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Frau Dagmar war das einzige Kind des vor zwei Jahren verstorbenen dänischen Baron Aarhuis, der im Krieg sein ohnedies enormes Vermögen durch Lieferungen für England verzehnfachen konnte. Seine Tochter hatte nach seinem Tode ungefähr zwanzig Millionen Kronen geerbt, aber nicht wertlose österreichische, sondern dänische Kronen. Die Frau des Baron Aarhuis war eine Wienerin gewesen, eine Gräfin Wallwitz, die aber schon lange tot war. Die Tochter Dagmar pflegte nun in Wien bei ihren Verwandten immer einen Teil des Jahres zu verbringen und bei dieser Gelegenheit habe sie auch kurz nach Beginn des Weltkrieges den Baron Imre Tökely, einen schneidigen ungarischen Offizier, kennen gelernt, dessen Finanzen allerdings recht sehr in Unordnung geraten waren. Nun, der alte Aarhuis war einverstanden und so wurde denn Hochzeit gemacht.
Das Eheglück dauerte aber nicht lange, es müsse sich irgend etwas ereignet haben, was natürlich nicht in die Öffentlichkeit gedrungen sei, jedenfalls habe sich Baron Tökely, der in Wien im Generalstab war, plötzlich, nach kaum vierzehntägiger Ehe, freiwillig an die Front gemeldet, wo er denn auch beim Durchbruch in den Karpathen an der Spitze seiner Eskadron gefallen sei. Die Leiche wurde nach Wien gebracht, aber Frau Dagmar habe das gar nicht abgewartet, sondern sei rasch zu ihrem Vater nach Kopenhagen gefahren, um dort in voller Zurückgezogenheit zu leben. Erst vor einem Jahr sei sie nach Wien übersiedelt, habe hier ein wunderbares Palais in der Prinz-Eugen-Gasse gekauft und königlich eingerichtet und lebe dort allein, ihres Geldes wegen viel umworben, von Tanten und Basen beneidet und bemuttert, aber ersichtlich verbittert. Überhaupt — sie sei eine sehr geistvolle, aber reichlich boshafte Person, die einem mit größter Gemütsruhe Unannehmlichkeiten sagen könne und scheinbar nicht die geringste Absicht habe, nochmals das Glück der Ehe zu versuchen.
Kolo ließ den kleinen, dicken Kutschera reden und hielt sich an das Tatsächliche, das dieser geschwätzige Herr erzählte, ohne seinen psychologischen Schlußfolgerungen viel Beachtung zu schenken. Und der Gedanke an Dagmar Tökely, die ihn reizte, ohne ihm zu gefallen, folgte ihm in den Schlaf, den er erst fand, als die Stadt längst zum Leben und zur Arbeit erwacht war.
Frau Dagmar war allein, als Kolo Isbaregg am nächsten Freitag seinen Besuch machte. Konventionelle Begrüßung, leichte weltmännische Unterhaltung, an die Ballnacht anknüpfend, und es dauerte eine geraume Weile, bevor beide die Maske fallen und erkennen ließen, daß sie einander suchten, prüften, in die geheimen Winkel der Seele eindringen wollten. Dagmar ließ in reichlich mokanter Weise ihre gräflichen und freiherrlichen Verwandten und Bekannten Revue passieren, und mehr als einmal fühlte sich Kolo durch die rücksichtslose Härte ihres Urteils unangenehm berührt. Er kleidete das schließlich in Worte: „Ich sehe also, daß Sie einen großen Bekanntenkreis, aber keine Freunde haben, geistig turmhoch über all den Leuten stehen, mit denen Sie verkehren, also eigentlich inmitten des ganzen gesellschaftlichen Trubels einsam sind. Sie sind, wie Sie selbst mir sagen, musikalisch, ohne sich aber der Musik ganz ergeben zu können, Sie reisen gerne, aber eine innere Unrast läßt Sie nie lange an einem Ort verweilen. Sie sind zu klug, um bei dem Wohltätigkeitsschwindel, dem Ihre Kreise noch immer ganz gerne huldigen, mitzumachen, und zu kritisch, zu wenig naiv, um sich an Basarveranstaltungen und Hausfesten zu beteiligen. Sicher haben Sie als Dame der großen Welt, die ein ganzes Palais bewohnt und ein kleines Heer von Bedienten besoldet, viel zu tun, aber doch nur in rein äußerlicher Weise. Was nun bildet den Inhalt Ihres Lebens? Was füllt Sie aus, worauf freuen Sie sich?“
Dagmar schwieg eine ganze Weile, bevor sie erwiderte:
„Sie stellen Fragen, die kein anderer nach so kurzer Bekanntschaft stellen dürfte. Aber Sie gehören, scheint es, zu den Männern, denen man gleich vertraut, die den Typus des verständnisvollen und sympathischen Beichtvaters bilden. Und so will ich Ihnen auch gerne antworten: Nichts füllt mich aus, mein Leben hat keinen Inhalt — ich warte! Ich warte auf das große Wunder und Abenteuer, ich warte, daß ein Mensch oder ein Ding kommt oder eine Idee oder irgend etwas, was mich ganz ergreift, meine Kritik und Selbstbeobachtung, mein ‚Über-den-Dingen-stehen‘ vernichtet und mich untertauchen läßt, so daß von mir nichts übrig bleibt, als ein dummes Weibchen, wie es alle anderen sind!“
„Das heißt, Sie warten auf den Mann, nicht auf einen Mann, sondern auf den Mann, der Ihnen bestimmt ist und irgendwo wartet, bis er Sie erlösen kann!“
Dagmar hatte sich verfärbt, ihre Augen irisierten, sie schaute schief und scheu vor sich hin und sagte tonlos:
„Sie haben es erraten, Sie kluger Mann, Sie! Ich tue das, was alle anderen Frauen, die ihn noch nicht gefunden haben, tun. Ich warte auf den Herrn, der mir Gott und Gebieter sein kann, so daß ich in Selbstvergessenheit versinke und zu seiner demütigen Magd werde.“
Und weil damit das Gespräch zu einem Punkt gediehen war, der überwunden werden mußte, lachte Frau Dagmar schrill und nervös auf:
„Das nenn‘ ich eine nette Fortsetzung unserer Redoutenunterhaltung! Pfui, wie dumm, klug sein zu wollen! Sprechen wir lieber über die neueste Skandalgeschichte im Hause Niederlohe, in dem es, seitdem man durch Volkswillen nicht mehr fürstlich ist, so plebejisch zugeht, daß man wirklich an dem Märchen vom blauen Blut verzweifeln könnte.“
Und Frau Dagmar erzählte, wie Frau Irene Niederlohe ihren Gatten in ihrem Boudoir in zärtlicher Umarmung mit der Zofe angetroffen habe, als sie unerwartet früh von einem Spazierritt heimgekehrt war. Die ebenso temperamentvolle, als schöne junge Frau habe zum Schlag mit der Reitgerte ausgeholt, aber die Zofe sei ihr drohend entgegengetreten und habe die Worte gezischt: „Wenn gnädige Frau sich nicht schämen, mir meinen Peter abspenstig zu machen, so werde ich mich doch wohl an Ihrem Herrn Gemahl schadlos halten dürfen!“ Worauf sich Herr und Frau Niederlohe derart in die Haare gerieten, daß die Zofe sie mit Hilfe des Kammerdieners Peter trennen mußte. Das Ende dieser kleinen Affäre war — das Ehepaar versöhnte sich und Peter konnte mit Hilfe einer ansehnlichen Mitgift, die er von dem gnädigen Herrn und der gnädigen Frau erhielt, seine Fanni heiraten.
So war man aus dem schweren, trüben Strom der Gedanken in das seichte, aber amüsante Geplätscher kleiner Frivolitäten gekommen, als die Glocke des Tischtelephons erklang.
„Doktor Löwenwald? Natürlich, Sie sind willkommen, wie immer. Ich erwarte Sie!“
Frau Dagmar erklärte: „Sie hatten unrecht, als Sie vorhin meinten, ich hätte keine Freunde. Einen wenigstens habe ich und den werden Sie sofort sehen. Ein seltsames Menschenkind, das ich noch als Mädchen vor Jahren an der Ostsee kennengelernt habe. Doktor Ludwig Löwenwald, ein Rechtsanwalt, aber wahrhaftig kein Rechtsverdreher, sondern der lauterste, feinste und gütigste Mensch, den es nur geben kann. Ein Jude, aber einer von jenen Juden, die nicht an Judas, sondern an Christus erinnern.“
Und da sie einen verdrossenen Zug über Kolos schönes Gesicht gleiten sah: „Nun, sind Sie ärgerlich. Sehr schmeichelhaft für mich, weil das beweist, daß Sie lieber mit mir allein bleiben wollten.“
Isbaregg lächelte: „Nicht nur das hat meine Laune getrübt, sondern Ihre einleitende Bemerkung, daß dieser Herr Ihr einziger Freund sei. Ich war anmaßend genug, mich selbst als Ihr Freund zu fühlen, obwohl ich Sie heute erst zum zweitenmal sehe.“
„Zum drittenmal, denn Redoute, Tabarin und mein Zimmer — das sind drei ganz verschiedene Welten! Was aber Ihren Wunsch betrifft, mein Freund zu sein — nun“ — die Worte kamen heiser und gepreßt aus Dagmars Mund — „Sie sind nicht der Mann, mit dem ein Weib Freundschaft. halten kann.“
Kolo war zufrieden. Das war ein Geständnis! Und er fühlte, wie die Fäden sich enger und enger um ihn und diese Frau, die er nicht kannte und nicht liebte und doch nicht gleichgültig betrachten konnte, woben.