Hugo Bettauer
Hemmungslos
Hugo Bettauer

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V. Kapitel

Der Diener meldete: „Doktor Ludwig Löwenwald.“ Ein hagerer Mann mit der vornübergebeugten Haltung des Schwindsüchtigen, einen Zwicker vor den kurzsichtigen, heiteren Augen, betrat linkisch und eckig das Zimmer. Kolo, der immer auf der Jagd nach Typen war, lachte behaglich in sich hinein. Einen häßlicheren Menschen mit gewinnenderem Wesen hatte er kaum noch gesehen. Die scharfe jüdische Hakennase reichte dem Rechtsanwalt fast bis auf das vorspringende Kinn, der breite Mund war wulstig wie der eines Negers und aus dem schwarzen Kraushaar ragten schneeweiße Büschel hervor, wie Disteln aus einer Wiese. Dabei war Doktor Löwenwald von einer grotesken Schäbigkeit in seiner Kleidung, wie sie sich sonst wohl kaum in das Palais in der Prinz-Eugen-Gasse zu verirren pflegte. Zum langen schwarzen Gehrock trug er aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen dunkelblaue Beinkleider, die Manschetten rutschten immer wieder bis zu den Fingerspitzen und die mächtigen Füße waren mit Zugschuhen bekleidet, aus denen die Laschen neckisch heraustraten und sichtbar wurden, da die Hose zu kurz war. Aber die Hände! Schlanke, schneeweiße Marmorhände mit blauem Geäder, Hände, aus denen die Dekadenz der alten jüdischen Familie, Vornehmheit und feines, frauenhaftes Empfinden, deutlich jedem Kenner, sprachen. Und Kolo Isbaregg sah immer wieder die Hände dieses mageren, krummen Riesen an und fühlte eine Welle von Sympathie von sich zu ihm hinüberrauschen. Sympathie, der nicht einmal die Tatsache Abbruch tat, daß Dr. Löwenwald, als er sich an den Teetisch setzte, sofort ein Glas umwarf und ihm furchtbar auf den Lackstiefel trat.

Die Unterhaltung wurde fortgesetzt, wo sie unterbrochen war, und der Rechtsanwalt lachte ein gutmütiges, meckerndes Lachen, wenn Frau Dagmar ihre Bosheiten auftischte, erzählte selbst von dieser und jener bekannten Persönlichkeit ein Histörchen, das man boshaft hätte nennen können, wenn es nicht mit solchem Unterton von Wohlwollen und Güte herausgebracht worden wäre. Er sagte, daß er einen angenehmen und erfolgreichen Tag hinter sich habe. Er habe einen armen Teufel von Buchhalter zu verteidigen gehabt, der der fortgesetzten Unterschlagung angeklagt war. Dieser Buchhalter, der von seinem elenden Gehalt eine große Familie zu ernähren habe, sei durch Zufall in die Lage gekommen, seinem Chef monatlich sechzig Kronen zu unterschlagen, und zwar schon seit drei Jahren. Es sei nämlich einmal vor drei Jahren ein Laufbursch weggegangen, wobei man vergaß, seinen Gehalt von sechzig Kronen in den Büchern zu streichen. Und so habe der Buchhalter allmonatlich diese sechzig Kronen bekommen und für sich behalten. Der Staatsanwalt sei sehr streng mit dem Sünder ins Gericht gegangen und habe ihn einen Gewohnheitsverbrecher genannt. Da sei er, Doktor Löwenwald, aufgestanden und habe erwidert:

„Herr Staatsanwalt, ich bewundere Sie und neide Ihnen den Mut, den Sie an den Tag legen. Ich bin nämlich der festen Überzeugung, daß Sie an der Stelle des Angeklagten, der drei Kinder und eine Frau zu ernähren hat, genau so gehandelt hätten, ja ich behaupte sogar, daß es die tiefere menschliche Pflicht meines Klienten gewesen war, seiner Familie diese Summe zukommen zu lassen, als sie seinem reichen Chef zu erhalten.“

Daraufhin habe ihn der Vorsitzende wegen ungebührlichen Benehmens zu fünfzig Kronen Ordnungsstrafe verurteilt, aber die Geschworenen hätten gelacht und den Buchhalter freigesprochen.

Auch Frau Dagmar und Isbaregg lachten hell auf, aber Dr. Löwenwald seufzte:

„Was fang‘ ich nun mit dem armen Teufel an? Eine neue Stelle wird er schwerlich bekommen und wovon soll er mit den Kindern leben? Ich möchte ihn am liebsten in meine Kanzlei nehmen, aber ich kann . . .“ Dr. Löwenwald errötete und schwieg.

Frau Tökely stand auf, verschwand in dem nebenan gelegenen Bibliothekssaal und reichte dem Rechtsanwalt, als sie zurückkehrte, zehntausend Kronen mit der Bitte, den Betrag seinem Klienten zukommen zu lassen.

Dr. Löwenwald küßte ihre Hand und sagte schmunzelnd:

„Ich danke Ihnen, Sie sind sicher nicht das, was man eine gute Frau nennt, aber Sie sind ein ganzer Mensch und das ist mehr. Ich werde dem Mann das Geld sofort anonym ins Haus schicken, damit er nicht danken muß, das ist immer so peinlich und überflüssig.“

Kolo Isbaregg sah auf die nervösen Finger, die die Banknoten in die Brieftasche schoben, und liebte diesen Mann.

Sie brachen gemeinsam auf und der Rechtsanwalt nahm gerne die Einladung lsbareggs an, mit ihm das Abendessen in seiner Junggesellenwohnung einzunehmen. Da sie durch die Innere Stadt gegangen waren, kaufte Kolo rasch noch allerlei kalte Eßwaren ein und der Zufall wollte, daß die beiden Herren jenes Geschäft betraten, in dem vor nicht ganz einem Jahr Kolo als Hungernder gestanden war, bis die üppige, überhitzte Jüdin ihn durch ihre Blicke an sich gelockt und im Verlaufe der Ereignisse dadurch sein Leben eine Wendung genommen hatte. Und während die Verkäuferin den Schinken und die Würste schnitt, mußte Kolo wieder in die Vergangenheit zurückdenken, an den arbeitsfreudigen, Idealen nachjagenden Koloman von Isbaregg von gestern und dem ernüchterten, nur Lebensgenuß suchenden Kolo Isbaregg von heute. Bestimmen die Zufälligkeiten das Schicksal oder ist es der Mensch, der die Zufälligkeiten als Bausteine benützt — dieses uralte Problem beschäftigte ihn so stark, daß ihm die Verkäuferin eine ganze Zeitlang vergebens die Pakete hinhielt und Löwenwald verwundert in das versonnene Antlitz des neuen Freundes blickte.

Das Junggesellensouper gestaltete sich behaglich, der Diener Kolos servierte lautlos und geschickt, der Wein war gut und der schwarze Kaffee mit den Importierten löste die Stimmung vollends, weckte die Lust, aus sich herauszugehen, von sich zu erzählen, vom anderen zu erfahren. Kolo schilderte das Leben in Kanada, sprach von seiner Jugend und ging flüchtig über die letzten Jahre nach dem Kriege hinweg, indem er andeutete, daß er der Erbe seiner verstorbenen Onkels und Vormunds sei und daher das beschauliche Leben eines Bummlers führen könne.


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