Hugo Bettauer
Hemmungslos
Hugo Bettauer

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VII. Kapitel

Derbytag. Ganz Wien war in der Freudenau, das alte Wien und das neue, die ehemalige Gentry von Österreich und Ungarn mit ihren Damen in betonter, vornehmer Schlichtheit und die im und nach dem Kriege Emporgekommenen, die allen Vermögensabgaben und Sozialisierungen zum Trotz Millionen aufgehäuft hatten und nun einen neuen, lärmenden Ton angaben und deren Frauen und Töchter oft den Schmuck aufgeladen hatten, den die ehemalige Aristokratin in der Loge stückweise veräußern mußte. Schöne Frauen in Hülle und Fülle, rassig und schlank die jungen Weiber aus den uralten Familien, schön auch oft genug die Frauen und Töchter der Parvenus, die mit wienerischer Geschmeidigkeit rasch die Manieren der wirklich vornehmen Welt annahmen und kraft ihres Reichtums demnächst ihr rotes Blut mit dem blauen der enttitelten, depossedierten Hocharistokraten von 1918 mischen würden.

Eben schritten die Derbycracks zum Start und zehntausend Feldstecher richteten sich dorthin, wo im nächsten Moment die weiße Fahne sinken und der Lauf beginnen würde, der über viele Millionen, die beim Totalisator und den Buchmachern gewettet waren, die Entscheidung zu bringen hatte. Kolo lsbaregg stand in der Loge, in die ihn Dagmar Tökely geladen hatte und in der außer ihnen auch die Tante Dagmars, Frau Thea Rasumoffsky, deren Neffe Hektor, eine Gräfin Wallwitz, Baron Kutschera und mehrere junge Herren sich drängten.

Ruhig, wie aus Erz gegossen, stand Kolo da, immer bereit, durch ein lustiges Wort, eine flüchtig dahingeworfene Bemerkung zu zeigen, daß ihn das Rennen da unten nicht sonderlich aufregen konnte. Und wirklich hätte kein Mensch ahnen können, daß er innerlich voll Aufregung und nervöser Spannung war. Kolo hatte in der letzten Zeit Unsummen ausgegeben. Schon sein normales Junggesellenleben verschlang bei der Teuerung, die nicht weichen wollte, große Beträge, dazu kam noch, daß er sich mit einer schönen, sehr talentierten Schauspielerin Iiiert hatte, die nichts besaß, Anfängerin war und erst lanciert werden mußte. Kolo, der das junge Geschöpf recht lieb hatte, übernahm es, ihr den Weg zu ebnen, ließ ihr kostbare Toiletten machen, richtete ihr eine reizende Wohnung ein, bis er vor einigen Tagen sich schließlich, wenn auch nur widerstrebend, entschlossen hatte, den Inhalt seiner Schreibtischschublade zu zählen. Und das Resultat war so deprimierend, daß er sehr nachdenklich wurde und — fast alles, was er noch besaß, zu riskieren beschloß. Der Herrenreiter Dumblinsky hatte ihm in sehr vorgerückter Stunde und einem Anfall von Vertraulichkeit mitgeteilt, daß nach Ansicht der Trainer nicht der hohe Favorit „Feldherr“, sondern der Außenseiter „Nationalrat“, der einem ehemaligen Schleichhändler und jetzigen Zuckerfabrikanten gehörte, die beste Chance habe, und Kolo wettete den Gaul in Beträgen von je zehntausend Kronen fünf zu eins bei acht Buchmachern. Errang „Nationalrat“ das blaue Band, so war er wieder obenauf, unterlag er — nun, dann war er eben fertig!

Heute, am Derbytag, war das Gerücht von der Vortrefflichkeit des „Nationalrat“ durchgesickert, einige Sportblätter hatten ihn direkt heraus als den sicheren Sieger getipt und so war der dunkelbraune Gaul in letzter Stunde hoher Favorit geworden, und die Leute stellten sich in Reihen von hunderten an, um beim Totalisator ihr Geld auf „Nationalrat“ wetten zu können, während der Favorit von gestern, „Feldherr“, kaum noch Beachtung fand.

Die Pferde kamen nicht vom Start fort, immer wieder verhinderte ein nervöser Gaul den Ablauf und die Spannung stieg ins Ungemessene. Frau Dagmar drehte sich um und winkte den Baron Kutschera zu sich:

„Wollen Sie versuchen, für mich noch tausend Kronen bei der Maschine zu placieren? Vielleicht geht es noch, und zwar auf ‚Feldherr‘. Sehen Sie, alle Pferde sind nervös und naß, nur ‚Feldherr‘ steht in eiserner Ruhe da und ist staubtrocken. Einfach vertraueneinflößend.“

Kutschera lief mit dem Tausendkronenschein fort und kam, als endlich der Start geglückt war, schweißtriefend zurück. Er hatte gerade noch den Tausender anbringen können und versicherte, daß „Feldherr“ beim Totalisator vollständig vernachlässigt worden war.

In rasendem Tempo flogen die vierzehn Pferde dahin, in einem Rudel, wie ein Klumpen, der unlösbar bleibt. Erst nach der halben Distanz lockerte sich der Knäuel, einige Gäule fielen glatt ab, andere schoben sich in den Vordergrund und schon ertönten die Rufe der Aufgeregten: „Feldherr“ — „Nationalrat“! Tatsächlich lagen die blauen Farben des „Nationalrat“ und die roten des „Feldherr“ dicht nebeneinander an der Tete.

Die Pferde bogen in die Gerade, die Hälfte von ihnen war aber schon so gut wie geschlagen. „Feldherr“ und „Nationalrat“ hatten sich ganz von den übrigen gelöst und ritten Gurt an Gurt.

Nun kamen die Derbykandidaten vor die Tribüne und die Aufregung wurde ungeheuer. Der Reiter des „Nationalrat“ riß seinen Gaul nach vorn, mit riesigen Galoppsprüngen gewann er Raum, während „Feldherr“ an ihm zu kleben schien. Ganz leise zitterte das Glas in der Hand Kolos: Ein paar Sekunden noch und er hatte sein Geld fünffach hereingebracht! Da plötzlich ein Raunen, das zum Brausen wurde, ein Toben und Heulen der Menschenmassen: „Davies“ — dies der Jockey des „Nationalrat“ — greift zur Peitsche, „Nationalrat“ fällt zurück, „Feldherr! Feldherr! Feldherr!“ Und richtig sauste wie ein abgeschossener Pfeil „Feldherr“ heran, schon lag er Hals an Hals neben dem Rivalen, auf den der Jockey mit der Kraft der Verzweiflung einhieb, nun hatte er ihn überholt und jetzt flog er als Sieger an der Richtertribüne vorbei — durchs Ziel.

Frau Dagmar klatschte vergnügt in die Hände und wendete sich zu dem hinter ihr stehenden lsbaregg: „Sehen Sie, ich habe Pferdeverstand!“ Und gleich darauf betroffen: „Warum so blaß, lieber Freund? Haben Sie sich auf ‚Nationalrat‘ so tief eingelassen?“

Kolo lächelte aber nur und sagte leichthin:

„Keine Spur! Nicht der Rede wert, nur hat mich der interessante Endkampf gepackt.“

Und während die Multimillionärin höchst vergnügt für ihren Tausendkronenschein zehn Stück zurückerhielt, überlegte Kolo und kam zu dem Resultat, daß er genau noch einen Monat seine Rolle würde spielen können, dann aber in der Versenkung verschwinden müsse. Wenn nicht ... Und schon straffte sich seine schlanke Gestalt und mit einem innerlichen Ruck schüttelte er die Energielosigkeit und Lauheit, mit der ihn das Wohlleben eines Jahres umhüllt hatte, ab. Nun galt es wieder zu handeln, das Leben zu meistern, hart, energisch, zielbewußt anzupacken. „Man muß sich auf den eigenen Kopf, nicht aber auf die Beine eines Gaules verlassen!“ Mit dieser Sentenz machte Kolo einen Strich unter die Vergangenheit.

Dagmar Tökely war in bester Laune und das beschloß Kolo zu nützen. Es erleichterte ihm auch in anderer Beziehung seine Pläne, weil Frau Dagmar, wenn sie den herben Zug um den Mund verlor, körperlich reizvoller wirkte. Die dünnen Lippen waren nicht so unhübsch, wenn sie lächelten, und die Augen in ihrer unbestimmbaren Farbe wurden gütig-blau, wenn sie Momente der Freude und Zufriedenheit schauten.

Das Verhältnis Kolos zu Frau Dagmar Tökely hatte sich im Laufe der Monate seltsam genug gestaltet. Er war ihr Freund geworden, ihr bester Freund sogar, denn Löwenwald hatte sich mit mildem Lächeln gerne in den Hintergrund zurückgezogen, aber auch nicht mehr als ihr Freund. Und doch wußte Kolo ganz genau, daß diese Frau mit erregten Sinnen auf ihn wartete und ihn mit der Leidenschaft der Unbefriedigten, in Gier und Selbstzermarterung liebte. Er fühlte aber auch, daß Dagmar Angst vor ihm, Angst vor sich selbst hatte und daß die Gefühle in ihr einander widersprachen, miteinander kämpften und Momente der sanftesten Zärtlichkeit, wie auch solche des aufsprühenden Hasses gegen ihn erzeugten. Vor allem aber wußte er, daß ihn Dagmar vollständig kalt ließ, er in ihr das verfeinerte Kulturwesen, die „Große Dame“, die kluge, gebildete Freundin verehrte, nie aber das Weib in ihr sah, niemals den Wunsch empfand, sie an sich zu reißen, niemals in seiner Phantasie sich mit ihr erotisch beschäftigte. Neben ihr hätte er auf einer Insel leben können, ohne sie zum Weibe zu begehren.

Und doch, heute stand der Entschluß fest und ehem in ihm da: Er mußte Dagmar Tökely gewinnen, mußte sie heiraten, um nicht in das Elend der Armut zurückzusinken!

Dagmar gab das Zeichen zum Aufbruch und lud Kolo ein, mit ihr und ihrer Tante Rasumoffsky und Vetter Hektor in die Stadt zu fahren. Diese Zusammenstellung hatte die Wirkung, daß Frau Rasumoffsky, die die Hoffnung, die reiche Nichte doch noch als Gattin des Lieblingsneffen umarmen zu können, nicht aufgeben wollte, wütend war, während Hektor, bis über die Ohren in eine niedliche Soubrette verliebt, angestrengt nachdachte, wie er bald loskommen könnte. Bevor man aber das Auto bestieg, fand Kolo noch Gelegenheit, Dagmar ein paar Worte zuzuflüstern:

„Sie sind heute so lieb, wie noch nie, und der Tag ist so schön! Ich möchte heute gerne Ihr einziger Gast in Ihrem Hause sein! Oder ist das zu unbescheiden?“

Dagmar blickte ihn leuchtend an:

„Nein, gar nicht, und ich wünsche dasselbe wie Sie! Na, ich werde die Tante schon loswerden. Jedenfalls erwarte ich Sie zum Souper bei mir!“ Im Wagen klagte Frau Dagmar über plötzlich aufgetauchte Kopfschmerzen, gegen die auch das Riechsalz der Tante nichts nützen wollte. Und die Tante, die eben vorher ein Souper im Familienkreise — wie sie mit einem bissigen Seitenblick auf Kolo bemerkte — vorgeschlagen hatte, erklärte schließlich ärgerlich: „Ja, dann ist es wohl am besten, du fährst nach Hause und legst dich bald nieder.“

In diesem Augenblick ging Kolo zum Angriff vor, indem er unter dem Schutz der Autodecke und als bei einer Kurve der Wagen so heftig schleuderte, daß die Tante vollauf mit sich beschäftigt war, während Hektor sanft schlummerte, die Hand Dagmars ergriff und preßte. Ein Zurückzucken zuerst, dann ein heißer, feuchter Gegendruck war die Antwort.


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