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Für mich hat er etwas unsagbar Südliches,« sagte die reizende Schwedin zu Kantilener, der mit jenem Herzklopfen, das er bei dem Anblick Birgids immer hatte, auf Besuch bei ihr saß. »Denken Sie nur, daß es bei uns höchstens Kirschbäume gibt. Der Walnußbaum ist für uns schon Süden. Ach, und erst die edle Kastanie!«
Beide saßen unter einem wunderlieben Nußbäumchen von etwa zwanzig Lebensjahren, das schon sehr schattig war. Freilich, in diesen späten Sommertagen begann es licht zu werden. Aber dick und verheißungsvoll saßen eine Menge süßer Nüsse daran. Das Jahr Sechszehn brachte ja so viel davon, daß es hieß: Das wird ein rechtes Bubenjahr!
Denn der Volksglaube meint, wenn viele Nüsse gedeihen, dann kommen mehr Buben auf die Welt als Mädel. Aber Kantilener sah den Nußbaum nur sehr vorübergehend an, ganz versunken in Birgids strahlende Erscheinung. Er war ja sonst wirklich einer von denen, die ziemlich eindringlich nach Gott suchten. Das hatte ihn aber schon einstmals (seligen Andenkens) nicht gehindert, ein Gefühl der Anbetung vor Reiherfedern, Zobelpelz und fließender Seide zu haben, – welche Materialien in der reizendsten Weise um Frau von Karminell drapiert gewesen waren.
Jetzt, da er Tod und Teufel um sich gehabt, da ihm ein höhnender Gott den Sohn der geliebten Frau gezeigt und wieder weggerissen hatte, jetzt, wo er endlich wußte, was das heißt: Mann sein! – jetzt stand er vor diesem Mädchen abermals, wie das Kind vor dem Christbaum. »Setzen Sie sich doch,« hatte Birgid Halfström zweimal gesagt! Er wagte es endlich so zaghaft, wie ein Bittsteller.
Denn das Wunder war: Birgid Halfström, nicht mehr als Krankenschwester, sondern gut angezogen, gut bis zur Verfeinerung!
Sie hatte das ohne Berechnung gemacht. Die Französin des Nordens überlegte nicht lange, was ihr gut stand. Sie hatte den Habit der Schwester abgelegt; sie freute sich, wieder so hübsch auszusehen, wie damals, als noch Friedenszeit war, und dachte weder, daß sie als Schwester auf Joachim, noch als Dame auf Kantilener wirken mußte. Jenen selbstischen Verfemten rührte der Anblick der Tracht frauenhafter Güte und Hingebung. Der Mann wieder, der sich stets verschenkte, war zu betören wie ein hungriger Vogel, wenn er sah, wie eine Frau so schön und so leuchtend glücklich war, daß sie seiner nicht bedurfte.
Die Halfström hatte also nicht daran gedacht, sich für ihn oder irgendwen schön zu machen. Sie hatte eben Besuche machen gewollt, und es war ihr ein Kontrastvergnügen, sich endlich einmal wieder vorzutäuschen, daß Friede und heiteres Trugleben sei. Sie hatte ja das schwerste noch vor sich: Herrn Rabesam zu pflegen, wenn er dahinging, wie er vorausgesagt hatte. Urlaub hatte sie. Darum saß sie jetzt in duftigen Farben da, einen zarten Frühlingstag um das dem Freunde entgegenblühende Antlitz, eine erwartungsvolle Lässigkeit in allen Gliedern.
Und wie einst vor Frau von Karminell, und gebannter noch als damals, da er Birgid zum ersten Male gesehen, stand er jetzt vor solch selbstverständlicher Schönheit. Er sah immer nur die langen Handschuhe an.
Dieser Mann, der sich in einer entsetzlichen Feuertaufe bewährt und den Tod leicht, das Leben so schwer ertragen hatte, war wie ein Kind vor ihr. Er, der Innerlichste von all den Schwärmern um Herrn Rabesam, geblendet von ihrem bißchen Flitter!
Sie lachte, als sie ihm zum zweiten Male sagen mußte: »Setzen Sie sich erst!«
Er wagte es und frug: »Aber Sie wollten ausgehen? Sie haben Handschuhe an.«
»Es ist mir lieb, daß Sie mich dazu bringen, hier zu bleiben, in meinem kleinen Garten,« antwortete das Mädchen und zog sich die langen Handschuhe, die Kantilener sehr in Respekt geworfen hatten, mit geschmeidigen Bewegungen von den Armen, wie Kantilener sie an ihr als Krankenschwester nie gesehen hatte. »So,« sagte sie: »Nun gehöre ich Ihnen.«
Sie legte die schlanken Arme vor sich hin; sie tat es in der ungemeinen Reinheit, die an nichts anderes denkt. Aber dies Abziehen einer Verkleidung und dies entblößte Hinlegen der jungen, straffen Arme zusamt jenen Worten wirkte, ohne daß es das Mädchen ahnte, auf Kantilener so, daß ihm die Knie zitterten.
Rein und weltferne war er gewesen; jung war er geblieben. Sein großes, fernes Erleben war Frau von Karminell. Jetzt galt ihm da eine, nach einem Zeitraum voll Tod und Verlassenheit, und nach einer ganzen Frauengeneration, wieder als schön. Sie lächelte ihn an, trotzdem er nicht jung war, denn sie hätte seine Tochter von damals sein können! Und sie war so lässig und sicher und glänzend und schön wie jene, wie jene von damals! So blond, so abwartend, mit einem leise lachenden Aufwärtsgebogensein der Mundwinkel, welche verrieten: »Ich weiß ja!« Und er, gerade weil er aus dem langen Entsagen kam, zitterte an allen Gliedern.
Ein leiser Wind ging; da redete Birgid Halfström weiter: »Hören Sie, wie das rauscht? Ihre Sozialdemokraten sagen: Eigentum ist Diebstahl. Aber ich lehne mich zurück vor lauter Glück in dem Gefühl: Mein Baum rauscht!«
»Ja,« gab Kantilener zu. »Das ist doppelt schön.«
»Unser lieber Herr Lukas sagt, wir sollen Eines sein mit Baum und Wolke und Käfer und so weiter. Ich vermag es wirklich schon ein wenig. Aber, mangelhaft wie ich bin, vermag ich es hier am besten, wo ich denken kann, dieser Baum gehört mir. Ich mache mir Vorwürfe; aber ich habe getan, was ich konnte, habe Menschen gepflegt, und versuchte immer, so recht Gottes Kind zu sein. Nichts aber ging mir über das Glück, das ich fühlte, wenn diese paar kleinen Bäumchen und diese Blumen in meinem Garten recht gediehen. Sehen Sie, wie diese Sonnenblumen voll von Ölfrüchten sind? Mir ist, als hälfe ich den Krieg gewinnen, weil ich sehr viel Sonnenblumen, Mohn und Nüsse ernten werde. Ich habe Hühner, die schönsten Hühner in München; und sie legen mir Eier, wie Ihrem irrtümlichen Heiland von damals; Nußriegl hieß er; nicht? Wenn meine Hühner so breit und genießend in der Sonne liegen, fühle ich: »das bist du.« Und ein Behagen kommt über mich. Ich bin fest überzeugt, daß die ganze Welt sich deshalb zerfleischen muß, weil sie aufgehört hat, Bauer zu sein. Der Bauer, in Frieden gelassen, ist der ewige Friede. Er allein ist in Gott, und der ist in ihm. Der Ritter und der Handelsmann haben den Krieg gemacht. Und ich weiß, daß jede Industrie unmoralisch ist, welche nicht der Landwirtschaft dient. Wäre Deutschland bei seiner Landwirtschaft geblieben und hätte seine Habgier kurz gehalten, wie leuchteten jetzt seine Felder, wie glänzten die Augen dieses Volkes! – Hören Sie, wie wunderbar mein Nußbaum rauscht?«
»Mir fällt,« sagte Kantilener, »in meiner Heimat, in Sankt Peter bei Graz, ein Platz ein, auf dem stehen mittelgroße, tiefgrüne Nußbäume und auch einige Edelkastanien. Er liegt auf einem Abhang, der ist sänftlich nach Süden geneigt, so daß dort sogar Trauben reifen könnten, und man sieht die Schneeberge an der Kärntner Grenze und das Bachergebirge im Süden hinter dem Berge von Wildon. Eine Ebene liegt unten vor einem, fruchtbar und glücklich wie ein Paradies, und die Wolken wandern das ganze Jahr, dunkel und hell, darüber hin! So spielt sie alle Farben wie das Meer. Wer dort ein Häuschen hätte, der wäre an diese Lebenstage gefesselt, wie ein Verliebter. Sogar das andere kann man dort besser bedenken als anderswo: das böse andere, daß die Menschheit keinen Glauben mehr hat …«
Birgid fragte: »Wie werden Sie es beginnen, wenn Sie wieder in Ihre Heimat zurückgehen?«
»Vollrat will mir längst seine Praxis übergeben,« sann Kantilener. »Ich hatte gemeint, die Menschen hätten den Geber eines neuen, wissenschaftlich unanfechtbaren Jenseits nötiger, als den Arzt. Jetzt sehe ich, daß ich kaum selber darüber klarwerden kann. Die Sehnsucht, allen Menschen zu beweisen: es beginnt nach dem Tode erst das rechte, ach, die ist ja immer noch in mir so stark! Das Gefühl ist da, aber der Beweis fehlt noch immer! Ich werde, wenn uns Herr Rabesam nicht klipp und klare Wissenschaftlichkeit geben kann, doch wieder in einen lieben, etwas verhaltenen und nachdenklichen Alltag zurückkehren müssen.«
»Wenn man eine so schöne Heimat hat wie Sie, ist man ohnedies näher an Gott,« lächelte die Halfström.
»Ach,« rief Kantilener. »Gefiele es denn Ihnen dort?«
»Ich bin ganz allein und war immer an fremden Schulen; ich habe wenig Erinnerungen an eine Heimat außer denen des Kindes, das ich nicht mehr bin. So müßte ich mir erst eine Heimat suchen. Ich habe sie bei Herrn Rabesam gesucht. Da war sie hoch und versagend. Solange ich mich selber vergaß und diente, war vielleicht sie in mir: ich war nicht in ihr. Freude am Leben war nicht in diesem Selbstvergessen. So will ich denn bloß von Herrn Rabesam mitnehmen, was ich kann, und will sehen, wie ich mit mir selber weiterkomme. Göttlich werden, wie er fordert, das kann ich nicht; so möchte ich mit Gottes Hilfe ein ganzes Menschenkind werden.«
»Ja,« sagte Kantilener mit einer Heiterkeit und Zuversicht, wie er sie schon sehr lange nicht mehr gekannt hatte. »Wir wollen das arithmetische Mittel ziehen! Die Wurzel in dieser Erde, die Gedanken und den Blick ins Ewige. Aber jetzt wollen wir Herrn Rabesam nicht mehr auslassen; – er muß uns alles bis zum Äußersten sagen, was er erkannt hat.«
Die Halfström stand lustig und unternehmend auf: »Gehen wir aus, lieber Freund,« rief sie und warf den blonden Kopf lebensfroh zurück.
Da nahm er sie an der Hand; ein kurzer Druck ließ sie beide zusammenfahren und sagte ihnen, daß sie bald einig sein würden. Aber obwohl sie sich noch nichts gestanden, ließen sie doch ihre Hände nicht mehr los und gingen wie zwei Kinder, wenn die Schule aus ist, fest aneinander geklammert und geschlossen, zu dem alten Herrn Lukas.
Der saß gebeugt und sinnend in einem Sorgenstuhl am Fenster und erhob sich nicht. Er empfing sie mit forschenden Augen, aus denen Trauer und Liebe gütig schauend in ihre Herzen drang. Als er die heitere Festlichkeit der beiden Menschenkinder sah, sagte er mit einem leisen Vibrieren der Stimme: »Ihr seid unter Birgids kleinem Nußbaum gesessen?«
Beide schwiegen betreten stille. Da sah sie der alte Herr ernst an und fügte hinzu: »Er ist nicht der Baum der Erkenntnis; er ist der Baum der bürgerlichen Resignation. Hütet euch, meine Kinder, vor dieser Pensionistenzufriedenheit der Seele.«
»Eben darum, Vater Rabesam, kommen wir zu Dir, alle beide,« sagte die Halfström bescheidentlich. »Du hast uns gesagt, wir sollten glauben; du hast niemals alles gesagt, was du selber glaubst. Gib uns den ganzen Umfang dessen, was du erkanntest und wir werden glücklich sein.«
»Ich kann Euch nur geben, was Ihr seid; nicht, was ich bin. Die Sprache ist für Zwecke dieser Welt gemacht und nicht für das erlöste Jenseits. Gefühl ist alles und Bild und Symbol, wodurch sich jenes bemüht, zu uns zu reden. Ihr steht in diesem Leben viel zu tief drinnen; seid gesegnet dabei. Ich stehe an der Grenze. Wenn ich hinüber sein werde, dann würde die Sprache dieser Marktwelt von mir abgenommen sein, und auch mich würdet ihr dann nie anders verstehen können, es sei denn im Bilde und im Symbol; so ferne werde ich sein von euch. Denn ihr bleibt in der Zerstreutheit und dem Unglauben. Ihr bleibt in der Mehrheitsströmung dieser furchtbar entgotteten Zeit. Sie ist stärker als ihr. Ich allein stehe ihr entgegen. Darum wurde mir das Geheimnis von dem Strom, der durch diese letzten Jahrhunderte unsichtbar durch alle Völkermassen geht. Ein heilloser Strom! Die Inder nennen ihn und seine Epoche: Kali-Yugh. Denn die Göttin der heillosen Begehrlichkeit schlägt stets wieder halbe Jahrtausende in Bande.
»Aber diese Epoche wird verfluten; ich habe ihr Nervenkabel als erster verletzt. Mehr konnte ich nicht tun. Aber kommen wird der, der in aufgewühltere Herzen greifen wird dürfen, als es mir beschieden war.
»Ich will euch aber noch einmal versammeln und euch meine Abschiedsworte sagen, denn ich gehe bald fort. Kommet gegen Abend hinaus, wo der große Garten gegen das Moor zu sich öffnet. Ihr wisset, bei den Platanen, die sogar Joachims Trotz auflösten. Es ist ein guter Ort.«
Und er schloß die Augen und wollte allein sein.
Da riefen Kantilener und die Halfström alle zusammen aus ihrer kleinen Welt, soweit diese in den erwürgenden Kriegstagen noch offen stand: »Herr Rabesam will sterben, kommet, ihr aus Österreich und der Schweiz, sonst seht ihr ihn nicht mehr!«