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Isbaregg riß die Fensterflügel auf und ließ die milde Aprilsonne hereinfluten. Er nahm einen Feldstecher und blickte auf das Menschen-, Wagen- und Pferdegewimmel unter sich. Ganz famos hatte er doch dieses Absteigequartier gewählt. Kurz nach der Hochzeit war er auf die Suche gegangen, um ein stilles, sicheres Versteck zu finden, in das er vor dieser Ehe flüchten und sein eigenes Leben führen könnte. Es galt vorsichtig zu sein, denn Dagmar war von brennender Eifersucht erfüllt, und besonders seitdem ihre dänische Jugendfreundin bei ihr war, fühlte er sich von vier Augen beobachtet und war nicht sicher, ob man ihm nicht nachschleichen und nachspüren würde. Die üblichen Absteigequartiere in stillen Vorstadtstraßen kamen nicht in Betracht, es mußte eine Gegend sein, in der gesehen zu werden nicht auffallen konnte, ein Haus, das zu betreten nicht verdächtig war. Tagelang annoncierte Kolo, beantwortete Inserate, suchte Straße auf und Straße ab, ohne Passendes finden zu können. Bis ihm der Zufall in wunderbarer Weise günstig war. Als er eines Nachmittags seinen Freund, den Rechtsanwalt Löwenwald, aus dessen in der Operngasse gelegenen Wohnung und Kanzlei abholte, hing auf dem Haustor ein Zettel mit den Worten: Atelier zu vermieten. Und richtig, hoch oben, über dem fünften Stockwerk, hatte sich ein photographisches Atelier befunden, das zugrunde gegangen war. An einen mit Glasdach gedeckten großen Raum schlossen sich zwei Zimmer und ein Vorraum, nach allen Richtungen hatte man freie Aussicht, kein Gegenüber, keine Nachbarschaft. Kolo mietete sofort, ließ die Räume geschmackvoll und üppig möblieren, kaufte Teppiche für alle Winkel und Ecken, gute Bilder und richtete sich behaglich ein. Nun hatte er, was er wollte. Das Haus lag an der Ecke der Operngasse und Ringstraße, also im Herzen der Stadt, und selbst wenn ihn Dagmar aus- und eingehen gesehen hätte, so würde sie sich nicht gewundert haben, weil eben Löwenwald in diesem Hause wohnte. Und außerdem hatte es zwei Eingänge, von der Elisabethstraße und vom Ring aus, so daß man leicht spurlos verschwinden konnte.
Allerdings, Ludwig Löwenwald mußte ins Vertrauen gezogen werden, schon deshalb, weil Kolo das Atelier nicht unter dem eigenen Namen mieten konnte. Löwenwald pfiff leise vor sich hin und machte ein bekümmertes Gesicht.
„Du weißt, daß ich kein Moralfatzke bin und wenn ein Ehemann Seitensprünge macht, so ist das eine Angelegenheit, die nur ihn angeht. Aber sei vorsichtig, Kolo! Du weißt selbst, wie eifersüchtig Dagmar ist und wie empfindsam und mißtrauisch. Wenn sie dich auf einer Untreue, noch dazu auf einer methodisch durchgeführten, ertappen würde, so wäre das ein Schlag für sie, den sie kaum überwinden könnte. Wenn mich jemand um etwas bittet, so kann ich nicht nein sagen, aber wirklich gerne gebe ich dir nicht meinen Namen für das Mieten des Ateliers!“
Schließlich tat er es aber doch und so ging alles glatt und gut.
Kolo starrte noch immer durch das Glas auf die Straße hinunter. Da fuhr eben vom Ring her kommend sein mächtiger, blauer Fiatwagen und bog nach der Kärntnerstraße ein. Unwillkürlich zuckte Kolo zurück. Aber Unsinn! Niemand konnte ihn da oben erblicken. Richtig, im offenen Auto saß Dagmar im Zobelpelz — sie fror ja immer, womöglich auch, wenn andere Leute schwitzten — und neben ihr ihre Freundin Helga Esbersen.
Kolo fröstelte es jetzt selbst, er schloß die Fenster und ging in dem molligen, mit sinnlicher Behaglichkeit eingerichteten Zimmer auf und ab. Verflucht! Er hatte Dagmar halb und halb zugesagt, ins Hotel Astoria zum Tee zu kommen, und nun saß sie dort mit dieser Helga, die sie durch kleine, ironische Bemerkungen aufstacheln würde! Er kam natürlich nicht, und abends würde Dagmar ihn mit Vorwürfen überhäufen, vielleicht sogar ihre widerwärtigen Weinkrämpfe bekommen und er müßte sie schließlich durch Zärtlichkeiten beruhigen, während Helga ihr eigenes Lächeln auf den vollen Lippen haben und ihn aus den großen, fast tiefblauen Augen so merkwürdig ironisch ansehen würde.
lsbaregg schüttelte sich. Puh, wie ekelhaft war das alles! Er hatte sich das Leben doch anders, ganz anders vorgestellt! Was bedeutete es ihm heute, daß Dagmar eine der reichsten Frauen des Landes war, was nützten ihm die Schlösser in Dänemark und Tirol, die vier Kraftwagen, die Pferde im Stall, die vielen Diener, die kostbaren Gemälde? Er war dabei unfreier als je zuvor in seinem Leben, versklavt und in Fesseln! Und die Unfreiheit, die Fesseln, die Abhängigkeit, die Eifersucht Dagmars, dieses Rechtfertigung-über-jede-Stunde-geben-Müssen — das alles hätte sich ertragen lassen, wenn nicht die Nächte, die furchtbaren Nächte gewesen wären!
Kolo blieb vor einem großen Spiegel stehen und sah sich forschend an. Wie nervös und bleich er aussah! Die zwei tiefen Falten, die von der Nase zu den Mundwinkeln gingen! Das waren die Nächte, die Nächte, erfüllt mit grauenhaftem Komödienspiel! Siedend heiß stieg es in ihm auf. Oh, wenn er dieses Weib, das sich in hysterischer Liebesraserei ihm um den Hals warf, hätte erwürgen können, wenn es immer wieder girrend fragte: „Liebst du mich noch?“ oder aber schluchzend und anklagend schrie: „Du liebst mich nicht mehr!“
Kolo ballte die Fäuste und die Adern traten ihm auf der Stirne hervor. Dagmar hatte ihn einfach gekauft, wie man einen teueren Hund, ein gutes Pferd kauft! Nur daß der Hund beißen und das Pferd ausschlagen kann. Er durfte nicht aufmucken, nein, er mußte die Komödie des zwar nicht überaus feurigen, aber doch sehr zärtlichen Ehemannes weiterspielen, bis zum Ende, ja, bis zu seinem oder ihrem Ende! Denn das wußte er ganz genau: Wenn er erst die Maske nur eine Sekunde fallen ließ, dann würde alles aus sein, dann würde der ganze in ihm aufgespeicherte Haß und Ekel losbrechen und er würde Dagmar Dinge in die Ohren brüllen, nach denen ein Zusammenleben auch nicht eine Minute lang möglich wäre.
Und nun noch diese Helga, die so ironisch lächeln konnte, aber so, daß nur er es bemerkte, die diskret verschwand, wenn er die Gegenwart einer dritten Person als Wohltat empfunden hätte, die ihm morgens, wenn er beim Frühstück verstört, gereizt, gallig erschien, mit ihren forschenden Augen in die Seele blickte! Diese Helga, die immer zu seiner Frau hielt, die er am liebsten zum Teufel gejagt oder aber — in seinen Armen erdrückt hätte!
Er raste weiter im Zimmer auf und ab. In diesem Moment sah er klar und deutlich, daß er die Dänin, die er haßte, leidenschaftlich begehrte, daß seine aufgepeitschten, wunden Sinne nach ihr schrien und er sie so oder so erringen mußte, durch Güte oder durch brutale Gewalt!
Helga Esbersen war eine Jugendfreundin Dagmars noch aus der gemeinsam in der Schweiz verbrachten Pensionatszeit her. Späterhin war das junge Mädchen, das aus vornehmer, aber armer dänischer Familie stammte und verwaist war, mit einer alten Tante auf Reisen gegangen und Dagmar hörte wenig von ihr, las nur in angesehenen Zeitschriften geistvolle und ungewöhnlich tiefe, aber mit grausamer Schärfe geschriebene Artikel aus der Feder Helga Esbersens, die das Wahlrecht der Frau, ja deren Überlegenheit dem Manne gegenüber in leidenschaftlicher Weise verfocht. Im Spätherbst hatte nun die Freundin telegraphisch bei Dagmar angefragt, ob sie sie besuchen dürfe und Dagmar war überglücklich gewesen. Seither lebte Helga bei ihnen und machte um so weniger Anstalten, abzureisen, als Dagmar immer wieder erklärte, sie unter keiner Bedingung fortzulassen.
Kolo hatte von Anfang an das Empfinden gehabt, daß Helga Esbersen ihn und sein Verhältnis zu Dagmar sofort durchschaut habe, obwohl er seine bittere Rolle so gut spielte, wie kaum ein zweiter Mann es hätte können. Dagmar selbst kam nur ganz langsam, schrittweise, zur Überzeugung, sich in ihrem Gatten getäuscht zu haben, noch nahm sie seine Liebkosungen als echt entgegen, wenn auch schon die Qual des Zweifels und Mißtrauens öfter und öfter einsetzte. Am dritten oder vierten Tag ihres Wiener Aufenthaltes hatte nach dem Souper Kolo am Klavier ein wenig phantasiert und Dagmar sich dann zärtlich über ihn gebeugt, worauf er sie auf seine Knie zog und küßte. Dagmar war dann aus dem Zimmer gegangen und er mit Helga allein geblieben. Sie sah aus der Zeitschrift, die sie in der Hand hielt, auf, warf einen flüchtigen Blick auf ihn und meinte dann scheinbar ganz gleichgültig:
„Hat es Sie nie zur Bühne gelockt? Sie haben doch sicher Talent!“
Das kam ganz harmlos heraus und doch empfand Kolo den spöttischen Sinn dieser Bemerkung. Und von da an wußte er ganz genau, daß dieses Mädchen ihn erkannte, belauerte und innerlich verachtete, leise und vorsichtig seine Frau gegen ihn auf hetzte, kurzum, kampfbereit und willens war, sich eines Tages ihm in den Weg zu stellen.
Er lachte laut und grell auf. Jetzt, wo er sich klar war, daß er das scheinbar männerfeindliche und unberührte Weib begehrte, jetzt würde er wissen, wie mit ihr fertig zu werden. Überhaupt — langsam wandelte sich seine Verdrossenheit in gute Laune, und als es an die Wohnungstüre klopfte, machte er heiter auf und trug die kleine blonde Puppe, die ihn besuchte, vom Vorzimmer aus lachend auf seinen starken sehnigen Armen in das Schlafzimmer. Und Puzzi, der Tanzstar des Apollotheaters, konnte an diesem Abend in der Garderobe den neidischen Kolleginnen nicht genug von der Leidenschaftlichkeit und Noblesse ihres Kavaliers erzählen.