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Jener erste Schnee fiel sehr dämpfend über Gemüter, die zart waren, und über solche, welche schon zuviel gelitten hatten. Im täglich bedruckten Holzpapier rasten noch die Begeisterungsstürme der dauerhaften Ideale ›aus eiserner Zeit‹. In den Seelen begann es zu fragen: Wozu? Wir sollten doch einstmals Menschen werden, als Vater und Mutter verliebt waren?
Kann man denn der sehr nachdenklichen Beschäftigung reinen Menschentums nicht mehr folgen? Und wenn man schon raufen muß, muß das gleich mit hunderttausend multipliziert werden? Ist die ganze Weisheit und das Glück, einem Staate anzugehören, die, daß das Elend wie in einer Aktiengesellschaft zurückgehalten, zu hundert Prozent verzinst und dann mit einmal auf glückliche Erben losgelassen wird? Ist also der Staat so heilig?
Jede Zeit hat ihren furchtbaren Irrtum.
Und der erste Schnee fiel; sachte, wie Mutterhand sich kühl auf die heiße Stirne eines Kindes legt.
Die Menschen wurden still; aber so viele Zeitungen druckten ja immerzu noch fette Überschriften. Mehr denn je. War es denn so arg? Die Leichtverwundeten kamen in ihre Kinos zurück und waren geheiligt, auch wenn sie sich betranken. Das stand überall so zu lesen. Im Buche des Leides aber las nur, wer dazu verdammt war, blasse Gesichter entziffern zu können. Die Menschen, die hoch obenhin standen, lobten sehr »den Staat«. Die kleinen Leute aber hatte eine entsetzliche, angstvolle Verwunderung ergriffen. Sie, die allein dazu geweiht sind, Menschen zu sein und zu bleiben, konnten nicht recht zur Höhe der Herausgeber ihrer Journale und zur Höhe der Strafrechtslehrer empor. Sie waren ungemein bescheiden geworden, nachdem sie viele Monate lang ihr Hurra mitgeschrien hatten. Gott wob in ihnen; ganz leise. Gott ist immer das Kind. Wer redet, hat Gott verloren. Gott ist die Ahnung, das Leid, die nachdenkliche Einsamkeit, Gott ist das ewig Verlassene.
Ewig verlassen sein. Das Volk kannte das – von fast all seinen Führern her. Aus ihm allein konnte sich des alten Herrn Lukas Rabesam blutgewordener Angstschrei ringen: »Kommt Er denn nicht? Künden ihn keine Zeichen an?«
Die ersten Zeichen und Wunder waren freilich sehr oberflächlicher Natur. Die ganze Stadt redete davon, daß die bisher nutzlose Verene Magelon Krankenpflegerin geworden war, und wer es immer noch nicht glaubte, der sah es unter dem Burgtor im Profil und beim Luegg von vorne, reizend, in Gummidruck ausgestellt!
Gegen die Photographie kam niemand mehr auf.
Es hatte auch die blonde Schwedin wirklich zu entzückend ausgesehen als Schwester vom Roten Kreuz! Verene Magelon wollte unbedingt denselben Eindruck machen. Vielleicht blickte jetzt sogar Herr Joachim sie erstaunt und gerührt an.
Aber die Schwedin hätte nie auch nur den Gedanken zu fassen vermocht, daß man einen Zustand seines Herzens photographieren lassen könnte.
Das merkte übrigens fast niemand.
Verene Magelon sah entzückend aus und also ging sie zuversichtlicher ihren allabendlichen Weg unter das wunderbare, sehr stimmungsvolle und düstere Paulustor, wo die seltsame Geige des Gefangenen immer noch einem kleinen Kreise von unverbesserlichen Verehrern des ewig Menschlichen seltsame Gedanken einspielte. Ganz und gar nicht staatsnützliche Gedanken.
Dort stand sie sehr oft. Einmal wegen der Sensation; dann, weil wirklich sonderbare Menschen, die man sonst niemals sah, dort zuhörten; nur zwei oder drei. Und endlich, weil Herr Joachim immer wieder dorthin kam! Das war etwas, was ihn anzufassen schien. Diese Geige lockte ihn, als erster Köder, der überhaupt bei ihm verfing, zu Menschen. Man konnte direkt neben ihm stehen bleiben, und er entzog sich einem nicht; Verene Magelon fand, daß er leicht nach Eichenholz roch und war begeistert. Nie war sie ihm so nahe gekommen.
Und da ertrotzte sie auch seine Bekanntschaft; sie als erste! Niemand gelang das sonst; Artur war an der Front, ohne Joachim kennen gelernt zu haben. Dem schönen jungen Weibe gelang es allein.
Die Menschen dort wußten nämlich nicht, daß sie die Geige des Gefangenen zum letztenmal gehört haben sollten. So war eines Tages die seltsame kleine Versammlung umsonst dort.
Es suchten das Gratiskonzert: ein alter, pensionierter Priester, der im Ansehen an Herrn Lukas erinnerte, eine bescheidene Frau in sehr schlichter Trauer, ein neu einberufener, hohlbrüstiger junger Mensch in Uniform und noch so ein paar Kümmernisse. Sie warteten. Scheu. Aber die Geige schwieg …
Da schlich einer nach dem andern weg, als wäre nun wieder so ein Weisheitsspruch erfolgt, den sie eben gar nicht begreifen konnten. Mit jenem fürchterlichen, blassen Schweigen, das ganz weiß und ohne Schrift ist, wie jene leeren Stellen in den Zeitungen, gingen sie fort.
Zu wem ging dieses Schweigen? Und wohin war die Geige gegangen?
Joachim Rabesam blieb der letzte, der immer noch wartete auf die einsame Stimme, die aller Ordnung so sehr entgegen war. Verene Magelon blieb deshalb auch; ihr war bänglich. Sie wußte, es war bedeutsam, daß nun auch diese letzte Feindesgeige schwieg.
Und sie fuhr zusammen, als Joachim seine grauen Augen auf sie stellte und, vielleicht durch das Schwesternkleid abgeblendet, zu ihr sagte:
»Wer hat wohl seine Tatze auf dieses Geigenspiel gelegt?«
»Der Staat,« sagte Verene Magelon zitternd.
Da sagte der Mensch ein schreckliches Wort, das gerade in diesen Tagen doppelt peinlich wirkte: »Der Staat ist immer der größte Schuft! Der beste Staat ist ein gerechtes, einsames Herz und ein guter Revolver.« Er sah zu Boden und murmelte: »Mir möchte man auch mein Geigenspiel legen!«
Dann streifte er sie noch einmal ganz kurz und schien sich an ihrem Entsetzen zu weiden. Solch ein Wort! Ihm aber schien leichter geworden zu sein, als er fortging nach solcher Äußerung, auf welche Standrecht erfolgen konnte.
Nun, auch Magelon ging getröstet hinweg. Die schweigsam gewordene Geige? Aber jetzt spielte vielleicht sie weiter – im Herzen des Ungewöhnlichen, des nicht zu Zähmenden. Des prachtvoll freigebliebenen, wilden Tieres.
Wirklich! Joachim Rabesam dachte fortab oft an die reizende, verschüchterte Krankenschwester.
»Ich hätte das so nicht sagen sollen,« dachte er sich. »Man wird wieder viel zu reden haben über mich. Vielleicht komme auch ich in eine krachnationale Zeitung wie mein Bruder. Oder vors Standrecht. Na ja.«
Am andern Tage begegnete ihm Verene Magelon im kalten Stadtpark, war schneeweiß in ihrer Pflegerinnentracht, wie die übrige Welt und machte ihm, als sie sah, wie sie sich in seinen erstaunten und erinnernden Augen spiegelte, einen kurzen und angstvollen Knix. Sie fror und mußte schnell ins Spital.
Ihn rührte das herzige Samariterschwesterlein. Er merkte sie sich.
»Das liebe Ding,« sagte er. »Sie hat mir's nicht übelgenommen.«
Verene Magelon begann zu sinnen; über sich, über diese Welt, die in Wahnsinn aufloderte; über die vielen, die sich opferten und Helden genannt wurden und über die wenigen, die auch jetzt ein eigenes, abgegrenztes Menschentum zu führen versuchten. Man sprach viel Übles über jene, je einsamer sie waren. Warum gefiel ihr gerade der Allereinsamste so sehr?
Sie war dessen sicher, daß sie solche Einsamkeit niemals zu teilen vermochte. Sie gehörte der ewig wechselnden Welt an; alles mußte sie haben, sonst hatte sie nichts. Und dennoch dies tiefe Hingezogensein zu dem, der an der Welt vorüberging?
Sie glaubte, daß Joachim Rabesam nicht einmal zur Kunst ein sehr starkes Hinneigen hatte. In den Theatern war er selten zu sehen; eher noch im Konzertsaal. Ganz in sich selber eingemantelt war dieser Mensch. Und sie wollte in diesen verwehrten Kreis dringen? Mit dabei sein, wenn er ganz sich selber gehörte? Was suchte denn sie dort?
»Gleichviel, gleichviel, ich bin verliebt,« rief sie ungeduldig. Und sie dachte an sein silberdurchsponnenes, dichtes Haar, unter dem die grauen Augen aus dem braunen Antlitz in adlergroßer Abweisung blitzten.
»Nur manchmal möchte ich zu ihm; dann, wenn ich wieder einmal einsehe, daß die andern sich alle gar zu ähnlich sehen! Dann möchte ich ein Stück mit ihm gehen über seine fernen Höhen. Und zu seiner Abendlampe möchte ich kommen und den Kopf an den seinen halten, wenn er in ein Buch sieht.«
Sobald er ihr begegnete, ging sie immer ein wenig langsam, um es ihm leichter zu machen, sie anzureden. Manchmal zögerte er; dann packte sie Wonne und Angst am Herzen. Aber er ging immer wieder mit einem stillen Kopfnicken weiter. Doch sah er sie jedesmal groß an; Auge in Auge, und sehr ernst. Beinahe fragte er, dieser Blick. Dann war Magelon für den ganzen Tag todunglücklich und selig zugleich. Sie zitterte an allen Gliedern, wenn der Verfemte von ferne auftauchte. Meist wandelte er in der Abenddämmerung über den Stadtpark, und wenn die Siebenglocke läutete, stand und sann er.
Sie ging einmal gerade an ihm vorüber, als er so der Bergglocke zuhörte, machte leise und langsame Schritte. Da sah er sie an; die Glocke tat ihren letzten Schlag und Magelons Herz blieb stille stehen. Denn mit einer so nachsinnlichen Stimme, als redete der Abend selber, sagte er: »Das ist ein schöner Ton, nicht wahr, Schwester?«
Wäre Magelon nicht im Pflegerinnenkleid gewesen, er hätte sie kaum angeredet, aber sie sah ernst aus.
»Die große, tiefe Glocke? Ja,« sagte Magelon und war blaß geworden.
»Haben auch Sie ihr zugehört,« fragte er freundlich.
»Ja, weil ich bemerkt habe, daß Sie horchen.«
»So? Ja, das sind so meine Beschäftigungen.«
»Sie sind immer schrecklich einsam.«
»Das sind viele Menschen hier in der Stadt. Man bemerkt es nur meistens nicht. Ganz junge Leute gibt es, die sind schon so einsam wie ich. Es fällt nur erst durch die Jahre auf. Wie adlig, wie sternenstill dahinwandelnd, wie ganz in sich: so ein abseitiger, junger Mensch! Machen Sie bei seinem Anblick nur die Gegenprobe! Stellen Sie sich ihn bloß einmal im Sonntagsbummel irgend einer Studentenverbindung vor! Na! Es wird Sie so etwas wie ein Lachkrampf erfassen; he? Daran werden Sie erkennen, wie weit Einsamkeit von Eitelkeit entfernt ist.«
Verene Magelon lächelte unwillkürlich. Sie dachte sich etwa jenen vergessenen Franzosen Sellier mit seinen Augen, die weit und ferne waren wie Abende, in buntkappiger, wichtig daherbummelnder Reihe; scharfe, musternde Augen auf die Konkurrenz geheftet.
»Ja, so gegeneinandergestellt ist das drastisch,« sagte sie.
Da ging er vertraulicher neben ihr her, aber er blieb einsilbig. Langsam gingen sie so über die Dammallee hin, und geraume Zeit sagte er kein Wort. Eine Reihe junger Leute kam laut daher; sie wurden aber still und machten große Augen, als sie die beiden stadtbekannten Gestalten so auf einmal miteinander sahen. Sie kehrten sich noch lange um. Da sah ihnen auch Joachim nach und seine Lippen zuckten. Magelon dachte daran, daß ihr Nußriegel bei solcher Gelegenheit einmal erzählt hatte, Joachim hätte beim Anblick einer Primanerklasse ausgerufen: »Pfui Teufel, Jugend!«
Es beengte sie das; sie fragte ihn, schüchtern, aber ein wenig vorwurfsvoll, ob er das je gesagt haben könnte. »Jugend, die kann man doch nicht hassen! Haben Sie das wirklich gesagt: Pfui Teufel, – Jugend?«
»Das kommt ganz darauf an, wie jene Jugend ausgesehen hat. Möglich ist es durchaus, obwohl ich mich nicht entsinne. Na, Sie werden ja andere Sorgen haben, Schwester. Gehen Sie jetzt und helfen Sie, wem noch in dieser Zeit zu helfen ist. Es steht Ihnen sehr gut.« Und er reichte ihr förmlich die Hand. Er hatte abermals zuviel gesagt. Wirklich; er wunderte sich, daß er gerade der Einen gegenüber immer wieder aus sich heraustrat.
Verene Magelon ging begeistert fort: Welche Bitterkeit! Welche Absage! Und doch, wie innig hat er über junge Menschen geredet, die den Adel der Einsamkeit haben! Aus seinem Munde gewann alles eine trotzige Schönheit. Ah, und gesehen war sie worden, mit ihm! Das wird ein Geraune geben! Wenn sie fünf- oder sechsmal so mit ihm geht, gibt man ihr zu erwägen, ihren Spitaldienst vielleicht einzustellen. So verfemt, so mißtrauisch betrachtet ist er überall. Sie will ohnedies nicht Schwester bleiben. Und mit Behagen malte sich Magelon aus, was alles heute abends in den Wirts- und Kaffeehäusern über sie und Herrn Rabesam schon gemutmaßt werden könnte. Die Grazer tun's ja schon beim erstenmal!
Da das freie und reiche Mädchen keineswegs an baldiges Heiraten dachte, war es ihr eine Freude, dort ein wenig Alkibiades zu spielen, wo der Klatsch so gefällig half. »Man soll nur reden über mich!« Und behaglich saß sie abends in ihrer Loge, hörte den Pilgerchor, den Venusberg, Wolframs Werben und Tannhäusers Übermut an und wünschte sich die Welt ebenso wechselreich wie Herr Tannhäuser. Unten im Parterre standen nebeneinander: Wigram, Kantilener, Liesegang. Sie machten riesig ernste, versunkene Gesichter und kamen gar nicht zu ihr in die Loge, als der Akt zu Ende war. Die hatten schon wieder was Besonderes! Vielleicht war ihnen dieser Opernabend was Symbolisches; vielleicht benutzten sie ihn zu Randbemerkungen über die neuen Rabesamschen Aufstellungen von der verödeten Religion. »Es ist doch wirklich interessant, dieses Leben,« sagte sie. Nach dem Theater kleidete sie sich um und trat ihren Nachtdienst an.
Ihre Verwundeten fieberten; sie waren so hilflos wie nur je.
Verene hatte weiche, geschickte Hände und linderte gütig, wo sie nur konnte. Aber immer dachte sie nach, wie sonderbar Lukas Rabesam die Menschen in zweckvolle Massen und zwecklose Einsame schied, und wie gerade sein Bruder Joachim zu dieser Lehre gleich das böseste Exempel gab. Der ganze, schwach beleuchtete Saal um sie war ein einziges Fiebern, ein Stöhnen, eine geeinte Hilflosigkeit, als litte ein vielköpfiges Lebewesen an allen Körperstellen. Und dort am Schloßberg tat sich einer, herrisch, eigensüchtig und beinahe gehässig von der Freude ab und vom Leide ab. Wie Satan der Widersacher kam ihr jetzt, in der Not dieser Nachtstunde, Herr Joachim vor.
»Er hat bestimmt Unrecht. Ich werde auch meinen Posten hier nicht verlassen.« Aber dennoch zog es ihre Gedanken immer wieder zauberhaft zu den bitteren Worten des Einsamen hin. Stolz war es doch, stolz und hochgemut, wie er seinen Zauberkreis um sich zog und sagte: »Die Menschen – und ich!«
Ein verwundeter Slawe stöhnte im Ton eines weinerlichen Kindes auf: »Matka! Matitschka!«
Das hieß Mutter, Mütterchen! Magelon lief zu ihm und war es, so gänzlich, wie sie nur vermochte.
So ging es in dem unkrautvollen Innern der Mädchenseele hin und her.
Und der Krieg tobte, brandete weiter, stockte, schien zu versiegen, wurde dann wie ein chronisches Leiden und entzündete sich an anderer Stelle wieder von neuem. Italien fiel Österreich in den Rücken, eben als es schon dem Ende zuzugehen schien. Endlos wurde das Weh.
Immerdar ziehen neue Menschenwellen über die Erde und sehen dies Leben aus besorgten Augen an, wie die alljährlichen Rekruten den Abrichter anblicken, der beharrt und bleibt, während sie wechseln. Die einen mißtrauend, andere angstvoll, dritte wieder frechlich und in berechnender Zuversicht. Und alle Monat warf das Leben solche neue Wellen auch in die Spitäler; Wellen von eintönigem Leid und Blut.
Das ertrug Verene Magelon nicht lange. Sie war mitleidig, flink, gehorsam und bereit gewesen; aber sie war weder beharrlich noch klar. Bei diesem immer neu wiederholten Elend kam sie sich vor, als müsse sie ein Gefäß stützen, dem das Lebensblut des Volkes aus hundert Löchern entströmte, die sie alle mit ihren kleinen Händen zuhalten müsse. Es ging nicht, sie versagte zuletzt. Nicht aus Überdruß; sondern sie war wirklich krank geworden und hatte aus Mitleid und Schwäche lange Weinkrämpfe.
Am seltsamsten verfolgte sie jener kinderweiche Aufschrei des sterbenden Russen: »Matka, Matitschka!«
Irgendwie hatte dieser Ruf sie angegriffen, sie wußte nicht wie! Und sie wußte nicht, daß Gott selber sie angerufen hatte. Denn wenn er das Weib anruft, so sagt er zu ihr: »Mutter!«
»Der Mann, der, einer aus der Milliarde, zu sich selber kommt und wesentlich wird, enthält Gott selber. Ebenso liegt in jedem Weibe die Mutterschaft Gottes,« hatte Herr Rabesam gesagt. Sie hatte es nicht verstanden. Das unsäglichste Mitleid, zu helfen, trieb sie an; aber die ewige Mutterschaft allem Hilflosen gegenüber, die eine säugende Katze göttlich machen kann, um die wußte ihre irre, kleine Seele noch nicht.
Und die alte Dame, die ja doch nur ihre Mama, nicht aber ihre Mutter war, nahm sie aus dem Spital. Sie sollte in die Berge.
Der dunkelblaue Sommerhimmel war wiedergekommen; jener Himmel, der einen Ruhm Österreichs sah, wie der Himmel über dem Prinzen Eugen ihn nicht gesehen hatte. Seine Heere drangen tief nach Rußland, sie hielten das gleichstarke Italien ab, sie zertraten die serbische Zündschnur im Süden und nahmen die ganze große Sprengbüchse in Besitz. Jetzt waren fast alle draußen. O'Brien war mit dem jungen Leutnant von Karminell in die Tiroler Alpen gesandt worden. Liesegang war bei dem großen Angriffszug im Nordosten gewesen und kehrte mit leichter Verwundung nach Graz; Magelons Bräutigam aber, der Zukunftssichere, war tief in Serbien gestanden und hatte schon zwei Tapferkeitsmedaillen, als eine Kugel seinem klugen und zweckbewußten Dasein ein Ende machte. Magelon wurde bei der Nachricht von Reue ergriffen. Sie hielt den klaren, jungen Mann, der sich ebenso ruhig geopfert hatte, wie er seiner, gänzlich auf Zweck und Ziel gerichteten Zukunft ins Auge gesehen, gegen Joachim, der sich ganz und gar nicht herschenken wollte, der sich in entsetzlichem Egoismus ab- und einschloß und einem, vielleicht wahnwitzigen, aber dennoch heiligen Brande aller Völker nur Hohnworte fand. Und doch: Jetzt, wo Artur tot war, wunderte sich Verene Magelon über die geringe Lücke, die so ein Zweckmensch hinterläßt. Es zog sie nach dem Zwecklosen.
Und so war Joachim der einzige Mensch, der sie ablenken konnte. Magelon ging immer noch mit Joachim; sie nahm seine Bitterkeiten, die geradezu das Standrecht herausforderten, mit einem leisen Grauen hin. Sie erschrak vor der Ichgier dieses Mannes und dennoch konnte sie nicht genug davon hören. Hatte er nicht recht? Hatte der arme, dem Staat unterworfene Artur nicht Unrecht bekommen? Wie ein König kam ihr Joachim vor, der zwar nur das kleinste aller Reiche beherrschte, den Mikrokosmos, den aber gänzlich!
»Er hat von den Menschen nur Schlimmes erfahren,« dachte sie; »er mußte so werden. Sein Name ist vergiftet, sein Zutrauen in jungen Jahren schon verschreckt worden. Auf sich selber mußte er stehen, immer und immer, und hat sich nun an die eigene Gesellschaft allzusehr gewöhnt!« Sie bedauerte ihn tief; er aber ließ das schöne Mädchen an seiner Seite und bediente sich ihres halb entsetzten, halb gierigen Zuhörens, um seinem Haß ein Ventil zu finden. Der sonst Schweigsame empfand dieser schönen, beraubten Braut gegenüber zum erstenmal die Lust, sich etwas von der Seele zu laden. Er sprach von seinem Hasse gegen jede Vereinigung von Menschen; namentlich gegen den Staat. Das bloße Wort schon färbte sein Gesicht dunkel: furchtbare Anklagen erfand er.
»Wer hat das Recht, wer nimmt sich es, mit dem Diebsschlüssel einer Moral, die nicht die meine ist, einzudringen in ein einsames Leben, das niemandem schadet? Dieselben, die meinen Namen befleckt haben? Dieselben, die den todgeweihten Familienvater bei seinem Eintritt in die Kaserne mit Schmähworten für jede Ungeschicklichkeit überhäufen? Dieselben, – aber ich will nicht den Tag verbringen und sagen, was sie alles sind, sie, mit denen ich, ich, Gemeinschaft auf Leben und Tod haben soll? Aus der besten Gesellschaft, die ich kenne, aus der meinen, aus der größten Treue, die mir ward, aus der meines eigenen Herzens, soll ich in die möglichst schlechte Gesellschaft derer kommen, die nur an mir zehren, ziehen und fressen wollen? Die dümmer und unaufrichtiger sind als ich! Dem Steinbock und dem Bison gönnt man ein Reservat: Warum nicht Joachim Rabesam in Ruhe lassen!«
»Hat man Sie denn auch abgestellt?« fragte Magelon erschrocken.
»Mich assentieren?« fuhr Joachim auf. Dann schwieg er eine Weile. »Das wird ja logischerweise an mir versucht werden. Und logischerweise, Fräulein Magelon, werden sie Joachim Rabesam lebendig nicht in ihre Hände bekommen!«
Magelon versuchte, verwirrt durch den furchtbar ernsten Ausdruck dieser Worte, ihm zu entgegnen. Sie sagte: »Herr Joachim! Sie ziehen also den sichern Tod dem ungewissen vor!? Ist das nicht Feigheit?«
Da sagte ihr Joachim: »Der sichere Tod heißt für mich Gesellschaft; heißt Unterordnung; heißt Feldwebel. Verstehen Sie das nicht? Der sichere Tod heißt: Joachim Rabesam beugt sich. Und das wird nie und nimmer geschehen.«
Verene Magelon ging lange Zeit neben ihm her und war in Angst um ihn. »Aber was wollen Sie denn tun?« fragte sie.
Da sagte er mit einer ganz anderen Stimme, als sie bisher an ihm kannte, sehr weich und verloren folgendes: »Als die Erde noch rundum frei war, und der Mensch reisen durfte, wie heute nur noch der Vogel und die Ratte und der Wurm reisen dürfen, da war ich irgendwo in den verschollensten Winkeln der Schweizer Berge, dortwo zwischen Graubünden, Glarus und Uri. Dort war eine Felswand, die kein Touristenwurm jemals bekroch, denn sie war weder die höchste, noch die aussichtsreichste, noch war ein Ort oder ein Wirtshaus oder eine Bahnstation in der Nähe. Nichts war dort zu holen, nicht einmal die Eitelkeit einer ersten Besteigung; denn auf die Hochfläche oben konnte man mit einem Mittelmaß von Anstrengung kommen. So blieb der Winkel frei von Menschenwitterung. Das hatte zwei Adler verleitet, sich dort ein Nest zu bauen. Ich habe sie dort gekannt, zwei Jahre lang. Das Königspaar umflog die Schroffen in herrlicher, letzter Überbliebenheit! O, Sie kleines Mädel! Glauben Sie, daß die Adler die einzige Liebe meines Lebens waren? Ich war bloß ihretwegen dort und alle Tage grüßte ich sie – der letzte Einsame die letzten Einsamen!
»Dann nahm eine Bubenkumpanei von vier reifen Männern den Horst aus und erschoß die verzweifelten Alten im Geschrei ihrer Jungen, die jetzt mit geknickten Schwungfedern in ein paar Drahtkäfigen dahindösen, in München, Paris, Hamburg, Schönbrunn – was weiß ich.
»Jetzt hat die Wand das letzte Interesse verloren, und Adler werden nie mehr gesehen werden dort oben. Ich habe mich an einem Seile zum verödeten Horst hinuntergelassen. Man kann in der Felsenkluft langhin liegen und sieht durch eine schmale Talflucht bis nach Italien hinein. Sehen Sie, Mädel, dort sucht mich niemand. Dort wird meine Gruft sein. Dort bin ich vor den Menschen sicher, vielleicht für Jahrtausende! Dieses ausgestohlene Adlernest habe ich mir erwählt, wenn sie mich einkreisen sollten, die Herren mit dem zahllosen Worte: ›Tauglich!‹
»Und deshalb, Fräulein, Schwester und Kind, werde ich bald Abschied von meiner einzigen, kleinen, erschrockenen Gesellschaft hier nehmen müssen. Ich gehe vorderhand irgendwohin ins deutsche Bruderland, wo man mich nicht gleich in den Pferch treiben kann.«
Dann schritt der Unselige seiner Wege davon. Magelon sah ihm nach, wie er, rettungslos in sein Ich verschraubt und vernietet, dahinstrich. »Armer, armer Mann,« sagte sie leise. Dann dachte sie wieder an Artur, an dessen klar vorbereiteten Lebensplan, der so gänzlich umsonst war, an diese große, gleichgültig vernichtete Intelligenz. Aller Verstand kam ihr zwecklos vor, wenn er sich nur gleich so willig beiseite stellen ließ nach dem Diktat anderer. Und doch: was ihr an Joachim gefiel, hätte sie an Artur verachtet. Warum nur das?
Darf der Triebmensch tun, was dem Verstande nie gestattet sein wird?
Wenn Magelon gänzlich traurig war, ging sie immer wieder zu Joachim um Trost. Sie konnte dann seine schrecklichen Aussprüche gar nicht oft genug hören.
Das war für Magelon ein Glück. Joachims Ausbrüche waren auch für sie ein Ventil. Das hatten die andern Leute nicht. Sie beugten sich und litten schweigend.
Wenn auch Sommer wurde; es fiel immer noch wie Schnee über die Menschen, die immer blässer und stiller zu werden schienen. Alles wurde gedämpft, die Herzen schlugen nur mehr ganz still, und die Liebe fror, fror, fror.