Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Erde wird farbig.

Das nächste Ereignis war auch wirklich zum Kobolzen: – Kantilener in Uniform!

Kantilener, mit dem fast unabschneidbar zu denkenden, langen Blondhaar, das sogar jetzt noch, sehr vorsichtig gekürzt, unter der Kappe des Assistenzarztes elegisch genug herausstand!

Kantilener mit einem Säbel an der Seite, aber mit lyrisch geneigtem Haupte! Kriegerisch und dulderhaft, begeistert und wehmutvoll zugleich.

Kantilener in hechtgrauer Heldentracht! Gelbe Gamaschen! Verene Magelon lachte bis zu Schmerzen, als sie ihn erkannte, und nahm sich vor, den neu Verkleideten auch wieder mal reden zu hören. Geschichten vom lieben Gott!

Ach, alles kam hechtgrau mit eben so schönen gelben Ledergamaschen zu ihr. Herr von Flanetzky war der erste. Er war gänzlich Offizier und wußte gar nicht mehr, daß er sich für das Jenseits, dem er gerade jetzt praktisch nähertreten wollte, jemals interessiert hatte. Er war sehr begeistert.

Als dritter trat auf Liesegang, ein Landsturmfeldwebel. Er hatte einen ganzen Zug und er machte Offiziersdienst. Sein Eifer kannte keine Grenzen.

Vollrat ging auch, wennschon etwas vernachlässigt, in Uniform umher; er war Regimentsarzt, gestand aber den näheren Freunden unumwunden, daß er sich nur in einem der naheliegenden Spitäler unentbehrlich machen würde. Er sagte aber ganz trotzig: »Mit dem Völkerunsinn habe ich keine Gemeinschaft. Jede Nation besteht aus neunzig Prozent Dummköpfen und zehn Prozent verblendeten Ideologen. Mein klares Hirn hat nicht den geringsten Anteil an den allzulauten Aufstellungen beider Teile!«

Liesegang, der nur die Kommißuniform und nie was Feineres trug, war empört über ihn.

Der kleine Sellier war auf Sommerferien in Frankreich; dort behielt man ihn sogleich. Briefe an ihn kamen ganz unberührt und kühl zurück. Mitrophanow war einen Tag lang hitzig aufgeregt und wollte den Abendkindern begreiflich machen, daß der Slawe allein fähig sei, das Christentum gegenüber dem Geschäftsengländer und dem Kanonendeutschen zu erhalten!

»Der Russe,« dozierte er, »der Russe ist, wie der Südösterreicher, ein halber Orientale! Beide haben aber infolge ihrer empfänglicheren Art, viel mehr vom Westen in sich aufgenommen, als der deutsche Norden. Eine Seelenrettung wäre es, wenn solche Rassen die Lebensführung Europas diktierten! Und nicht der Ziffernmensch! Und nicht der Unteroffizier im Generalsrock!«

»Aber mit niemand ist mehr zu reden!« Er erblickte, statt der Antwort, selbst bei den bisher Christlichsten meist einen schwungvoll ausgestreckten Arm, mit einer Hand daran, in der eine Mordsohrfeige zu träumen schien. Als es dann dermaßen brenzlig wurde, daß man einsah, diesmal ginge es nicht allein gegen Serbien, da verschwand er; – auch er in geheimer Begeisterung für den Krieg.

Krögensen erzählte aufgeregt, daß ihm Mitrophanow gestanden hatte, in Belgrad habe er erfahren folgendes: Nikolai Nikolajewitsch, der Panslawistenfürst, hätte den dortigen Machthabern und Offizieren angesagt: »Treibt es aufs äußerste! Stinkt zum Himmel vor Verachtung Österreichs und vor Trotz! Wir helfen euch; wir brauchen es!«


Darauf hatte bloß ein Rotzjunge eine Pistole losgeschossen, und aus diesem Pistolenlaufe heraus wurde eine ganze Welt in Flammen gesetzt. Wenn der hohnvolle Herr Joachim der liebe Gott gewesen wäre, – einen grimmigeren Witz hätte auch er nicht machen können!

Mitrophanow galt fortab als russischer Spion (der er durchaus nicht gewesen war) und alle seines Umganges schämten sich wütend, ihm aufgesessen zu sein. Denn als Rußlands Kriegserklärung kam, da glaubte kein Mensch mehr, daß ein Russe fähig sein könnte, Liebe und Erlösung und Opfer zu empfinden! Liesegang namentlich glühte vor Haß und Zorn. Er hätte Mitrophanow augenblicklich erwürgt, wenn der sich wieder gezeigt hätte.

Frugiatti war begeisterter Freund Österreichs! Man vertraute ihm als Verbündeten unbedingt. Es war ja auch selbstverständlich, daß der Italiener, der an der Adria vom Südslawen aufgefressen wurde, das Slawentum fürchtete. Später jedoch verschwand er ebenso zu den Seinen wie der Franzose und der Russe.

An reines Menschentum dachte keiner in diesen Tagen. Er wäre auch durchgeprügelt worden.

Selbst John Hatchet hatte nicht die mindeste Lust, an Frieden zu denken. Ihm gefiel dies wilde, bunte Rüsten unbändig.

Nur der sonderbare Nußriegel nahm Abschied von Herrn Rabesam, von Vollrat und Joachim, den drei Menschen, mit denen er allein auf Erden verkehrte.

»Adieu! Ich bin Zigeuner, also nationlos.«

Und er entzog sich mit kaltem Antlitz der allgemeinen Opferhitze und verschwand mit einer Zigeunerbande, welche das gleiche, nervöse Vorgefühl hatte wie er, über die Schweizer Grenze.

Wer in diesen Tagen allein war, so allein und vergessen und verachtet wie ein rostiger Wetterhahn auf dem Turm einer gesperrten Kirche, das war Lukas Rabesam. Nur der alte Tierarzt Scheggl kam manchmal ganz arm, ganz scheu und verzagt zu ihm, vermied aber vom »großen, entstehenden Unrecht an der Seele« zu reden, wie Herr Lukas sich ausdrückte. Begann Rabesam davon, so wehrte er gleich ab. »Du,« sagte er ängstlich zu seinem sonst verehrten Herrn Lukas, »der Krieg is a Sach für sich. Lassen mir's erst a bisserl angehn; nachher redn ma weiter.«

In den Baumgängen des Stadtparkes gingen zwei Menschen verlassen und unruhig hin und wieder. Jeder allein.

Herr Lukas und sein Bruder Joachim.

Wenn Joachim dem seelenvoll versunkenen Gesichte seines alten Bruders zu oft begegnete, dann machte er lange Schritte und zog hinaus über die Hügelweiten, wo die Grillen höhnten, als hätten sie den Fall Jerichos, Trojas, Jerusalems, Roms und den Dreißigjährigen Krieg mitangesehen. Er behauptete, ihm sängen sie immerzu: »Seid's, seid's, seid's wiedermal drankriegt, drankriegt, drankriegt«. Und am Abend quarrten ihm die Frösche: »Quatsch, Quatsch, Quatsch!«

Joachim Rabesam lachte, wie damals, als das Gewitter die Stadt beinahe zerstört hätte.

Mochten sie. Ihn hatten die Menschen ausgeschlossen, als sie ihm seine Ehre abschnitten. Er war keiner von den ihren mehr. Ob sie ihn für weniger hielten oder für mehr, ging ihn nichts an. Staatlos, zeitlos trug er seine einsame Seele durch eine Welt, »in die er durch Zufall geraten war.«

Er war aber doch der Bruder des Herrn Lukas. Denn auch den mit seinem armen, weißen Haar trieb es staatlos und zeitlos durch eine Welt, die ihm mit einer Einhelligkeit widersprach, daß seine Theorie, Gott sei eine Gemeinsamkeitsströmung, ihm sehr merkwürdige Begriffe vom lieben Herrn allen Lebens zutragen mußte.

Der Franzose und der Russe waren verschwunden; Hatchet erörterte furchtlos Recht und Unrecht beider Parteien, war aber ebenfalls für das große Schlachten. Krögensen war ergriffen und willenlos hingerissen von dem reinen Sturmhauch der Begeisterung ringsum. Auch beide Amerikanerinnen bejubelten die great sensation. Nur eine blieb trotz ihrer offen ausgesprochenen Scheu vor Rußlands rohen Ziffern so ruhig, daß es bei der Gewalt der Majoritätsströme, die jeden angriffen, zum Staunen war. Das war die Schwedin.

Eines Tages begegnete sie dem armen, alten, abgesetzten Herrn Lukas im Stadtparke. »Ach, Meister; was macht denn die Welt jetzt?«

»Sie, liebe Halfström? Spotten Sie meiner?«

»Gott behüte mich, Meister. Ich glaube Ihnen immer noch, daß die Erde ein Traum Gottes ist. Aber sie ist ein Fiebertraum Gottes. Ein Fiebertraum, lieber Meister; oder ich bin selber irre!«

»Geht denn nicht meine Heilung auf das eine Rezept hinaus: Stirb Du dieser Erde?« fragte Herr Lukas mit hellen Augen.

»Ach,« sagte das Mädchen traurig: »Die, welche sich selber niemals sterben können, fassen Ihr Rezept sehr sinnlich auf. Welche Lust, sich und andere umzubringen! Und dabei sage ich mir noch: Wenn mein Land so am Halse gepackt würde wie dieses hier, ich risse mich von meinem eigenen Herzen los: ja, ich sähe seinen Waffenglanz mit Wonne!«

»Also auch Sie«, sagte Herr Rabesam bedrückt.

»Meister«, rief die Schwedin mitleidig.

Sie ging mit ihm, den sie fortan wenig mehr allein ließ. Rabesam schritt mit seiner durch nichts zu trübenden Innenhelle neben dem blonden, schönen, aufrechten Mädchen, das ihm sehr oft sorglich den Arm unterschob und ihn führte.

Sie war die einzige Treugebliebene.

Sonst kamen bloß Hilfesuchende. Und die schadeten dem alten Herrn noch mehr.

Zuerst kam ein Serbe, der viel Mißverständnis und Verfolgung zu leiden hatte, zu Herrn Rabesam, das anderemal ein Belgier, und dann wieder ein von Mister Hatchet empfohlener Engländer. Als wäre Herr Rabesam Gesandter einer neutralen Macht; er, der bloß der einzige hilfreich gebliebene Mensch in der Stadt war. Er strengte seine geringen Mittel über Gebühr an und half, was er konnte.

Aber eines Tages waren an dem von ihm bewohnten Häuschen, das ohnedies ganz verkrochen und bescheiden an der Elisabethinerstraße in der Vorstadt Gries gelegen war, alle Fensterscheiben eingeschlagen.

Der arme alte Herr las ja gar keine Zeitungen; sonst hätte er wissen müssen, wie einige kleinere Blätter, deren Beruf ja meist die Züchtung irgend eines Fanatismus zu sein pflegt, schon seit Wochen mit Nadelstichen nach ihm hingestippt hatten. Er war der Vaterlandslose, der Leugner staatlicher Ordnung, der Feind gesunden, zweckmäßigen, ja jetzt sogar heilig gewordenen Volkszusammenschlusses und vor allem ›kein Deutscher‹.

In Feindeslanden ging das ebenso; überall war verfemt, wer allein Mensch zu sein begehrte. Und dort war es, wo ein Dichter sagte: »Ein fürchterlicher Haß ist über die Erde gekommen, der alles entzweit. Aber, in einem sind sie alle einig: Im Hasse gegen den, der nicht mit ihnen hassen will!«

Wäre die Halfström nicht gewesen, der alte Herr wäre auf der Gasse von jungen Menschen zur Rede gestellt, vor ein Studententribunal gezerrt – vielleicht mißhandelt worden. Aber das ernste, blonde Mädchen mit der stolzen Haltung war wie ein Schutzengel, der überallhin Scheu auswehte. Sie ließ ihn nicht von ihrer Seite. Als seine Fenster zerschlagen worden waren, und der Besitzer ihn erschrocken bitten ließ, sein armes Häuschen nicht länger in Gefahr zu bringen, da nahm sie Herrn Lukas zu sich, und neben ihren hellen Augen und ihren ruhigen Bemerkungen lasen sich die hundert drohenden und schmähenden Briefe, von denen ohnedies neun Zehntel nicht mit Namen gezeichnet waren, viel weniger schmerzlich. Herr Rabesam wurde davon nur sehr, sehr nachdenklich.

»Ich überlege, ob Ihr bitteres Wort, liebe Halfström, nicht den Kreis meiner Bilder, der so abgeschlossen und beruhigt schien, erweitert hat. Sie sprachen in Ihrem zornigen Schmerze aus, daß dieses Leben ein Fiebertraum Gottes sein könnte. Daß Gott krank wäre; krank an den Menschen, lehrte ja ich Sie, und daß jeder Tod ihn genesen macht. Ich überlege, liebe Halfström, ob wir Menschen nicht Pestbakterien Gottes sind, die nur leben können, wenn ihr Befallener stirbt, und die sterben müssen, wenn sein Leben sich durchsetzt. Ein Bild, ein Symbol ist es immerhin.«

Die ruhige Halfström lächelte herb. Das war Rabesams erster bitterer Gedanke, sein erstes Scheltwort gewesen, seit sie ihn hörte und kannte.


 << zurück weiter >>