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Joachim und Lukas.

In diesen Spätsommertagen stand Herr Lukas vor seines Bruders Tür oft und vergeblich wie ein Bettler. Die Halfström und Verene Magelon waren aus Joachims Gesellschaft abgefallen; aber sie trugen Angst und Sorge um ihn, als Herr Joachim vor die Abstellungskommission geladen und felddiensttauglich befunden worden war. Der Arzt hatte sogar noch ein Wort freudiger Bewunderung für die schlanke und sehnige Jünglingsgestalt des hochgewachsenen Mannes gefunden. Er hatte ihm Glück gewünscht. »Hätten sich nur alle Menschen so gestählt erhalten, wie dieser Herr!«

Von da ab sah niemand den Wahnverfallenen mehr. Nicht in dessen geliebtem englischen Garten und nicht in seiner Wohnung, die er nur dann zu betreten schien, wenn die Nacht schon nahe am Morgen war. Man hörte ihn dann Koffer rücken. Bei Tagesanbruch aber war er wieder verschwunden, und erst später erfuhr man von Ausflüglern, daß er die Tage vermutlich im Forstenrieder Park verbracht haben mußte, wo man ihn einmal schlafend gefunden, wie einen Landstreicher. Kein Anzeichen deutete auf Leid oder Kämpfe hin, wie man ja auch bei diesem bronzenen Manne selbst eine zweimal aufflackernde, späte Liebe an keiner seiner Mienen erraten hatte. Hätte er nicht der Lust nachgegeben, die beiden jungen Mädchen zu erschrecken und zu quälen, so hätte auch kein Mensch erfahren, wie bis in die letzte Faser zur Einsamkeit verhärtet und gegen alle Gesellschaft verbittert er war.

Niemand sah ihn mehr, niemand konnte ihn sprechen. Er schien nicht mehr da zu sein, oder zu nichts, als zur unerbittlichen Ausführung einer festgerannten Idee. Und sein rührend alter Bruder stand an seiner Türe, Tag und Nacht, stundenlang! Der Luftzug auf der Treppe machte den alten Herrn frösteln; der Regen der Straße durchnäßte ihn, wenn er bei Nacht am Tore wartete. Aber Herr Joachim schien von weitem umzukehren, wenn er seinen Bruder gewahrte. Nie gelang es Herrn Lukas, obgleich er seine letzten Kräfte durch dieses Wachen und Stehen und Warten verzehrte, seinen Bruder zu sehen.

Die Halfström und Magelon setzten den alten Herrn zuletzt mit Gewalt gefangen und bestachen die Bedienerin des Herrn Joachim und deren beide Töchter, sie sollten Tag und Nacht auf Lauer liegen und ihren schweigsamen Mieter beobachten.

Dadurch erreichten aber auch sie nichts weiter, als daß sie ein schauerliches, letztes Dokument von dem Seelenzustande des Verzweifelten bekamen. Denn sehr erschreckt kam das abergläubische Weib, das allein Zutritt zur Unordnung in Herrn Joachims Zimmer hatte, zu Herrn Lukas. Sie kam, nachdem sie zuvor in ganz Schwabing die Kunde verbreitet hatte, Herr Joachim habe mit den Toten geredet, – ja, vielleicht mit dem Leibhaftigen in Person!

Dem besorgten Herrn Lukas berichtete sie folgendes: »Der gnädige Herr ist um dreie in der Früh nach Haus' kommen. Meine Tochter hat von der Gassen gesehen, wie er das elektrische Licht aufgedreht hat, derweil bin ich vor der Tür g'standen. Er hat das elektrische Licht wieder abgedreht. Aber dann war es noch viel lichter als vorher. Durch die Tür ist ein brenzliger Geruch 'kommen und Herr Joachim hat laut und lachend gesagt: »O, das sagt Bruder Lukas? Ich will sinnige Antwort geben. Überhaupt allen, die mein Leben gestört haben!«

Dann war lange Zeit Ruhe.

»Also, – er hat Briefe verbrannt,« sagte Herr Rabesam. »Und den meinen hat er ungelesen verbrannt.«

»Das glaub' ich nicht,« hatte die Bedienerin entgegnet. »Briefe? Oho! Der Brandgeruch, der war aus Spezereien zusammengesetzt. Und, – warten Sie nur: Er hat die Toten gerufen! Hören Sie nur! Er hat gesagt: Alter Herr, mit deiner Wunde! Ja freilich, so ein großer, dünner Gelehrtenschädel!! Kommst du mich holen, toter alter Herr?

»Dann hatte er eine Weile Ruhe gegeben. Endlich hat er mit dem andern per »Er« geredet. »Er ist von mir nicht getötet worden. Und ich war doch sein Mörder? Erklär er mir das!« Dann hat er aufgestöhnt: Vater! Vater! Du warst der Schuft! Ich war rein!«

»Wieder nach einer Weile hat er leise gesagt: »Er hat dem Wagner gleichgesehen. Er war so kalt wie der.« Und dann hat er von Faseln und von Lügen und Idealen geredet. Er hat auch den toten Mann einen Lügner genannt. Das war zu hoch für mich. Oder er hat so gemurmelt, so daß man kein Wort verstehen hat können; gebetet hat er aber sicher nicht! Dann hat er was umgeworfen, ein großes Poltern ist entstanden, und dann bin ich vor Angst weggelaufen, weil er fürchterlich geschrien hat. Ich hab' geglaubt, der Böse selber ist bei ihm, und meine Tochter sagt auch, es war ein blaues Licht, ganz ein blaues Licht im Zimmer!

»Ich bin zur Fräulein Halfström; die ist gleich mit mir. Kein Auto, wie immer! Aber wie wir zu ihm gekommen sind, da war die Tür offen, Herr Joachim war fort, und alles war in einem grausigen Zustand. Alle Sessel umgeschmissen, das Bett von der Wand bis mitten ins Zimmer gerissen, ich bitt' Sie: so ein schweres, breites Bett! Und auf dem Tisch ist Gold gelegen, daß mir geschwindelt hat! Es war kein Brief dabei; es ist gelegen, ohne ein Wort dazu. Da ist es!«

»Es wird für Sie sein,« sagte Herr Lukas nach einem gleichgültigen Blick auf die Hand voll Münzen, die ihm die erstaunte Bedienerin immer noch entgegenhielt. Sie wollte es gar nicht einstecken; sie hielt es für Teufelslohn und erst, als daheim die Töchter es ihr lachend abnehmen wollten, erwachte die Habgier und stritt mit Erfolg gegen die religiöse Scheu.

Dieser verrückte und verwirrte Bericht, zu dem die Person noch später allerlei gänzlich Erfundenes oder Mißverstandenes hinzufügte, war das letzte Dokument über Herrn Joachim. Kein Brief, kein Abschied. Als die Polizei auf seine Spur gesetzt war, kein Ergebnis. In Konstanz wollte man ihn gesehen haben. In der Schweiz war er nirgends gemeldet. Vielleicht ließ auch Herr Lukas nicht zu eifrig nach ihm suchen. Fand man ihn, so war ihm das Los des Deserteurs gewiß, denn man hatte ihn auf der Botschaft gleich in Eid genommen. Den soll er mit unbeweglichem Gesicht geleistet haben.

Und nie, nie sah und hörte man wieder etwas von ihm!


Herr Lukas schloß sich tagelang ein. Weder die Halfström durfte zu ihm noch sonst wer. Er schien ohne Speise und Trank zu bleiben, und man dachte schon an gewaltsame Öffnung seiner Türe, da erschien er eines Morgens bei der Halfström, beinahe weiß im Antlitz, aber gelassen und milde. Ja es war, als lächelten seine stillen Augen, die nichts von ihrem Glanze verloren hatten. Er redete kein Wort von seinem Bruder, vor dessen Türe er doch so erbarmungswert, so flehend gestanden hatte und schien gänzlich beruhigt.

Die Halfström fragte nicht, Verene Magelon fragte nicht, und beide Mädchen brauchten die andern Jünger kaum erst zu mahnen. Es schwiegen auch diese über Herrn Joachim. Manche, die nicht wußten, wie der alte Herr bettelhaft vor seines Bruders Türe gewartet hatte, deuteten diese heitere und klare Ruhe als eine Weisheit, die wohl durch Kälte des Herzens unterstützt sein mochte.

Herr Rabesam schien wirklich zufrieden und geeinigt mit seines unseligen Bruders Schicksal und war beinahe heiter, so schwach er jetzt auch aussah.

Als er an jenem Morgen zur Halfström eintrat, fand er das Mädchen in haltlosen Tränen. Er legte ihr die Hand auf die Stirne, und seine Hand war warm und feucht wie die Hand eines jungen Mannes. »Mein Mädel«, sagte er: »Steh auf und geh'. Geh' den schönsten Weg weiter, den ich dir zeigen kann. Hör auf zu weinen. Joachims Schicksal war und ist Einsamkeit. Du hast dir seine Erlösung selber eingeredet. Diesen Zwang bist du jetzt los. Mädel: Fühlst du nicht, daß du einem andern gehörst?«

Die Halfström stand auf wie ein Lamm, wischte sich die Tränen fort und sah dem alten Manne mit solchem Glauben und Vertrauen in die lichten Augen, daß es unerfindlich war, wie sie vorhin so bitterlich weinen konnte. Es hatte sie ja gestoßen und gerüttelt!

»Solange wir leben, solange pendelt die Uhr; eben weil sie lebt. Du wirst in dreien Tagen hoffen, in sieben jubeln, nach einem Monat vor Glück zu Gott beten: ›Zuviel, o Vater!‹« So sagte Herr Lukas zu ihr. Sie glaubte es fest. Ihr Herz wurde stille.

Der alte Herr setzte sich zu Birgid.

»Es ist heute ein Tag,« sagte er, »da kannst du deiner Pflicht als Krankenschwester aufkündigen, weil das Datum gerade stimmt.«

Birgid Halström erschrak. »Wollen Sie mich aus Ihrer Lehre fortjagen, wie Herrn Wigram und Kantilener?« fragte sie. Sie meinte, er wiese sie fort, weil sie ihre Probe an Herrn Joachim schlecht bestanden hätte. Und doch hatte er nie gesagt: Liebe ihn! Sondern sie selber war gleich Magelon wie magnetisiert gewesen von der abweisenden Art des Unnahbaren. Sie hatte gelitten um ihn und gedacht, er müsse wieder zu ihr zurückkommen und sagen: ›Verzeih, du bist im Recht. Wer nicht Opfer sein kann für viele, der muß sich erst im engeren Kreise hinopfern an Weib und Kindern.‹ Und jetzt eben, als Herr Lukas zu ihr gekommen war, hatte sie geweint um ihn; – haltlos, um den verlorenen, alternden Hagestolz, so jung und schön und begehrt sie war.

»Wollen Sie mich fortjagen?«

»Eine Weile bleibst du noch bei mir,« sagte er in ungemein friedvoller Heiterkeit.

»Meister! Und dann! Dann aber? Ich gehe mit dir, wohin du auch willst, und wenn die Gelehrten alle sagen, dein Weg geht in Trug und Schaum und Nichts hinein: Ich gehe mit!«

»Mein Weg geht ins Rechte; aber wenn du mitgingest, dann wäre dein Weg Trug und Schaum und Nichts. Die klugen Köpfe wissen nicht, daß das alte Sprichwort weiser ist als sie: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich! Bemerke wohl, daß der Ton auf dem Worte liegt: Wille! Laß dich nie verleiten, zu wollen, was ich will. Es wäre eine Strömung, die zwar mir entspricht, die dich aber von dir selber ableiten würde. Ich muß dich wegweisen. Du willst anderes.

»Alle Erlöser bisher waren Menschenfresser; ich sage es dir. Das darf ich nicht sein. Ich weise jeden zu sich selber; man kann nicht gleich den ganzen Menschen erlösen! Wie lange wird es dauern, bis das begriffen sein wird? Den Tod, der mich erquickt, und der meinem armen Bruder wenigstens Zuflucht ist, den Tod darfst du nicht begehren. Zwanzig Mädchenjahre machen nicht reif zu Gott, in einer Welt, die mit Jahrmillionen nur spielt.

»Ich vernichte die Menschen nicht, indem ich sie an mich ziehe und entselbste; aber indem ich sie entlasse, belebe ich sie, mir weiter zu folgen. Siehst du nicht, wie selten ich erlösen kann? Ich bin die Stundung und die Fristung. Ich bin bloß der erste Mahner.

»Das ist Othmar Kantilener, den ich, wie du sagst, von mir gewiesen. Er sinnt und martert sich, warum er einen Sohn hatte: Nur, um ihn erst nicht zu kennen und ihn dann sterben zu sehen? Nein. Aber Kinder darf man nicht lügen, Birgid. Kinder muß man übernehmen wie ein Vermächtnis Gottes. Wenn man selber noch nicht reif ist, muß man für sie treulich, hell und liebevoll sein. Diese Weiterleitung darf weder Zweck noch Ziel sein, mein Mädchen. Sie ist Weg!

»Aber sie ist Gottes Weg.

»Fluch ist bei dem, der das Ziel und den Zweck und das Ende, in Eigennutz, sucht.

»Langsam mahlen Gottes Mühlen, und wir jedes sind eines seiner Körner. Und seiner Ernten sind Myriaden mit je und je Myriaden Körnern. Darum sage ich: Lernet sehen, wie klein ihr seid, auf daß ihr groß werdet. Und nicht entbinde ich dich, noch Kantilener. Sondern ich sage: Langsam! Ihr seid berufen; auch das ist schön; wollet nicht gleich Auserwählte sein! Das ist bei euch selber unmöglich. Lasset's Euren Kindern! Kantilener hat sein Kind nicht leben gesehen, so mußte er es sterben sehen. Denn es lebte ohne ihn und auf einer Lüge. Nun grübelt er. Weißt du, Birgid, was er grübelt? Er muß denselben Weg zum eigenen Kinde ein zweitesmal besser gehen und er ahnt es nur und weiß es noch nicht. Hilfst du ihm? Wenn er dies Sakrament der Demut genossen haben wird, zu sagen: Ich bin nur da, um höher zu kommen durch mein Kind, dann wird er erlöst sein; erlöst wie du, meine sanfte, suchende Birgid. Werdet wie die Kinder, sagte der Herr. Ich füge hinzu: Könnt ihr es nicht, so gebet der Gottheit neue Kinder.«

Und mühsam erhob sich der alte Herr und ging davon, um nicht die Blüte zu stören; die Rosenblüte, die auf Birgids Wangen aufgeschossen war.


Als Birgid Halfström allein war, sann sie der Zeit nach, in der sie zuerst zu Herrn Lukas gekommen war; ein verwaistes und zur Freiheit erzogenes Geschöpf, das nach München ging, weil ihr ein paar Malerinnen dazu geraten hatten; fröhliche Mädchen, denen Birgid gerne Geld lieh und ihnen deswegen in München recht am Platze schien.

Jenen war München der Karneval und die Freiheit des Thomaskellers. Ihr, Birgid, war es das München Richard Wagners und eine der seltenen, großen Hauptstädte des Menschentums. Beides geht stets miteinander, und wo Freiheit ist, da lärmt auch die Frechheit. Eine Herrscherfamilie, die groß denkt, lächelt und läßt dort ihre Sonne scheinen über Gut und Böse. Es ließ sich auch Birgid in München von den Handgreiflichkeiten des Lebens nicht berühren und fragte so lange scheu und heimlich umher nach tiefen Menschen, bis sie an Herrn Lukas kam. Da der alte Herr zumeist mit dem schönen und reinen Mädchen gesehen wurde, das ihn betreute, entstand die Sage, die Halfström führe ihm die Wirtschaft. Aber die Halfström hatte ihren eigenen kleinen und verhohlenen Haushalt; Garten, Hühner und Blumen; die waren ihr Glück, bis der Krieg auskam. Dann wies Herr Rabesam sie zur Krankenpflege.

Sie war nur bei Herrn Lukas, dann, wenn man ihm Übles wollte; ihm zu helfen. Ein einziges Mal hatte sie förmlich Besuch bei ihm gemacht und gesehen, wie er in einem ganz weißen Stübchen wohnte; Möbel, Wände, Gardinen, alles weiß. Und er war gerade am Mittagessen; das bestand aus Früchten, Tee und Butterbrot. Es war eine Seltenheit, daß Herr Lukas zu Hause aß; denn er war überhaupt nur im Zimmer, wenn eine Regenzeit gar zu lange dauerte. Dann las er. Seine Mahlzeiten hielt er sonst immer im Freien, oft im Gehen. Er kaufte sich hier die eine Kleinigkeit am Straßenrande und dort, einen Vierteltag später, wieder etwas anderes, wie es ihn zu essen mahnte; es war stets das billigste und bescheidenste, was Gott wachsen ließ, und der alte Herr wußte, vor lauter Gedanken und Freude am Leben, jeden Abend nie, was er zu Tage gegessen, und wovon er gelebt hatte. Da er nie mehr als eine Mark für die eigenen Bedürfnisse zu sich steckte und mehr als diese Summe nur in einer andern Tasche führte, aus der er den Armen gab, so waren Herrn Rabesams Tage ebenso hübsch als billig.

Vor kurzem nun hatte sie wegen jener Lebensweise die erste persönliche Frage an ihn gewagt! Birgid Halfström war nämlich, wie jedes gute Frauenzimmer, eine wahre Uhr in bezug auf regelmäßiges Leben und sorgte sich sehr, daß der alte Herr bei so zufälligen Mahlzeiten jetzt, wo er eine böse Wunde erhalten hatte, daran sterben könnte! Sie warf ihm die Jachheit und Unregelmäßigkeit dieser Mahlzeiten liebevoll vor, und dabei war es zu einer Frage gekommen, die ihr Takt sonst nie zu tun vermocht hätte: »Vater Lukas, hast du denn nie heiraten wollen und nie geliebt?!«

Darauf war jene Antwort gekommen, welche die einzige ist, die uns kein kleines Licht über Herrn Rabesams persönliche Lebenskurve gibt:

»Töchterchen, ja. Ich liebe ja dich! Aber du siehst, ich esse in kleinen Bissen und trinke in kleinen Schlucken. So habe ich viel geliebt, aber immer nur wenige Herzschläge lang. Wer mir nahekam, von dem ließ ich mich halten, bis ich fand, daß er gefährdet war, von mir gehalten zu werden. Da wies ich ihn fort; denn von mir aus muß jeder sich selber gehören, wie ich mir gehören muß. Ein Weib aber muß einem gänzlich gehören, und er gänzlich ihr. Dazu bin ich nicht gesendet.

»Meine Liebe auf dieser Erde war verteilt in kleine Bissen, die ich von diesem Brote Gottes nahm; mir genügte immer ein warmer Blick. Dann ging ich wieder in meine eine große Liebe zurück. Diese eine große Liebe ist zu Gott und seiner Bildersprache. Sollte ich die jemand aufdrängen? Das hieße einen Schüler etwa zu den schönen Künsten zwingen, während er Mathematiker ist. Ich bin allein selig dabei. Selig und erlöst. Ihr aber wollt sorgen, erringen, leben. Wohl kommt ihr und sehet, daß ich selig bin, und sagt: Meister, gib uns von dem Tranke, der dich berauscht. Ich gebe. – Aber nun höre:

»Du, meine kleine Birgid! Noch nie, noch nicht ein einzigmal gab es einen, der sich nicht von mir wegweisen ließ ins Leben! Jeden zog der Mehrheitsstrom dieser entgotteten Erdperiode, dieser ›Kali-Yugh‹. Ich habe hunderte Jünger gehabt in meinen vielen Tagen! Sie alle sind wieder Jünger des Lebens geworden, wenngleich sie rufen und toben, das wäre nicht wahr, und treu wären sie mir und liebten mich und führten mein Werk bloß weiter! Der eine ist Arzt und der andere Heerführer und der dritte Sanskritforscher, und hingestreut sind sie über die ganze Erde. Das einzige ist, daß sie nie den Abend entweihen und zu dieser Stunde allein bleiben oder in stiller, andächtiger Gesellschaft andächtigen Gedanken nachhängen. Denn die Dämmerstunde habe ich mir von ihnen bedungen, als einzige einsame des Menschenherzens. »Bleibt wenigstens da bei Euch selber,« habe ich ihnen gesagt. Und so entsteht aus dieser einen Stunde langsam die ganze neue Periode.

»Wenn der Himmel glüht, und wenn die Abendglocken läuten, dann denken noch viele an Lukas Rabesam. Das ist alles, was ich erreichen habe können.«

Birgid war traurig, als sie fragte: »Also keiner war, der sich nicht wegweisen lassen wollte und dir sagte: Ich bleibe bei dir, auch wenn du nicht willst?«

»Keiner. – Es ist mir oft wehe dabei gewesen. Auch bei Othmar Kantilener! Ein Gotteskind, gleich angetan zur Menschenliebe, wie zur Versenkung ins Göttliche. Er war der Reinsten einer, meine kleine Birgid. Ich habe ihm aber dennoch gesagt: Kind, werde Vater, auf daß du vollkommen seist im Erkennen und im Leid. Und du, meine kleine Pflegerin? – Binde mir den Verband gleich besser, mein Mädchen. Die Stirnwunde blutet noch.«

Und während Birgid mit leisem Schreckensruf die sehr entzündete Wunde neu versorgte, sagte er: »Diese kleine Birgid werde ich erst von mir weisen, wenn ich sterben werde. Dann wird sie den geraden, heitern Weg einer geraden und heitern Frau gehen. Verstehst du, Birgid? Du sollst ein stolzes Werk tun und einen Mann erlösen. Die Männer glauben immer, sie könnten das selber! Ach, wie wenige wissen, was Erlösung ist. Gutgelauntes Fortfristen ist schon viel! Du aber sollst eine irrende Seele befreien und sollst belohnt sein mit frischen, blonden Buben. So, jetzt geh, und ich danke dir.«


Vordem hatte Birgid geglaubt, Herr Lukas wiese sie auf den armen Joachim hin. Und scheu, aber als wäre es eine Pflicht, war sie dem nachgegangen. Erst, als der verbitterte Mann seinen Fluch ausgesprochen hatte über jeden, der nach diesem Kriege noch ein Kind zu zeugen wagte, erst da sah sie, daß Lukas ihr einen andern vermeint habe. Und ihr war leicht geworden bei dieser Entdeckung.


Als Herr Lukas gegangen war, stand die Halfström auf und dehnte die Arme. Sie wußte mit einem Male, daß sie schön war. Nie hatte sie das wahrnehmen wollen; ja es war ihr wie ein Abscheu, wenn man es sie erraten ließ. Jetzt aber dehnte sie sich, wie eine erwachende Katze, und sah auf ihre Brust herunter, aus der es sich wie ein leiser Jubelruf hob.

»Entlassen!« Sie ging und kündigte heiter und ruhig ihre Stellung als Krankenschwester.

Daheim saß Herr Lukas. Und ein Abendschatten war in ihm, weil er abermals eine Seele, die ihm teuer war, zum Leben weisen gemußt.

Allein, so allein blieb er jetzt, wie sein Bruder Joachim.

Aber er lächelte. Die Abendglocken läuteten. Um eine Stunde früher, weil die neue Sommerzeit anbefohlen war. Ein gesteigertes Leben blutete und rang jetzt um Gestaltung, überall. Er hatte zu dieser verlorenen Zeit gesprochen, was immer man ihr nur zu sagen wagen durfte. Er konnte gehen. War unwert, was er seinem Jahrhundert widerredet hatte, dann mochte sein Wort in Kanonenfabriken verhallen und in Spinnereien; in Kohlengruben, Kinos und Operettentheatern; dies Wort:

»Werdet Abendkinder. Werdet einsam. Ihr könnt Gott sein, in Euch selber.«


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