Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vater und Sohn.

Der junge Freiwillige sah den Mädchen nach, die so sehr verschieden waren. Oben schwieg die Geige.

Endlich kehrte er sich zu Kantilener. »Herr Assistenzarzt, wie denken Sie über diese Frauenzimmer?«

»Das ist jetzt Ihr einziger Gedanke? – Sie alle sind unerlöst,« sagte Kantilener lächelnd.

»Glauben Sie überhaupt an Erlösung?« fragte Karminell bescheiden, wie es der militärische Grad erforderte.

»Ich kenne wenigstens erlöste Stunden, ja Tage und Wochen«, sagte Kantilener. »Aber ich glaube auch, entgegen Herrn Rabesam, daß das Weib nie anders erlöst werden kann als durch ihr Kind. Herr Rabesam meint zwar: auch durch das Opfer. –«

»Opfern? opfern? Können das die Starken überhaupt? Ob das Opfer nicht eine Waffenstreckung kranker Naturen ist«, meinte der junge Mann.

»Hm, krank! Jeder medizinische Ausdruck macht doch immer verächtlich, was auch göttlich genommen werden könnte,« sagte Kantilener und fuhr fort:

»Der Mediziner hat dafür auch ein Wort, das bisher als Schimpfwort galt, zum Ehrentitel erhoben. Er hat es in ein Fremdwort übersetzt. Bis dahin hieß das Wort: gemein. Allgemein. So wie alle. Der Mediziner sagt: normal. Seit die Menge zu reden hat, ist das Wort normal zum Ehrentitel geworden, so gemein auch die normale Menge sein kann. Die Amerikanerin dort ist vielleicht anormal: hysterisch, also jenseitig, schon mit einem Fuße in der andern Welt. Aussterbend, würde Herr Rabesam sagen. Der eine lobt das, der andere beschimpft es. – Es ist ein Affentanz, wenn die Menschen mit diesem winzigen Leben so wichtig tun, während Sterne sich bilden und andere vergehen und Sphärenfernen vielleicht auf unsere Weiterbildung warten. Und dort, Verene Magelon, trägt hohe Absätze.«

»Ich bitte Sie,« rief der junge Einjährige eifrig, »reden wir doch über die! Ich sage es Ihnen aufrichtig: ich war sehr verliebt in sie. Ich bin es nicht mehr und weiß nicht warum. Dann glaube ich bemerkt zu haben, daß das Mädel in Sie verliebt war. Sie ist es nicht mehr, und ich weiß auch nicht warum! Sie brennt da und dort auf wie ein Irrlicht und weiß vielleicht selber nicht warum. Aber vielleicht wissen Sie es?«

»Wer kann ergründen, was mit jedem Winde treibt?« sagte Kantilener nachdenklich. »Vielleicht sucht sie wirklich das Außerordentliche, wie sie sagt. Aber sie will alles haben; denn sich selber alles sein, das kann sie nicht. Darum eben bleibt sie ja unerlöst. Es gibt Weiber, die wollen allen Männern etwas sein, und es gibt Weiber, die wollen einem Manne alles sein. Diese allein bringen das Opfer, welches erlöst. Als Gattinnen oder als Mütter. Sie allein sind heilig. Auch in den keuschesten Nonnen bleibt nur wieder dieses Geheimnis: einem Einzigen Alles zu sein.

»Verene Magelon möchte alles haben und allen etwas sein. Herr Rabesam hat sie ein Symbol unserer Zeit genannt. Der berückende Flitter Europas und seine Gier, seine Gescheitheit und seine Langeweile, alles ist in diesem Mädel zusammen. Sie sucht einen Mann nach dem andern, bewundert ihn erst und verlacht ihn dann. Lieben wird sie erst, wenn sie mißhandelt werden wird …« Er dachte eine Weile nach und zitierte dann: »›Die Dirne Europa dürfte bald für Gott reif sein, weil er sie prügelt.‹ Wissen Sie, von wem dieses bittere Wort stammt? Vom Bruder des Herrn Rabesam.«

»Von diesem Menschen geht doch eine seltsame Magie aus«, sagte der junge Karminell. »Auch Magelon läuft ihm nach, wie besinnungslos.«

»Sehen Sie es,« lächelte Kantilener. »Er verachtet; darum wird er geachtet.« Und er wandte sich zum Gehen. Der junge von Karminell hielt gleichen Schritt mit ihm, und als es längere Zeit zwischen beiden still gewesen war, sagte er: »Nicht wahr, ich falle Ihnen nicht lästig? Mir ist, als hätte ich schon lange nicht mit einem gescheiten Menschen gesprochen. Die Geige dort oben hat mich doch nachdenklich gemacht.«

»Sie waren überfüttert; mit Zucker – oder mit Hafer. Sie konnten nicht hören. Jetzt geht es Ihnen schlecht. Sie werden gedrillt, gescholten und von mindern Menschen verhöhnt, während Sie das Bewußtsein haben – nicht wahr? – daß Sie doch als Geweihter zu betrachten wären, da Sie ja sterben gehen sollen. Da bekommt man ganz andere Ohren. Sie hören also nur anders. Denn ich bin nicht gescheit. Ich bin bloß instinktiv geblieben. Infantil meinethalben. Ich bin ein Sammler und Ordner; bei dem kann man alles übersichtlich haben. Aber der Ausbruch von Natur her, das ist Herr Lukas! Und – vielleicht – auch sein Bruder ….«

»Wenn man nur an den herankönnte«, sagte der junge Freiwillige ungeduldig.

»Was sich in der Einsamkeit gebildet hat, ist unheilvoll für alle anderen. Einseitigkeit ist Last, die hinabzieht. Vertrauen Sie ruhig dem Prinzip der Wage.«

»Aber ja! Ich höre doch auch den Herrn Lukas an!«

»Mit dem Herzen?« fragte Kantilener.

Der junge Herr von Karminell schwieg etwas betreten. »Ich komme mir manchmal schon vor wie die Magelon«, sagte er dann reuig.

»Das sind nicht Sie«, tröstete ihn Kantilener. »Das ist bloß der Reichtum. Leiden Sie, seien Sie arm und Sie haben alles! ›Die Armut und das Leid sind es,‹ sagt Rabesam, und Christus sagt es auch, und wer nicht noch von den Heiligen und Ewigen dieser Erde!«

»Zu denen zählen Sie den Herrn Lukas?« rief der junge Mensch in Staunen.

»Ach«, seufzte Kantilener. »Würde der alte Herr von den groben Massen angebetet wie ein Abgeordneter oder ein braver Landsknechtführer, so wäre er vergänglich. Aber kein Mensch betet einen schönen Tag an. Er freut sich seiner, das ist schon viel. Sie genießen den alten Herrn ja auch wie einen schönen Tag und gehen vorüber und freuen sich. Das ist Beweis seiner Göttlichkeit.«

»Göttlichkeit«, sagte der junge Mensch mit komischem Vorwurf.

»Sie ist immer das Leichte, das Geschenkte, Selbstverständliche und Gütige. Die Alten wußten das sehr wohl. Aber seit es lohnend geworden ist, zu den Massen und für die Massen zu reden, ist das Wort ›göttlich‹ beleidigend worden. Wegen der Überhebung. Ich für mein Teil bin froh, noch daran glauben zu können. Und jetzt leben Sie wohl.«

Kantilener wandte sich zum Gehen; da sagte der junge Mensch zu ihm: »Einmal müssen Sie mir von meiner Mutter erzählen! Papa gibt mir keine Vorstellung von ihr und vielleicht eben darum bin ich so ungewiß über mich selbst. Denn ich betrachte Papa und finde Eigenschaften an ihm heraus, die ich von ihm geerbt haben könnte. Da verliere ich aber allen Glauben und alle Sicherheit. So möchte ich doch wissen, was ich von Mama habe. Sie glauben nicht, wie unklar ich über mich bin. Ich muß mein Blut an dem meiner Vorfahren betrachten können, damit ich weiß, wohin ich soll, und wo ich mich zu hüten habe. Also? Werden Sie mir über Mama erzählen?«

»So gut ich das vermag, ja!« sagte Kantilener gepreßt.

Da nahm ihn der junge Mensch stürmisch an beiden Händen und lief dann fort. Es war ganz instinktiv geschehen.


 << zurück weiter >>