Hugo Bettauer
Hemmungslos
Hugo Bettauer

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XV. Kapitel

Es war Ende November, als das Ehepaar nach einer „Parsifal“-Vorstellung spät nachts nach Hause kam und noch sein Abendessen einnahm.

Kolo hatte einen schweren, alten Bordeaux heraufbringen lassen, den er besonders liebte. Als sich Dagmar durch die Zofe schon zur Nacht hatte umkleiden lassen, besuchte er sie noch in ihrem Schlafzimmer, das neben dem seinen, durch einen Ankleideraum getrennt, lag, brachte ihr ein Glas Wein und riet ihr, die Tropfen mit dem schweren Wein zu nehmen, worauf sie sicher gut schlafen würde. Dagmar, die schon auf dem Bett saß, schmiegte sich an ihn und flüsterte:

„Willst du nicht noch bei mir bleiben?“

Kolo machte eine abwehrende Gebärde und ein harter Zug, den sie kannte und fürchtete, trat auf sein Gesicht, so daß Dagmar mit verschleierter Stimme und tränenfeuchten Augen sagte: „Nein, geh nur, ich bin ohnedies recht müde.“

Er ging dann zum Apothekerschränkchen, das an der Wand hing, und mischte die Tropfen in den Wein, ohne daß Dagmar merken konnte, daß es nicht die verschriebenen fünf Tropfen, sondern deren eine ganze Anzahl waren, die er in das Glas fallen ließ. Ohne mit der Hand zu zittern, reichte er ihr den Trunk, den sie gehorsam auf einen Zug hinunterschlürfte. Dagmar schüttelte sich: „Wie bitter das im Wein schmeckt!“

Aber das Gefühl dieses bitteren Trankes schwand rasch, denn Kolo beugte sich liebevoll zu ihr hinab, küßte sie viel inniger, als er es seit langem getan, und blieb, auf dem Rande des Bettes sitzend, noch bei ihr, bis eine grenzenlose Müdigkeit über sie kam und ihr die Augen schloß.

In seinem Zimmer ging Kolo noch eine Stunde lang auf dem weichen Teppich, der jedes Geräusch verschlang, auf und ab, nachdem er seinen Kammerdiener gesagt hatte, er brauche ihn nicht mehr. Leise betrat er das Schlafzimmer seiner Frau. Er horchte auf ihren tiefen, schweren, fast röchelnden Atem und legte den Bogen Briefpapier, den Dagmar der graphologischen Spielerei halber vor einigen Tagen ausgefüllt hatte, auf das Nachtkästchen, um dann selbst den Schlaf zu suchen, denn er erst frühmorgens fand.

Zum Frühstück, das in einem Parterresaal eingenommen wurde, erschien Dagmar nicht, und auf eine Frage der Kammerzofe erklärte Kolo, seine Frau, die sich gestern sehr müde und nicht wohl gefühlt, habe nachdrücklich ersucht, nicht geweckt zu werden. Er verließ dann das Haus, schlenderte zu Fuß in die Innere Stadt, besuchte einen Buchhändler, um größere Einkäufe zu machen, ging in den Klub, wo er die Zeitungen durchblätterte, und kam erst gegen zwei Uhr, zur Zeit, wo bei ihm gespeist zu werden pflegte, nach Hause. Er hörte sein Herz schlagen und seine Pulse klopfen, als er durch das Portal an der Portierloge vorbeischritt. Der Portier grüßte tief wie immer und hatte keine Mitteilung zu machen. Aufatmend ging er die teppichbelegte Treppe nach dem ersten Stockwerk hinauf, wo der Hausdiener wartete, um ihm Rock und Hut abzunehmen. Im Speisesaal war gedeckt, aber Dagmar nicht zu sehen. Kolo ließ die Zofe kommen und fragte nach dem Befinden der gnädigen Frau. Bestürzt und besorgt erklärte sie, daß die gnädige Frau noch immer schlafe. Das Schlafzimmer sei noch immer dunkel und sie habe nicht gewagt, die Gnädige zu wecken.

„Klopfen Sie jetzt leise und vorsichtig an und gehen Sie hinein, wenn die gnädige Frau nicht antwortet.“

Nach wenigen Minuten kam die Zofe totenblaß und aufgeregt zurück.

„Gnädiger Herr, kommen Sie, bitte, ich glaube, der gnädigen Frau ist etwas geschehen.“

Kolo stürzte hinter ihr her in das Schlafzimmer, riß die Jalousien in die Höhe und beugte sich über Dagmar, die, wachsgelb im Gesicht, mit geschlossenen Augen dalag. Er rief sie an, ergriff ihre kalte Hand, schüttelte sie, versuchte den Oberleib zu heben, der schwer und starr wieder zurücksank und alarmierte nun die ganze Dienerschaft. Der Portier, das Stubenmädchen, der Koch — sie alle liefen um Ärzte, während die Zofe schluchzend nach einem bekannten Arzt, der in der Nähe wohnte, telephonierte. lsbaregg aber stand am Bett und rieb die Schläfen Dagmars mit kaltem Wasser.

Zwei Ärzte kamen nach wenigen Minuten, beide konstatierten nach kurzer Untersuchung, daß Frau Dagmar lsbaregg nicht mehr am Leben sei. Die Polizei wurde verständigt, eine Gerichtskommission kam, der Polizeiarzt bestätigte den Befund der Kollegen und konstatierte entschlossen: „Allem Anschein nach liegt eine Morphiumvergiftung vor!“ Der Polizeibeamte hatte indessen den Briefbogen auf dem Nachtkästchen entdeckt, den er schweigend las, dem Gatten zum Lesen gab und dann in seiner Aktentasche mitnahm. Die Leichenöffnung bestätigte die Morphiumvergiftung, und daß ein Selbstmord vorlag, ging klar und unbestreitbar aus dem Abschiedsbrief der unglücklichen Frau hervor, dessen Authentizität durch andere Schriftstücke der Verstorbenen unschwer erwiesen wurde.

Als Löwenwald in dem Palais eintraf, fand er den Freund bleich, ersichtlich tief erschüttert, aber gefaßt vor, und der Rechtsanwalt, der Frau Dagmar sehr geschätzt und verehrt hatte, drückte dem Freunde in stummer Ergriffenheit die Hand. Er übernahm alles Formelle und am nächsten Tag las man in allen Zeitungen die sensationelle Nachricht von dem plötzlichen Ableben der Frau Dagmar Isbaregg, geborener Baronesse Aarhuis, die versehentlich eine zu große Dosis Morphium vor dem Einschlafen genommen habe. Die Zeitungen erfuhren wohl, daß ein Selbstmord vorlag, hatten aber auf Betreiben Löwenwalds keine Notiz davon genommen.

Das Leichenbegängnis fand in aller Stille statt, nur Löwenwald und die nächsten Verwandten Dagmars nahmen außer Kolo daran teil. Als aber die Testamentseröffnung ergeben hatte, daß Isbaregg der absolute Alleinerbe war, bekam die arme Frau eine recht üble Nachrede von seiten der Rasumoffskys und der anderen Tanten, Basen und Vettern.

Kolo fuhr bald darauf nach Kopenhagen, um die Erbschaftsangelegenheiten dort in Ordnung zu bringen, die Millionen seiner Frau auf sein Konto übertragen zu lassen, die Gutsverwalter zu bestätigen und das feudale Schloß derer von Aarhuis zu übernehmen. Er blieb viele Wochen von Wien fern und hielt sich in Berlin, Hamburg und Frankfurt auf, bevor er zurückkehrte.

In München aber hatte Helga Esbersen mit fassungslosem Entsetzen die Nachricht vom Tode der Freundin vernommen. Wie ein verwundetes Tier hatte sie aufgeschrien und dann lange, lange mit weit auf gerissenen Augen vor sich hingestarrt. Einmal machte sie Anstalten, nach Wien zu fahren, aber im letzten Moment befiel sie eine Apathie, die sie an der Reise verhinderte.


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