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Nicht gar weit von der Hornisgrinde, dem höchsten Punkte Württembergs, stand in früheren Zeiten der Schlangenhof. Er hatte seinen Namen von den vielen Schlangen, die einst dort zu sehen waren. Die Tiere betrachteten Haus und Hof als ihr Eigentum. Sie suchten die Betten und Kästen auf, bewegten sich ohne Scheu in Zimmer, Kammer und Küche und fühlten sich besonders wohl im Stalle, wo ihr König wohnte. Oft mußten die Mägde die Schlangen armvollweis aus der Krippe nehmen, ehe sie dem Vieh Futter reichen konnten. Den König erkannte man an einer güldenen Krone, die er auf dem Haupte trug. An warmen Tagen suchte er zuweilen den nahen Wald auf; dann begleiteten ihn alle Schlangen. Bei der Heimkehr blieb keine zurück. Mit dem Vieh standen die Schlangen im besten Einvernehmen. Die Kühe duldeten es, daß sie an ihnen emporkletterten und sich ein warmes Lager an und unter ihrem Körper aussuchten. Besonders zutraulich waren sie gegen die Kinder des Hauses. Zu ihren Mahlzeiten stellten sie sich gerne ein und schlürften aus derselben Schüssel. Zuweilen kam es vor, daß die Gäste nur Milch und kein Brot wollten. Dann schlugen sie die Kinder mit dem Löffel scherzweise auf den Kopf und sagten: »Friß auch Brocken, nicht lauter Milch!« So führten die Schlangen ein behagliches Leben; niemand durfte ihnen, so lange der Hofbauer lebte, ein Leid zufügen. Zum Dank dafür säuberten sie den Hof von den Mäusen und allem andern Ungeziefer.
Nach dem Tode des alten Bauern kam es aber anders. Der neue Besitzer wollte eine solche Gesellschaft nicht bei sich dulden und erschoß den Schlangenkönig, als er eben einmal wieder aus dem Walde zurückkehrte. Am andern Morgen waren alle Schlangen für immer verschwunden. Aber auch das Glück war mit den Tieren ausgezogen. In der Folge stellte sich allerlei Ungeziefer auf dem Hofe ein, und bald mußten die Gebäude abgebrochen werden. Später ist an derselben Stelle ein neues Hofgebäude aufgeführt worden, das aber einen andern Namen trägt.
(Nach J. J. Hoffmann von Bolz.)