Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Subiaco. Das Kloster St. Benedikt. Ein Ständchen. Civitella. Meine Flinte. Mein Freund Crispino.
Subiaco, ein kleiner Flecken von viertausend Einwohnern, ist um einen zuckerhutähnlichen Berg wunderlich herumgebaut. Der Anio, der, weiter unterhalb, die Fälle von Tivoli bildet, macht hier den ganzen Reichtum aus, indem er einige recht schlecht erhaltene Hüttenwerke nährt.
Der Fluß läuft an gewissen Stellen durch eine Talenge. Nero ließ diese durch eine ungeheure Mauer absperren, von der man noch einige Trümmer sieht und die, indem sie das Wasser zurückhält, außerhalb des Städtchens einen See von großer Tiefe bildet. Daher der Name Sub-Lacu. Das Kloster San-Benedetto, das, eine Stunde oberhalb, am Rand eines ungeheuern Abgrunds liegt, ist fast das einzige merkwürdige Denkmal der Umgegend, daher es auch Überfluß an Besuchern hat. Der Altar der Kapelle ist vor dem Eingang einer kleinen Höhle errichtet, die einst dem heiligen Gründer des Benediktinerordens als Zuflucht diente.
Das Innere der Kirche ist von äußerster Fremdartigkeit: eine Treppe von zehn Stufen verbindet die beiden Stockwerke, woraus es sich zusammensetzt.
Wenn man die santa spelunca des heiligen Benedikt und die grotesken Bilder, mit denen die Mauern bedeckt sind, bewundert hat, führen einen die Mönche ins untere Geschoß. Hier sind Haufen von Rosenblättern aufgestapelt, die einem Rosenbeet des Klostergartens entstammen. Diese Blumen haben die wunderbare Eigenschaft, Krämpfe zu heilen, und die Mönche erzielen einen beträchtlichen Umsatz damit. Bei dem duftenden Spezifikum sind drei alte, zerbrochene Karabiner, verbogen und vom Rost zerfressen, aufgehängt als unwiderlegliche Beweise nicht minder erstaunlicher Wunder. Jäger, die ihre Waffen unvorsichtig geladen hatten, bemerkten beim Abfeuern die Gefahr, in der sie schwebten; der heilige Benedikt, den sie – offenbar sehr lakonisch – anriefen, als die Flinte platzte, bewahrte sie nicht nur vor dem Tode, sondern selbst vor der kleinsten Schramme. Wenn man den Berg oberhalb San-Benedetto zwei Meilen weit hinanklimmt, gelangt man zur Einsiedelei des Beato Lorenzo, die heute unbewohnt ist. Sie liegt in einer furchtbaren Öde, von roten, nackten Felsen umgeben, und die fast völlige Verlassenheit, in der sie seit dem Tode des Eremiten verblieben, macht den Eindruck noch schrecklicher. Ein ungeheurer Hund war ihr einziger Wächter, als ich sie besuchte. Mit argwöhnisch beobachtendem Ausdruck lag er in der Sonne und folgte finstern Blickes, ohne die geringste Bewegung, allen meinen Schritten. Da ich mich waffenlos am Rand eines Abgrundes befand, so trug, wie ich gestehe, die Gegenwart dieses stillen Argus, der bei der geringsten zweifelhaften Bewegung den beargwöhnten Fremden erwürgen oder hinabstürzen konnte, ein wenig zur Ablenkung meiner Betrachtungen bei. Subiaco liegt nicht so in den Bergen versteckt, daß es von der Zivilisation unberührt geblieben wäre. Es gibt dort ein Café für die Dorfpolitiker, ja sogar eine philharmonische Gesellschaft. Der Kapellmeister versieht gleichzeitig das Amt eines Organisten des Kirchspiels. Bei der Messe am Palmsonntag schreckte mich die Ouvertüre zur Cenerentola, die er uns zum besten gab, dergestalt ab, daß ich mich in der Singakademie nicht mehr zu zeigen wagte aus Furcht, ich möchte meine Abneigung zu sehr an den Tag legen und die guten Dilettanten kränken. Ich hielt mich an die ländliche Musik; die hat wenigstens Naivität und Charakter. Einmal des Nachts weckte mich die eigentümlichste Serenade, die ich noch je mit angehört. Ein ragazzo mit kräftigen Lungen schrie aus Leibeskräften ein Liebeslied unter den Fenstern seiner ragazza, zur Begleitung einer riesigen Mandoline, einer Sackpfeife und eines kleinen eisernen Instrumentes, das einem Triangel ähnlich ist und auf dem Lande Stimbalo heißt. Sein Gesang, oder vielmehr sein Geschrei, bestand aus vier oder fünf Tönen in absteigender Folge und endigte, sich wieder erhebend, mit einem langen gefühlvollen Seufzer auf der Tonica, ohne daß Atem geschöpft wurde. Sackpfeife, Mandoline und Stimbalo gaben eine regelmäßige, fast gleichförmige Folge von zwei Akkorden an, deren Harmonie die Pausen des Sängers zwischen jeder Strophe ausfüllte; nach Belieben fiel dieser dann wieder mit voller Stimme ein, ohne sich darum zu kümmern, ob der Ton, den er so wacker anstimmte, zur Harmonie der Begleiter paßte oder nicht, und ohne daß diese weiter darauf achteten. Er sang gewissermaßen zum Rauschen des Meeres oder eines Wasserfalls. Trotz seiner Ländlichkeit berührte mich das Konzert so angenehm, daß ich kaum Worte finde. Die Entfernung und die Zwischenwände, die der Schall aus seinem Wege zu mir überwinden mußte, schwächten den Mißklang ab und milderten die rohen Ausbrüche dieser Naturstimme. Nach und nach versetzte mich die gleichförmige Folge der kleinen Strophen, die so schmerzlich endeten und von der Stille gefolgt waren, in eine Art Halbschlaf voll angenehmer Träume: und als der galante ragazzo seiner Schönen nichts mehr zu sagen hatte und seinen Gesang unvermittelt abbrach, schien mir auf einmal etwas Wesentliches zu fehlen ...
Ich blieb in einem Zuhören ... meine Gedanken trieben gelinde auf diesem Geräusch, mit dem sie so lieblich verknüpft waren! ... Als er verstummte, war ihnen der Faden abgeschnitten und ich blieb bis zum Morgen ohne Schlaf, ohne Träume, ohne Gedanken ...
Jene melodische Phrase ist in den ganzen Abruzzen verbreitet. Ich hörte sie von Subiaco bis Arce, im Königreich Neapel, mehr oder weniger gemodelt nach der Empfindung des Sängers und dem Tempo, das er ihr gab. Ich kann versichern, daß sie mir eines Nachts in Alatri köstlich vorkam, als sie langsam, zart und ohne Begleitung gesungen wurde; sie nahm damals eine religiöse Färbung an, die sich sehr von jener unterschied, die ich an ihr kannte.
Die Anzahl der Takte dieser Art melodischen Ausrufs ist nicht immer bei jeder Strophe genau dieselbe; sie wechselt mit den vom Sänger improvisierten Worten, und die Begleiter folgen jenem dann, so gut sie können. Die Improvisation kostet solch einem Orpheus der Berge keine große poetische Anstrengung; es ist ganz einfache Prosa, in die er alles das hineinlegt, was er auch in einer gewöhnlichen Unterhaltung sagen würde.
Der junge Bursche namens Crispino, von dem ich sprach, behauptete dreist, Räuber gewesen zu sein, weil er zwei Jahre Galeere hinter sich hatte; er verfehlte nie, mich bei meiner Ankunft in Subiaco mit folgendem Willkomm zu begrüßen, den er wie ein Spitzbube schrie:
Die Wiederholung des letzten Vokals bei dem durch gekennzeichneten Takt findet wirklich statt. Sie wird durch einen Kehlschlag erzielt, der einem Seufzer ziemlich ähnlich und von ganz eigener Wirkung ist.
In den andern Ortschaften der Umgebung, unter denen Subiaco die Hauptstadt zu sein scheint, habe ich nicht den kleinsten musikalischen Brocken aufgelesen. Civitella, die interessanteste unter ihnen, ist ein wahres Adlernest, das, elend und stinkend, auf der Spitze eines sehr schwer zugänglichen Felsens sitzt. Man genießt hier, als einzige Entschädigung für so ermüdende Kletterei, eine großartige Aussicht; die Felsen haben dort durch ihre phantastischen Schichtungen ein fremdes Aussehen, bestrickend für Künstleraugen, so daß ein mir befreundeter Maler sechs volle Monate dort zubrachte.
Die eine Seite des Dorfes ruht auf übereinandergelegten Steinplatten, die so gewaltig sind, daß es ganz unmöglich ist, zu begreifen, wie jemals Menschen derartige Massen aus ihrer Lage bringen konnten. Diese Titanenmauer in ihrer gewaltigen Dicke und Ausdehnung ist, verglichen mit den Bauten der Zyklopen, das, was diese im Vergleich mit den gewöhnlichen Mauern zeitgenössischer Bauwerke sind. Trotzdem genießt sie nicht das mindeste Ansehen, und wiewohl ich gewohnheitsmäßig mit Architekten verkehrte, habe ich nie davon reden hören.
Civitella bietet außerdem dem Wanderer einen kostbaren Vorteil, dessen die andern ähnlichen Dörfer ganz entbehren: es hat ein Wirtshaus oder so etwas ähnliches. Man kann dort erträglich wohnen und leben. Der reiche Mann des Landes, il signor Vincenzo, empfängt und beherbergt Fremde aufs beste, namentlich Franzosen, für die er die rühmlichste Sympathie hegt, die er aber mit politischen Fragen quält. Sehr mäßig in seinen andern Ansprüchen, ist der wackere Mann in diesem Punkte ganz unersättlich. In seinem Überrock, den er seit zehn Jahren nicht abgelegt, unter sein räucheriges Kamin geduckt, beginnt er, wenn er einen eintreten sieht, sein Verhör; und wärst du auch von Kräften, halbtot vor Hunger und Müdigkeit, du bekämst nicht eher ein Glas Wein, du hättest ihm denn zuvor über Lafayette, Louis-Philippe und die Nationalgarde Rede gestanden. Vico-Var, Olevano, Arsoli, Genesano und zwanzig andere Dörfer, deren Namen mir entfallen sind, bieten, nahezu gleichförmig, denselben Anblick dar. Es sind Haufen graulicher Häuser, die, wie Schwalbennester, an unfruchtbaren, fast unzugänglichen Bergspitzen kleben; immer verfolgen arme, halbnackte Kinder die Fremden mit dem Ausrufe: Pittore! pittore! Inglese! Mezzo baiocco! Kleine römische Münze. (Für sie ist jeder Fremde, der zu Besuch kommt, Maler oder Engländer.) Die Wege, wenn es deren gibt, sind nichts als unförmige Stufen, die im Felsen kaum angedeutet sind. Man trifft Müßiggänger, die einen auf eigene Art betrachten; Frauen, Schweine treibend, die, zusammen mit dem Mais, den ganzen Reichtum des Landes ausmachen; junge Mädchen, mit einem schweren kupfernen Krug oder einem Bündel Reisig auf dem Kopf; und alle so elend, so ärmlich, so abgerissen, so ekelhaft schmutzig, daß es, trotz der natürlichen Schönheit der Rasse und dem malerischen Wurf ihrer Gewandung, schwierig ist, bei ihrem Anblick etwas anderes, als ein Gefühl des Mitleids zu empfinden. Und dennoch fand ich das größte Vergnügen daran, diese Nester zu Fuß zu durchqueren, die Flinte in der Hand, oder selbst ohne Flinte.
Wenn es wirklich galt, irgendeine unbekannte Bergspitze zu erklimmen, trug ich Sorge, das schöne Instrument mit mir zu nehmen, dessen Vorzüge die Begehrlichkeit der Abruzzenbewohner genugsam reizte, um sie auf den Gedanken zu bringen, es von seinem Besitzer zu trennen; sie hätten ein paar scheußliche Karabiner verräterisch hinter einer alten Mauer versteckt und ihm gelegentlich einige Kugeln nachgesandt.
Durch den häufigen Besuch ihrer Dörfer stand ich schließlich in sehr gutem Einvernehmen mit den wackern Leuten. Crispino namentlich hatte mich in sein Herz geschlossen; er erwies mir Dienste jeder Art, besorgte mir nicht allein wohlriechende Pfeifenröhren von vortrefflichem Geschmack, Damals rauchte ich, hatte noch nicht entdeckt, daß mir Erregung durch Tabak außerordentlich schädlich ist. nicht nur Pulver und Blei, sondern auch Zündhütchen, man denke: Zündhütchen!, in diesem verlorenen, von Kunst und Industrie unberührten Lande. Überdies kannte Crispino alle sauberen Ragazze auf zehn Meilen im Umkreis, ihre Neigungen, ihre Verhältnisse, ihren Ehrgeiz, ihre Leidenschaften, auch die ihrer Eltern und Liebhaber. Er hatte ein genaues Kennzeichen für die Grade der Tugend und des Temperaments einer jeden, und es war manchmal sehr unterhaltend, dieses Thermometer zu befragen.
Seine Zuneigung war übrigens begründet; ich hatte eines Nachts das Ständchen dirigiert, das er seiner Liebsten brachte; ich hatte mit ihm der jungen Leichtsinnigen ein Lied gesungen, das damals bei den Stutzern in Tivoli im Schwange war; ich hatte ihn mit zwei Hemden, einem Paar Hosen beschenkt, und, als er mir einmal den Respekt verweigerte, mit drei prächtigen Fußtritten auf den Hintern. Das ist eine Lüge. Sie entspringt der Neigung, die stets von Künstlern gehegt wird, effektvolle Phrasen zu schreiben, wie sie meinen. Ich habe dem Crispino niemals Fußtritte gegeben; nur Flacheron, als einziger unter uns, hat sich diese Freiheit gegen ihn herausgenommen.
Crispino hatte keine Zeit gehabt, lesen zu lernen, und schrieb mir nie. Wenn er mir irgendeine interessante Neuigkeit außerhalb der Berge zu bringen hatte, kam er nach Rom. Das war, per un bravo, wie er, ein Marsch von gut und gern dreißig Stunden. Wir hatten auf der Akademie die Gewohnheit, unsere Zimmertüren offen zu lassen. Eines Morgens im Januar (ich hatte die Berge im Oktober verlassen, langweilte mich also seit drei Monaten), als ich mich im Bett umdrehte, gewahrte ich vor mir einen hochgewachsenen schwarzbraunen Bösewicht mit spitzem Hut, umwickelten Beinen, der ganz bescheidentlich auf mein Erwachen zu warten schien.
– »Sieh da! Crispino! Was machst du in Rom?«
– » Sono venuto ... per vederla!«
– »Ja, um mich zu besuchen, und sonst?«
– » Crederei mancare al più preciso mio debito, se in questa occasione ...«
– »Unter welchen Umständen?«
– » Per dire la verità ... mi manca ... il danaro.«
– »Das laß ich mir gefallen, das heißt man wirklich die Wahrheit sagen! So, du hast kein Geld! Und was soll ich dabei tun, birbonaccio?«
– » Per Bacco, non sono birbone!«
Ich übersetze den Rest seiner Antwort:
– »Wenn Sie mich Lump nennen, weil ich keinen Pfennig habe, so sind Sie im Recht; aber wenn Sie's tun, weil ich zwei Jahre in Cività-Vecchia war, so haben Sie sehr unrecht. Man hat mich nicht auf die Galeere geschickt, weil ich gestohlen, wohl aber trefflicher Flintenschüsse, berühmter Messerstiche wegen, die ich im Gebirge den Fremden ( forestieri) applizierte.«
Mein Freund schmeichelte sich gewiß; er hatte vielleicht nicht einmal einen Mönch umgebracht; aber schließlich: er besaß Ehrgefühl, wie man sieht. So nahm er denn auch in der Entrüstung nur drei Piaster, ein Hemd und ein Tuch an, ohne warten zu wollen, bis ich meine Stiefel angezogen, ihm ... den Rest zu geben. Der arme Junge starb vor zwei Jahren an einem Steinwurf gegen den Kopf, den er im Streit erhalten hatte.
Werden wir uns wiedersehen in einer besseren Welt? ...