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So groß, so rein stand Birgid Halfström neben dem verlassenen und verfemten alten Herrn, der wegen der Sperrung aller Bahnen nicht aus dem Haß und Hohne herauskonnte, der ihn umgab, daß sich einige der abgefallenen Jünger leise zu schämen begannen. Verene Magelon war die erste, die sich von der stillkühnen Treue des lichten Frauenbildes begeistert zeigte.
»Wie eine blonde Mignon ist sie neben dem Harfner Gottes! Wie eine Kordelia!«
Sie eilte vor allem, sich ebenso kühl abweisende und elegante lange Handschuhe zu verschaffen, wie Birgid Halfström sie an den schlanken Armen trug, und nahm auch etwas von der lässigen Ruhe an, welche die schöne Schwedin zeigte, wenn die Menschen um sie Überflüssiges redeten. Dann nämlich gab die Halfström so zerstreute Antworten, daß man sah, wie sehr sie in sich selber versank, je mehr die anderen sich nach außen kehrten. Das stand ihr ganz reizend. Verene Magelon wollte auch so sein.
Magelon war auch die erste, die wieder zum alten Meister stand. Und das Bild der beiden so verschieden schönen Mädchen, eine links, die andere rechts von dem alten Herrn, dessen heller Blick längst seine alte Liebe und heitere Ruhe wiedergewonnen hatte, wirkte so zwingend, daß die Empörung gegen den Verkünder einsamen Menschentums leiser wurde und sich höchstens noch gegen die beiden hysterischen Mädels richtete, denen, vor Überkultur und Übersättigung, kein gesunder Mensch mehr gut genug sei, und die aus Perversion durchaus was Krankhaftes und Morbides suchten.
So wurde über die Halfström und Magelon geredet. Die Halfström in ihrer bewußten Gesundheit lächelte bloß; Magelon aber ließ sich gerne als krank und etwas verderbt ausschreien; das kam ihr an sich selber interessant vor.
Der nächste, der sich zu schämen begann, war Kantilener. Er hatte es als Arzt auch leichter, Mensch zu bleiben, und so ging er, wenn die Abende dunkel wurden, später auch ganz mutig am hellen Tage, wieder in Gesellschaft des verschollenen Verkünders jener Dinge, mit denen die Welt längst abgerechnet zu haben schien.
Kaum zeigte es sich, daß man auch Kantilenern wenig tat, schloß sich, wie aus der Versenkung kommend, der arme, hohlbrüstige Bohnstock ebenfalls wieder an den alten Herrn. »Ich war Ihnen immer treu,« sagte er schlicht. »Aber bei meiner Rasse weiß man nie, wann man Gelegenheit gibt, Schläge zu bekommen. Ich habe es sehr nötig, lieber Meister Lukas, einem Glauben wie dem Ihrigen anzuhangen, der lehrt, daß die Liebe, trotz dem Gebaren der Menschen, niemals aussterben kann und in einer Inkarnation wiederkommen muß. Verzeihen Sie, daß ich Sie scheinbar im Stiche ließ. Aber ich würde in diesen meinen alten Tagen weder ein zweites Duell wagen, noch darf ich Schläge riskieren, die mich als Geiger vielleicht berufsunfähig machen könnten. Ich bin keine Bekennernatur mehr, die sich gerne öffentlich in den Feuerschein des Leidens stellt. Dazu muß man in den Zwanzig sein.«
Herr Rabesam drückte ihm wehmütig die Hand. »Wer ist denn nicht halb von uns Menschen,« sagte er. »Glauben Sie denn, auch mich erfaßte nicht Kleinmut bei diesem sonst herrlichen Ausbruch eines schönen, tödlichen Irrtums?
»Das ist es ja, was jene groß macht und einstweilen unserer Lehre überlegen; daß sie sich opfern! Ergreifend ist, daß sie gar nicht erst fragen, wofür. Wir aber fragen! Auch wir würden unser Leben auf den jetzt sehr allgemein gewordenen Altar der Nation (das heißt, ihrer augenblicklichen staatlichen Zusammenstellung) hinwerfen. Aber unsere Überzeugung opfern können wir nicht. Und, Bohnstock: das beschämt uns; denn da es die anderen können, scheinen sie mehr zu geben, als wir.«
Sie saßen bei diesem Gespräch in einem Gasthause der Hauptstraße von Graz, der Herrengasse; irgendwo im bescheidenen Hintergrunde des Hofes. Da rauschte ungestümes Rufen immer näher; Jubel überschlug sich; die vielen, vielen Menschenstimmen riefen so pausenlos und zusammenhängend Hurra, daß es sich anhörte, als würde in der Ferne ein Schotterkarren abgeleert. Aber es kam immer näher, wurde persönlicher, deutlicher, erregender. Zuletzt packte es alle an, die im Gasthause saßen; sie ließen ihr Mahl, sprangen auf. Erst enteilten wenige, dann viele; zuletzt litt es keinen mehr auf seinem Sitze. Alle rannten zum Eingang und auf die Gasse, die dicht gedrängt voll Menschen stand, welche ein ganzes Gestade links und rechts auf den Gehsteigen bildeten. Zwei windbewegte, winkende Ufer, zwischen denen ein unaufhaltsamer Strom dahinfloß.
Wie Wellen ging es zwischen diesen Menschenwänden auf und nieder. Ein Strom von Blumen schien auf der Straße dahinzuwogen.
Von Blumen, wenn man zuerst hinsah. Denn überdeckt von hundert Farben aus sommerlichen Gärten, auf den Gewehren, auf Mützen und Schultern und an der Brust von bunten Büschen bedeckt, zog das heimische, das sonnige, das geliebte, herrliche Hausregiment hinaus in den Krieg.
Die gelben, die kaisergelben Aufschläge, die blonden, treuherzigen Köpfe, die blauen frischen Augen: es ist und bleibt das Sonnenregiment, wenn es auch Zehntausende in die Schatten der Nacht sinken sehen mußte. Das treueste, das helle, das zutraulichste, aber das im Kampfe fürchterlichste. Es gibt vielleicht noch ein, zwei härtere Regimenter; aber es gibt keines, bei dem selbst das Opfer so zum Feste wird.
Die hochgewachsene, bildschöne Rasse von Aussee und dem obern Ennstal war da gerottet und zog hinaus; die treuen Augen blitzten vor Stolz, Freude und Zuversicht, als ginge es ins ewige Leben. Und ein Wolkenbruch von Blumen, von Liebe und verzücktem Anschrei prasselte aus den Fenstern und von den Dächern auf den wiegend dahinflutenden Strom aus Menschen und Blüten.
»Als Sieger zurückkommen!« hieß es zehnmal. »Ja, ja, wir richten's schon!« flog es freudig zurück. Weit vorne jauchzte eine bestrickende Marschmusik. In Schritt und Tritt, in Klang und Hall floß der Menschenstrom dahin, endlos. Immer neue Truppen kamen, es kamen die kleinen Maultiere mit den Maschinengewehren, es tanzten die hübschen Pferde der ernsten, grüßenden Offiziere, es kamen Blessiertenträgerkolonnen. – – –
Das Hurra stockte kaum ein wenig; dann kam wieder ein neues Bataillon.
Die Offiziere schön, männlich ernst. Keine Koketterie zu den Fenstern hinauf, kein Scherzwort. Die Soldaten, wie zum Tanze die einen, wie zur Hochzeit die anderen. Alle glühend, übervoll von Kraft. Ein Drang, ein Überschuß an Blut und Mut war das, als zerspränge der ganze Volkskörper vor Abundanz. Diesem Volke war sich ausbluten eine ejakulative Wonne, als ließe man einen Vollblütigen zur Ader, der beinahe gestorben wäre vor Lebensdicke, vor Eingekochtsein eines dunklen Blutes.
Seligkeit, sich zu opfern, Rausch, zu sterben, Triumpf, daß die Friedenswelt endlich, endlich gelüftet und aufgerissen wurde wie ein dumpf geschwitztes Hemd in drückender Schwüle. Das war der ganze Eindruck, den die Schauenden empfingen. Dieses Volk jubelte, weil es endlich anders kam als jahrzehntelang. Und hingerissen, an allen Gliedern zitternd, sahen die Männer zu, die in den Toren standen, sahen auch Kantilener zu und Bohnstock.
»Ich möchte mit, ich muß mit«, rief der Geiger mit dunkel brennenden Wangen, und Kantilener sagte: »Ich melde mich auch hinaus. Am liebsten möchte ich kämpfen. Das ist hier nicht auszuhalten. Man schämt sich in Grund und Boden.«
Da hörten sie hinter sich die sanfte Stimme der Schwedin voll tiefem Mitleid: »Eine Hekatombe.«
Vorwurfsvoll fuhr Kantilener herum. »Sie sehen diese Prachtkerle wie Opfertiere an?«
»Nein, nein! Die vielen Blumen entrissen mir nur das garstige Wort, Herr Assistenzarzt. Und dann, denken Sie weiter: Diese Blumen werden welk sein und traurige und nachdenkliche Augen werden sie ansehen, in den Frachtwagen und in den Viehwagen, in denen sie eine Woche lang dahinrollen werden. Neue Blumen werden ihnen gereicht werden; aber es werden nicht mehr die Blumen aus der Heimat sein. Einige werden den verwelkenden Strauß an ihrer Brust bergen, um zum Opfer geschmückt zu bleiben; – und die, welche ihre Sträuße achtlos aus dem Wagen auf die Strecke geworfen haben, sie werden ebenso achtlos ihr Leben hinwerfen. Vielleicht, ehe sie gelebt haben.«
Kantilener hörte nicht auf sie. Bohnstock auch nicht. Mit brennenden Augen sahen die beiden Männer dem Zuge nach, der am großen Platze verhallte. Die Straße verlief sich, ward öde.
Als die fiebernden Männer wieder an den traulich gedeckten Mittagtisch zurückkamen und kaum einen Bissen zwischen die zuckenden Lippen zu zwingen vermochten, da sagte Herr Rabesam mit tiefer Innigkeit und Andacht:
»Sehet, ihr Menschenliebende! So sehr hat euch der Mord angefaßt? Sehet, ihr Staatsfremde, so sehr hat euch das Opfer ergriffen um einen vergänglichen Zustand? Fühlt ihr jetzt, was das heißt: Mehrheitsströmung? Willenlos zuckt ihr, wie das tote Amphibium, unter den ungeheuren Majoritätswellen, die euch durchrinnen. Ihr könnt euch ihrer gar nicht erwehren! Denn wer das jetzt kann, der ist mehr als ein Mensch, oder – fast stets – weniger.
»Denkt aber, wie es kommen kann, daß dieses Volk reif wird zu ebensolchem Gottverlangen! Die Menschheit muß mit ihrer zusammengeballten Sehnsucht und dem fast irrsinnigen Ergrimmen ihres Verlangens künftiglich den Himmel erstürmen, wie sie jetzt Belgrad und Nowgorod begehrt. Erwäget, wie riesenstark, wie ungeheuer dann der Gott wird, den sie verlangt!
»Er ist da; auch jetzt. Immer. Aber er hat tausend unwesentlichere Formen, und alle wird er euch reichen und euch an ihm verdursten lassen. – Ehe denn, ihr rufet die eine an, die ewige!«