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So nun war das Mädchen nicht, daß ihr gleichgültig gewesen wäre, was immer man ihr sagte, und wer immer es sagte. So sind die ganz freien, die ganz großen und einsamen Männer kaum. Bei den Weibern sind es nur die Dirnen! Es fraß in ihr, daß die Mutter, der kleine Bräutigam und der milde und verzeihende Greis alle das eine über sie gesagt hatten: Sie könne nicht lieben; nicht um Liebe leiden!
Das mußte anders werden.
Nachdem sie sich drei- oder viermal im Kreise aller in Betracht kommenden Männer umgesehen hatte, wobei ihre Wahl übrigens schon im ersten Augenblicke feststand, nahm sie sich vor, Herrn Joachim Rabesam zu lieben, grenzenlos und opfervoll!
Es war Sommer, brennender Sommer. Verene Magelon war von Graz nicht weit weggegangen, denn Joachim Rabesam war es auch nicht. Sie wohnte der Sage nach bei ihrer Mama in Tobelbad; aber so oft es nur anging, fuhr sie in die Stadt und blieb drei Tage, vier Tage dort. Sah sie Herrn Joachim nicht, so kaufte sie ein: Dirndlstoffe, Münchener Kunsthandwerkszeug, Majoliken, Tandwerk aller Art, wie es ihrer wechselnden und oft gelangweilten Stimmung entsprach. Dann, wenn die Hitze sie nicht mehr schlaff machte, ging sie auf den Schloßberg, weil dort, vom Uhrturm aus, ein Blick in den Garten und nach den Fenstern des Cerrinihauses war, wo der weltscheue, hagere Mann wohnte, in welchen sie alles mögliche hineindichtete.
Keiner verdiente soviel Mitleid wie er. Und keiner war doch so stolz wie er. Man war ohnmächtig gegen diese Einsamkeit. Sie wußte Herrn Rabesams Leit- und Lebensspruch; Nußriegel, der ebenfalls keinen Menschen auf Erden benötigte als sich selber, hatte ihn ihr triumphierend zugerufen:
» Der Einsame ist unverwundbar.«
Unverwundbar; auch gegen sie?
Lange Zeit brannten ihre dunkel und unzufrieden aussehenden blauen Augen hinunter nach dem Garten; aber er mußte sich eingeschlossen haben. Vielleicht saß er über den römischen Kaisergemmen, die er sammelte. Oder er las im Gobineau, den er, der Herbe, liebte. Er sollte ihn auswendig kennen; Verene hatte auch damit begonnen, Lieblingsstellen daraus zu lernen. Dann fiel ihr ein, daß jene Stellen, die der Verschlossenste aller Abgeschiedenen lieben mußte, gänzlich andere waren, als die ihr gefielen; sie ärgerte sich.
Jetzt stand sie von der Steinbrüstung der Turmbastei auf, wo sie gesessen und hinuntergeträumt hatte und ging ein wenig bergwärts. Im Sonnenschein weilte dort stets der kleine Däne Krögensen. Er saß seit einiger Zeit täglich dort und war unglaublich blaß. Er lächelte nur mehr ganz schwach, als Magelon ihn verwundert grüßte: »Um Gottes willen, Krögensen, Kleines! Was ist denn aus Ihnen geworden, seit wir zum letztenmal in Laßnitzhöhe waren?«
»Ich war krank,« lächelte der kleine Däne in einer Art von milder Selbstironie. Er hatte viel Humor, und so sagte er auf die Frage, was sein Leiden gewesen wäre: »Mein Leiden war der heilige Franz von Assissi.«
»Fix Kuckuck,« sagte Magelon in einem burschikosen Anflug, »das müssen Sie weniger rätselhaft sagen.«
»Sie werden es schon verstehen,« seufzte Krögensen. »Also das ging so zu. Ich bin ja Protestant. Nun ist doch jeder anständige Protestant ein wenig in den Katholizismus verliebt. Nun ja, in den, wie er in seinen reinen, mittelalterlichen Formen war. In den germanischen Katholizismus, ehe die romanische Sinnenfälligkeit ihn verdorben hat; mit groben Dogmen und so weiter.«
»Ja, und?«
»Nachdem ich Tauler und Meister Eckhart durchstudiert hatte, kam ich, der chronologischen Folge nach, an den heiligen Franz und las, wie schwer er die Last seines Lebens getragen hat und durchaus immer nur sterben wollte! Herr Rabesam sagt ja auch: Ungern müßt ihr diesen Leib tragen und was er will! Ich las also, wie ihn immer größere Heiterkeit faßte, je kränker er wurde, und mit welchem Vergnügen er dem Absterben seines Leibes und dessen Leiden zusah. Damit auch ich ein wenig von diesem Vergnügen des Seligsten mitgenösse, aß ich während der ganzen Zeit meiner Lektüre keinen Bissen, und ich sage Ihnen, der große Appetit hat seine wunderbaren Sensationen. Ich verstehe, daß man sagt: Wer singt, ist hungrig. Oder wer hungrig ist, singt.
»Ich lag auch viel im Grase umher. Im nassen Grase und sogar im Regen. Also fror ich auch beständig. Es war ein großes Vergnügen. Solange ich las, war jede Askese ein Vergnügen; der heilige Franz von Assissi schien mich sichtbarlich dabei zu unterstützen.
»Als ich aber das Buch ausgelesen hatte, da hatte ich auch eine Lungenentzündung, und mir wurde himmel- und heidenangst. Da, mein Fräulein, da betete ich schreiend zum heiligen Franz: Du, hörst du? Du allein bist schuld an dem ganzen Zeuge? Du hast heilig werden dürfen, und ich armer Teufel soll dran sterben? Hast du mich verrückt gemacht und krank, so mach' mich auch wieder gesund; verstehst du das wohl, heiliger Franz von Assissi?
»Nun, er hat ein Einsehen gehabt,« schloß der kleine Krögensen, »und hier bin ich wieder. Aber ich setze mich nur mehr in die Sonne und nie wieder ins nasse Gras. Die gewissen Zwölf aus der Steiermark, die der Sage nach hier einmal so viel herumspukten, haben schon den rechten Anlauf gehabt. Man muß nicht zu viel haben von den Leiden dieser Welt. Man muß naschen wie Sie, sehr verehrtes Fräulein. Aber rekonvaleszent sein ist etwas sehr Schönes, besonders hier. Sehen Sie, wie tiefblau der Himmel ist!«
»Er wird es nicht lange bleiben,« sagte Verene besorgt. Denn im Osten begann es aufzusteigen wie ein Riesenheer, das den Rand der Erde erklettert hat und sie erstürmen will. Graublau und gelb wie enorme Feuermolche kam es schon über die Berge gekrochen, wurmträge und unabwendbar.
Der kleine Krögensen war aufgestanden und starrte geschreckt in die heranlauernde Drohung. »Es wird was ganz Entsetzliches geben,« sagte er. »Ich mache, daß ich laufe.«
»Ja, tun Sie es,« lachte Magelon; und dann war der ganze Berg leer.
Jetzt wollte das eigensinnige Mädel aber sehen, ob etwa Joachim ebenfalls Gewitterangst hätte und vielleicht seine Fenster zuschloß.
Sie ging wieder an die Bastei am Uhrturm hinunter und blieb dort, obwohl der erste Gewitterwindstoß den Berg so anrammte, daß er zu zittern schien. Es war großartig, wie es jetzt von den Hügeln im Osten, wo sich um Graz die ganz bösen Gewitter mischen, graurötlich herangewälzt kam, träge, wie ein Gewimmel von ungeheuren Sauriern. Ein Augenblickchen sah sich Magelon nach Schutz um, falls es Schloßen würfe; dann aber mußte sie wieder in den entrüsteten Himmel hineinschauen und in seine Drohungen, die Grellgelb auf Tintenschwarz und Flockweiß und schaumig auf Zimmetfarbe geschrieben waren.
»Das bist du,« fuhr ihr Herrn Rabesams Wort durch den Sinn, und sie erschrak, daß sie teilhaben sollte an solchem Gottesgrimm. Aber es war doch schön und aufregend, wie »sie« sich dort oben in den Wolken benahm, Verene Magelon.
Mit großem Interesse verfolgte sie, was »sie« weiter zu verfügen für gut befinden würde. Es fiel ihr ein, daß es oft genug, ebenso wüst und ihr selber fremd, in ihrem eigenen Herzen zuging, und daß sie hilflos dem Treiben ihrer eigenen Entfesselungen zusehen mußte. So, wenn sie jemand quälen mußte und dem nicht zügeln konnte, auch wenn es ihr selber wehe tat. Und wenn sie jähzornig war. Einmal hatte sie daran gedacht, was alles sie sich verschaffen könnte, wenn sie ihre Mutter beerbte; ein fürchterlicher Gedanke, denn sie wußte, daß sie lieber selber sterben würde, als ihre gute Mama fortzulassen!
Herr Rabesam mochte mehr Recht haben, als sie selber anfangs glaubte. Ob in den Wolken das Erschreckende geschah oder in ihr: fremd schien ihr beides gleich; also war es wohl gleich nahe.
Das fuhr ihr eine Weile durch den Kopf; dann nahmen die Abenteuerlichkeiten der Wolken ihre Sinne gänzlich gefangen, und sie versank in Anschauen. Große Schlachten gingen da oben vor, und die einander hassenden Wolken beschossen sich gegenseitig mit Blitzen, ehe sie sich vereint gegen die Erde zusammentaten. Irgendwo prallte wieder Sonne durch, da und dort brach der geballte Himmel auf. Wenn jetzt ein Blitz die kleine Magelon traf, so fand er sie mitten in Demut, Entsagung und Heiligung. Denn dieses Wunderwort: »Das bist du!« hatte sie gänzlich entrückt gemacht, die hübsche, etwas hysterische und verzogene Person.
Das währte so lange, bis das erste Aufbrüllen der Wolken sie zornig anschrie. Da fürchtete sie sich einen Augenblick und schaute gleich im nächsten nach dem Garten des verfemten Joachim.
Schreck und Jauchzen zugleich entstand in ihr. Denn auf dem flachen Dache stand er, der lange, ergrauende Mann, und sah sich das Unwetter an, als wär' es das seine. Er lachte.
Joachim Rabesam lachte! Man sah aus dem braunen Antlitz die weißen Zähne blitzen, und seine ganze Haltung verriet, daß er in einer Art grimmiger Freude sein mußte; wie erlöst sah der Mensch aus, der sonst in den abendlichen Baumgängen unruhig auf und nieder wanderte wie ein Raubtier im Gefängnis. Hochauf stand er; die gebeugte Haltung war weg, der Kopf zurückgeworfen wie der eines begeisterten Studenten.
»Er sieht sich seine Zerstörung an,« sagte Verene Magelon leise; und jetzt kam ihr das Wort des Herrn Lukas viel anwendsamer vor. Das verrückte Mädel hätte am liebsten herausgeschrien: »Das Gewitter bist du! Du, Joachim, der Widersacher!«
Die Wolken lieferten Seeschlacht, er stand wie der Admiral auf seiner Kommandobrücke. Je mehr sie brüllten, desto mehr lachte er. Er mußte wunderschöne Zähne haben. Der Regen hieb gegen ihn, er bückte sich wohl und riß einen Wetterkragen an sich, aber er blieb, auch als die Güsse rundum alles ersäuften. Die vorsichtige Verene hatte schnell die Leeseite des Uhrturmes herausgefunden, wo sie unter dem überragenden Wehrgang trocken und wetterfrei stehen konnte. Er aber ließ sich durchrütteln und waschen und peitschen. Ein paarmal fielen die Blitze rund um ihn und beleuchteten in der großen Düsterkeit seinen lachenden Mund. Noch nie hatte Joachim gelacht; nicht einmal lächeln konnte er, wie sein milder Bruder. Jetzt sah es Verene Magelon zum erstenmal, wie er lachte, als in der Stadt an mehreren Stellen Brandrauch aufstieg, und die Hörner und das Rasseln der Feuerwehr nervös durch die Gassen jagten.
Dann zogen die graublauen Geschwader, ihre weißen Rößlein als Vorpatrouillen hinausschiebend, weiterhin gegen die Waldberge. Hier und dort hieb die Sonne einen schneidenden Sensenschlag in das Gewölk, das sich abermals schloß und die schon in Wonnen aufschauernde, erfrischte Ebene wieder in Begräbnisstimmung hüllte. Endlich kam ein blaues Himmelsauge dahergeschwommen und ein zweites. Die Landschaft jauchzte hellgrün und golden auf. Da sah Joachim Rabesam einen Augenblick auf das viele Gefunkel umher und ging dann hinunter. Als alles eitel Gold auf Erden war und die Brände erstickt schienen, blieb das flache Dach des Schloßberghauses leer.
Verene Magelon ging fröstelnd nach Hause und war froh, als die wiederkehrende Sonne auf ihre jungen Schultern brannte. Sie war ganz erfüllt von dem Begebnis.
Mit einem unabweisbaren Aberglauben in der Seele kam sie nach Hause: Joachim war mehr oder er war weniger als ein Mensch. Ihr war er ein Halbgott. Sie dachte Tag und Nacht an ihn.
In die Stadt, durch die sie kam, schien der Regen besonders viel bedrucktes Papier zusammengetragen zu haben; überall lagen verschwemmte Sonderausgaben. Dem Mädel, das aus einem sonst richtigen Instinkte nie die beiden ersten Seiten einer Zeitung las, war nun auch das vollkommen gleichgültig. »Ja, ja, schon! – Krieg?«
Verene Magelon empfand diese Neuigkeit nur wie ein angenehmes Gruseln. Wirklich: Seit ihrem Wunsche nach dem Wunderbaren wurde diese Welt immer interessanter und farbiger; diese Welt, die ihr als Bilderbuch geschenkt worden war.
Jetzt kamen in diesem Buche also viele, viele Seiten mit Uniformen.
Zu Hause erfuhr sie, daß es wirklich ernst würde. Die unbekümmerte Österreicherin sagte: »Ah?«