schlosse unterhielten, schlug sie einsam den Weg nach dem Ufer des Sees ein, setzte sich in den Schatten eines alten Ahorns und schaute träumend hinauf zu den wandernden Wolken und hinab auf den See, dessen Spiegel bald im hellsten Blau, bald im düstersten Schwarz erglänzte, und in welchem Himmel, Felsen, Bäume und Schloß in wunderbarer Deutlichkeit sich malten. So saß sie an einem warmen Sommerabend wieder am stillen Seeufer und schaute hinunter in die geheimnisvollen Tiefen. Da war es ihr auf einmal, wie wenn das Wasser immer heller und heller würde und ihr Blick immer tiefer und tiefer hinabsänke. Und drunten auf dem Grunde des Sees zeigte sich ihren erstaunten Augen inmitten grünender Auen ein kristallenes Haus mit prächtigen Säulen und leuchtenden Mauern, und aus demantenen Fenstern schauten viele schöne Knaben heraus, die lockten und sangen: »Komm, Rose aller Rosen, herab ins Königsschloß, komm Schönste aller Schönen, sei unsre Königin!« Und nun fingen die Wasser an zu rauschen. Es quoll und schwoll herauf, und plötzlich tauchte aus dem Spiegel des Sees ein schöner Jüngling auf. Seine braunen Locken durchschlang ein goldenes Stirnband, und um den Leib wallte ein himmelblaues Gewand. Berta konnte kein Auge von der herrlichen Gestalt wenden. Mit freundlichem Blick trat der Jüngling auf die regungslos Dasitzende zu und berührte mit seinen Lippen ihre Stirne. Da erwachte sie plötzlich aus ihren Träumen. Das liebliche Bild war verschwunden. Über ihr glänzten die Sterne, unter ihr glitzerte der See, und der Duft der wilden Rose erfüllte die laue Luft mit Wohlgeruch.
Von diesem Tage an war Berta noch stiller und ruhiger als vorher. Sie gestand jedoch niemanden, was sie gesehen, und auch der Vater wußte nicht, wie er sich das träumerische Wesen seiner Tochter erklären sollte. So kam allmählich der Tag heran, an dem Berta ihren 18. Geburtstag feiern sollte. Der Vater wollte diesmal das Fest mit besonderer Pracht halten. So lud er denn die edelsten Jungfrauen und Jünglinge Schwabens auf den Blauenstein; denn er gedachte, es möchte vielleicht Berta einen der Ritter zum Gemahl sich wählen und auf diese Weise ihre frühere Fröhlichkeit wieder erlangen. Am Abend vor dem Geburtstage erstrahlte der Saal der Burg im hellsten Glanze. Man hatte sich versammelt, um durch Tanz und frohen Scherz das eigentliche Fest einzuleiten. Die Musik spielte, und Berta eröffnete, festlich geschmückt, den Reigen mit ihrem Vetter, einem Grafen von Calw. Hocherfreut, daß Berta sich entschlossen hatte, an dem Vergnügen des Abends teilzunehmen, trat der Vater, eine kostbare goldene Schale voll edlen Weines in der Linken, auf seine Tochter zu, ergriff sie an der Hand und sagte bittend: »Liebes Kind, schau' umher im Kreise der Ritter, und welchen du dir zum Gemahl erküren willst, dem reiche die Schale zum Trunke, auf daß wieder Freude einkehre in deinem Herzen und in meinem Schlosse.« Der Vater trat unter die Gäste zurück. Die Jungfrau aber stand da, das Angesicht glutübergossen, den Blick in tiefster Verwirrung zu Boden gesenkt. Leise zitterte die mit Wein gefüllte Schale in ihrer Hand. Wählen sollte sie unter den anwesenden Rittern, und doch gehörte ihr Herz schon dem Königssohn auf dem Grunde des Sees. Eine Träne perlte unter den gesenkten Wimpern hervor und fiel in die Schale. Da horch! Es ertönten von ferne die vollen Klänge einer Harfe. Von unsichtbarer Hand geöffnet sprangen die Türen auf, und ein braungelockter Jüngling mit goldenem Stirnband und blauem Mantel trat in den Saal. Leicht verneigte er sich zum Gruß gegen die anwesenden Gäste, und seinen feurigen Blick fest auf Berta gerichtet, sang er zu den Tönen seiner leuchtenden Harfe mit kristallreiner Stimme ein Lied. Was er sang, Berta hörte es kaum. Aber beim Klang der Stimme und beim Anblick des Sängers, da drängten sich alle die Bilder aus dem Grunde des Sees in ihre Seele: die blumenbedeckten Wiesen, die Demanthallen des Palastes, die jugendfrohen Gesichter der Knaben im tiefen Schlosse, Rosendüfte und Sphärenmusik. Marmorne Blässe und glühende Röte wechselten auf dem Gesichte der Jungfrau, und ihrer Sinne nicht mehr mächtig stürzte sie vor dem Sänger auf die Kniee, hielt ihm die Schale dar und rief: »Trink, trink und nimm mich mit dir!« Der Königssohn schlang seinen Arm um die knieende Berta, zog sie zu sich herauf und schlürfte in vollen Zügen vom Naß der Schale. Und als er sie bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, da zuckte ein blendender Strahl durch den Saal, und ein Donnerschlag erschütterte die Festen des Schlosses. Und als der Graf und seine Gäste wieder zu sich gekommen waren, waren Berta und der Sänger verschwunden. Vom See herauf aber gellte ein Schrei und in dumpfem Rauschen quollen und brodelten die Wasser aus der Tiefe, als wollten sie über ihre Ufer schäumen. Dann wurde es ruhiger und ruhiger auf dem Spiegel, und aus dem Grunde herauf stiegen wundersame Harfenklänge und Gesänge, bis zuletzt die Nacht wieder stumm wie zuvor über dem See lag. Durch das Schloß aber züngelten die Flammen des Blitzstrahls, und weithin über die Wasserfläche glitzerte der Widerschein der brennenden Gebäude. Am Morgen lag Blauenstein in Schutt und Asche.
Mehr noch als die Ruinen seines väterlichen Schlosses schmerzte den Grafen der Verlust seines geliebten Kindes. Suchend und rufend irrte er andern Tags durch die Wälder, und als er endlich nicht mehr darüber im Zweifel sein konnte, wohin seine Tochter gegangen, da brach er vor Schmerz und Jammer zusammen. »Verloren! Ewig verloren! Von der Hölle verführt! Ach, warum hat der Blitzstrahl nicht mein Haupt getroffen!« so klagte er einmal über das andremal. Das Leben hatte für den Pfalzgrafen keinen Wert mehr. Er ging ins Kloster Laichingen, das er wenige Jahre zuvor gegründet hatte, um Gott Tag für Tag auf den Knieen anzuflehen, er möge seine Tochter aus den höllischen Banden der unterseeischen Macht befreien.
Am Ufer des Sees aber ging eine merkwürdige Veränderung vor sich. Der Wasserspiegel senkte sich mehr und mehr, und die große Fläche des Sees zog sich zu einem kleinen Kessel zusammen, aus dem in munterem Laufe ein rasches Flüßchen abfloß. Zwischen den düsteren Berghängen und Felsschroffen entstand ein liebliches Tal, bedeckt mit saftigen, grünen Wiesen, und wenn die Sonne darüber hinleuchtete, war es anzusehen wie ein Garten Gottes.
Als der Graf von der wunderbaren Umwandlung erfuhr, da beschloß er, unmittelbar neben dem Blautopf ein Kloster errichten zu lassen. Hier fuhr er nun fort, den Himmel um Erlösung seiner Tochter zu bitten, und um die Mitternachtsstunde und an hohen Festtagen vernahm er oft seufzende und klagende Töne, die aus der Tiefe des Sees emporzusteigen schienen. Am Fest Mariä Himmelfahrt lag Graf Sigiboto wieder auf den Knieen vor dem Bilde der Gottesmutter und betete. Draußen brauste der Sturm und trug klagende Klänge vom See herüber. Sie schnitten dem Vater durch die Seele, und blutige Tränen benetzten den Saum am Kleid der Maria. Da öffneten sich auf einmal die Lippen des Gnadenbildes und sprachen die süßen Worte zu dem im Gebet Knieenden: »Sie ist gerettet.« Vom See her aber scholl ein jauchzender Jubel auf. Am andern Morgen fand man den Grafen Sigiboto tot vor dem Betaltar. Im Chor der Klosterkirche liegt er begraben.
(Nach »Vorzeit und Gegenwart« von P. Barth.)