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Ein Mensch aber war in Graz, der war noch mehr in jenes Alleinsein geschlossen, dessen Anblick frösteln läßt. Und er machte einen noch magischeren Eindruck auf einige von den Jüngern des Herrn Rabesam, als der Meister selbst, sobald sie inne wurden, wer er sei.
Das war der jüngere Bruder des Herrn Lukas, der menschenscheue Joachim.
Ephraim Nußriegl war von den neuen Zwölfen der einzige, der den verschollenen Menschen kannte. Er und Vollrat, dem Herr Lukas nicht sehr bequem war, hielten sich lieber zu Joachim. Das waren drei Menschen, so unveränderlich und in sich selber beruhend, daß keiner dem andern was ablernen konnte oder wollte. Seit aber Lukas Rabesam ein Halbdutzend seiner Jünger hinter sich her nach Graz gezogen hatte, kamen dem verbitterten Hagestolz auch offenstehendere Naturen in die Nähe; Menschenkinder, die immer gerne lernten und sich ändern, vertiefen oder bessern wollten. Wie leicht geneigt Frugiatti und Mitrophanow waren, hinter einem sensationellen Charakter dreinzulaufen, hatte man ja erlebt. Aber auch Sellier war eine Jüngernatur; der kleine Däne Krögensen auch. Der suchte überall etwas zum Verehren und Anbeten; Herr Lukas Rabesam war ihm nicht genug; sein Himmel mußte reich besetzt sein wie der katholische.
Unveränderlich treue Naturen waren Liesegang (trotz seiner Herrn Rabesam zuliebe unternommenen damaligen Heilandssuche), Hatchet und die Schwedin, die einen ungemein gewinnenden, beruhigten Charakter hatte. Flanetzky mochte einsame Menschen nicht; sie waren ihm unheimlich. Er hatte sich an den eleganten jungen Herrn von Karminell angeschlossen, dem er gestand, daß er nur aus Langeweile und in einem kulturellen Ausfüllungsbedürfnis hinter Herrn Rabesam her sei; die ewige Heilanderei würde ihm nun aber auf die Dauer langweilig; hingegen gefiele ihm Fräulein Magelon sehr.
Dem jungen von Karminell, der bei dem Mädchen nichts zu gewinnen hatte, war es ganz recht, daß er jemanden fand, mit dem er von Magelon schwärmen und über sie schelten konnte; so schlossen sich diese beiden zusammen und wurden in den vielen reizenden Frühlingsstuben der herrlichen Ferial- und Frühschoppenstadt, welche Graz ist, meist zusammen gesehen. Sie aßen sehr viel belegte Brötchen und erörterten Vernunft und Unvernunft der Heilandsfrage dabei.
Der alte Tierarzt Scheggl, der nie ein Wort redete, war unverbrüchlich bei seinem angebeteten Freunde Lukas. Bohnstock schloß sich mit alter Innigkeit Kantilener an. Aber Sellier, Frugiatti, Krögensen und Mitrophanow hatten sehr bald den düsteren Bruder des Herrn Lukas entdeckt und verfolgten seine einsamen Gänge mit einer wahrhaft diebischen und verpönten Liebe und Neugier.
Zu viert gingen sie oft hinter ihm drein, wie Backfische hinter einem angebeteten Sänger, auf hundert Schritt und mehr. Sie berieten, wie dem seltsamen, braunen, hagern Manne in seiner einsamen Seele zumute sein könnte. Der ging ahnungslos vor ihnen dahin, lang, etwas vorgeneigt, nachdenklich, schwermütig versunken, braun, glattrasiert, elegant.
Er mochte gerade fünfzig zählen und war vierzehn Jahre jünger als sein von Gott erfüllter Bruder, dessen Meinungen er mit einiger Ironie gegenüberstand. Dennoch konnten die beiden nicht voneinander lassen. Wenn man Joachim überhaupt in Gesellschaft sah, – das war alle Jahre kaum dreimal der Fall, – so ging er mit Lukas, wo dann in der Regel beide schwiegen. Sonst war er immer allein, ganz verschlossen in sich. Das Rauschen seines düsteren, absagenden Blutes war die einzige Stimme, die er auf Erden hörte. Er hörte sie gern; er war zufrieden mit dieser Geselligkeit. Denn er hatte ja für Landschaft das ganze ungeheure Rabesamsche Empfinden. Und Landschaft genießet, außer den Verliebten, wahrhaft nur der vollkommen Einsame.
Wegen dieser Landschaft konnte er von Graz nicht fort, obwohl dort fürchterliche Nachrede hinter seiner leicht gebeugten Erscheinung ging. Seine langen Beine brauchten Straßen, die tagelang hoch über der übrigen Welt dem hellen Himmel entgegenliefen, und die hat nur Graz. Dort, namentlich im Osten der Stadt, gehen alle Straßen auf langen Hügelrücken dahin, und wenn dort einer auch von früh bis in die Nacht hinein wandern möchte, er sähe immer aus der Höhe die ganze steirische Welt weit um und unter sich, ohne je in die Taltiefen hinab zu müssen. Das geht so von Graz über die Ries und Hönigtal nach der Laßnitzhöhe und von da gleich nach drei, vier Seiten dahin, immer in blauen Höhen, immer mitten im Himmel. Keine Anstrengung des Klimmens hemmt die füllig drängenden Gedanken oder das tiefe Weitegefühl. Es ist wirklich ein Himmelreich schon auf dieser Erde für den, der gänzlich zu verschwimmen versteht mit dem Duft der Ferne.
So war es also eine dankbare Aufgabe, hinter Herrn Jochen dreinzusteigen. Der entzückte Frugiatti, der feine Sellier, der fiebrige Mitrophanow und der seraphische kleine Däne lernten auf diese Weise Landschaften kennen, von denen kaum der Einheimische weiß. Zu viert gingen sie über die hellen Höhen und oft faßten sie sich vor Ergriffenheit unter den Armen, um eins zu werden, wenn die schlanke, dunkle Silhouette dort vor ihnen stehen blieb und hinaus ins Land sah. Da wußten sie, daß ihn etwas bewegte, und sie waren es ebenfalls. Einmal war es Schloß Vasoldsberg, das wunderbar farbig und ferne zwischen den Bäumen herübersah. Besonders oft aber brachte der mattblaue Riegel vor dem Süden, der lange Berg von Wildon, den ferne Wandelnden zu bewunderndem Stillhalten. Der war auch die stille Liebe der Vier geworden, seit sie inne wurden, wie Herr Joachim ihn immer wieder ansah. Für Frugiatti war er überdies eine Station nach Italien; und da für die beiden Nordländer Italien ein Religionsbegriff war, so wurde der schöne Berg, der bald ganz zartblau und duftig in seinen Wäldern sann, bald drohdunkel vor seiner Südebene lag wie der Sagenhund vor dem Schatze, ebenfalls zum Symbol, zur Gebetsstätte, wie die Ries. Frugiatti wollte natürlich hin; aber da widersprach der feine Franzose: »Lassen Sie ihn ahnungsvoll und unberührt, wie er ist,« bat er. »Wenn Sie dort sind, stehen Sie unter gewöhnlichen Bäumen. Hier ist er geheimnisreich und ferne. Seine Ferne ist eben seine Gabe. Er ist und bleibt uns ›der Riegel vor dem Süden.‹ Ich weiß nicht, ob das mit Herrn Joachim nicht auch so sein könnte, und muß sagen, daß ich lieber so hinter ihm hergehe, als daß ich ihn kennen lernen würde.«
»Sie sind sehr bescheiden,« sagte Frugiatti und seufzte. Herrn Joachim kennen zu lernen war ohnedies unmöglich. Er verbat sich jede Vorstellung; Nußriegel wußte das gut und hatte es ihnen schon gesagt. Aber Nußriegel konnte ihnen wenigstens von ihm erzählen; von dem lastenden Verdachte des Vatermordes, von seiner Menschenscheu, von seiner Philosophie. Und lange Abende saßen die Fünfe in einem kleinen Gasthause beisammen und hörten Geschichten von Herrn Joachim, dunkle Geschichten. Joachim hingegen fragte nur selten und kurz nach dem »Klub der Aussterbenden«, wie er die Abendkinder nannte. Er interessierte sich für sie nicht, weil sie das Opfer und die Menschenliebe über alles stellen mußten. Das war ihm nicht sympathisch. »Einsam sind wir geboren und müssen einsam sterben,« sagte er, und Nußriegel, der ihnen das erzählte, fand Größe in diesen Worten. »Sehe jeder zu, wie er sich durch dies Alleinsein findet. Niemand hat ein Recht auf den andern, und mein Bruder ist ein Einbrecher in die Seelen, wenn er das Opfer verlangt. Die ganze Moral ist, niemandem Übles zu tun und unschädlich zu leben. Ein Gesetzgeber, der Positiveres verlangt, ist ein Vergewaltiger am Seelenfrieden. Man hat keine Moral zu stiften für andere: Noch einmal, das ist Einbruch. Man hat eine Glückseligkeitslehre zu stiften, basta.«
Das gefiel den Vieren unbändig. Das gefiel auch Herrn Flanetzky, Herrn von Karminell, gefiel vor allem der interessanten Verene Magelon. Und binnen kurzem war auch sie angesteckt von der Schwärmerei für den unzugänglichen Hagestolz und machte die weiten, himmelblauen Spaziergänge hinter der abseitigen und dunklen Silhouette dessen mit, der sich so gänzlich versagte.
Wahrlich, jetzt waren Magelons Tage voll des Wunders. Erst der cherubinisch uneheliche Papa ihres kleinen Anbeters, dann ein veritabler Religionsstifter, zuletzt dessen Antichrist und Widersacher, der adlernasige Misanthrop, der ihnen Ketten vor seine Türe legte, und dem sie nachliefen, als sänge er das Zauberlied des Rattenfängers von Hameln!
Es war prächtig! Verene Magelon genoß von allem: Sie ging zu Herrn Nußriegels Erzählungen in die Frühstücksstube, wo ihr dann die beiden jungen Herrn von Adel gleich den Hof machen konnten; dann spielte sie mit ihnen Tennis. Hernach machte sie einen kleinen Kurs bei dem unendlich sanften Herrn Rabesam durch, der rührend und felsenfest glaubte, daß die ganze Welt bald eins sein würde im unermeßlichen Sehnsuchtsschrei nach Christo, dem Begrabenen, damit er wieder lebe. Sodann kam das Spielen mit dem Feuer, die prickelnde Lust, den reinsten der Jünger, Herrn Kantilener, zu verführen und verliebt zu machen und zuletzt die halbtagelangen Gänge über die weiten, weiten Höhen, voll Phantasie, hinter Herrn Joachims fernem, herbem, unerreichbarem Umriß! Das war doch einmal ein Leben: Fein, fein!
Wenn sie sich diese beiden, die Herren Joachim und Kantilener, kirre machte, dann hatte sie mindestens den Rekord der Frau von Karminell erreicht. Denn der alte Herr Rabesam war ihr schon gut; das merkte sie; mit den anderen hatte sie es leicht. Hatchet begann verlegen und unsicher zu werden, wenn er sie sah; er, den sonst nichts aus seiner Ruhe brachte! Auch der kleine Däne mit dem schlichten, dünnen, blonden Haar und der langen spitzen Nase blickte sie immer unbeschreiblich blaßblau an. Merkwürdigerweise blieb der Franzose ihr gegenüber von der bestimmtesten Höflichkeit. Er war vielleicht selber zu schön und machte sich also nicht viel aus Schönheit, wie ja auch sie von Jugend und von Schönheit ziemlich unberührbar blieb, die beides selber hatte. Sie liebte sehr die markanteren Männer; die nachdenklich gewordenen, die man mit leiser Sorge und Rührung zu betrachten beginnt, während sie selber, abweisend und verwehrend gegen alle Dummheiten, einsame Wege gehen.
Verene Magelon hatte noch nie wirklich geliebt. Jetzt aber zitterte ein Anfang davon in ihr. Kantilener war es nicht; der war zu kindlich, zu weich. Ach Gott, opferfähig. Das imponierte ihr gar nicht; sie hätte ihn nur gerne einmal wegen Frau von Karminell ausgeprüft.
Aber dieser Joachim Rabesam mit seinem grauwerdenden Haar und der bronzebraunen Unbewegtheit seines harten Antlitzes brachte sie in Unruhe. Immer war er wie weit fort; immer hielt er sich stolz, auch wenn er nachdenklich vorne übergebeugt war. Wenn er aber in die Fernen blickte, dann sah er aus wie der Herr dieser Weite oder wie Satan, der sein Reich überblickt.
Wundervoll! Man mußte ihn unbedingt nahekriegen!