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Zehntes Kapitel

Drei oder vier Tage seit der Abreise Fakredins waren verflossen und Tancred hatte an jedem dieser Tage Eva gesehen. Er verbrachte darum seine Stunden jetzt meistens im Zelte des großen Scheiks, und obwohl er mit der Tochter Bessos nie allein war, so verkehrten sie doch miteinander in einer Sprache, die ihrer Umgebung unbekannt war und die ihnen so erlaubte, sich über allerhand Gegenstände ungeniert auszusprechen. Tancred erzählte Eva alles ohne jegliche Reserve, denn er legte Wert darauf, Evas klares Urteil über seine eigenen Ideen zu vernehmen. Ihr eigener kluger Verstand stimmte aufs glücklichste mit seiner edlen Weltanschauung überein und er fand in ihr eine aufmerksame und stets sympathische Zuhörerin. Ihre leidenschaftliche Liebe zu ihrer Rasse, ihr großes Vertrauen zu der Zukunft und dem Genius Asiens interessierten Tancred ebenfalls auf das höchste. Mitunter, aber nicht ohne Zögern, machte sie eine Anspielung auf Tancreds augenblickliche, unangenehme Lage – es erschien ihr anscheinend unrecht, sie ganz mit Schweigen zu umgehen und auf der andern Seite taktlos, zuviel davon zu reden. Sie sprach oft und viel von Fakredin. Sie erzählte offen und mit einer gewissen Wärme, daß sie für ihn natürliche Hochachtung empfände, daß sie großes Vertrauen in seine Zukunft setze und eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten besäße – aber sie klagte gleichzeitig auch über seine planlose Phantasie, die oft sein Handeln störte und ließ sogar die Bemerkung fallen, daß er von dem Beistand eines etwas beständigeren und energischeren Freundes einen großen Nutzen ziehen könnte.

Nach einigen Tagen kam Fakredin wieder zurück. Er kam am frühen Morgen an und ging sofort in das Zelt des großen Scheiks, mit dem er in längerer Unterredung verblieb. Baroni überbrachte diese Nachricht zuerst Tancred und fügte hinzu, daß aus der Anzahl der vom Emir gerauchten Nargilehs zu entnehmen war, daß die Unterhaltung eine äußerst schwierige gewesen sein müsse. Bald darauf bemerkte Tancred, daß Fakredin aus dem Zelte Amaleks wieder herauskam. Sein gerötetes und vor Vergnügen strahlendes Antlitz schien eine gute Nachricht zu verbürgen. Sowie er Tancred bemerkte, begrüßte er ihn in orientalischer Art, indem er Lippen, Stirn und Herz berührte. Nähergekommen, warf er sich in seine Arme, küßte ihn und flüsterte ihm zu: »Freund meines Herzens, du bist frei!«

In der Zwischenzeit hatte Amalek seinem Stamme verkünden lassen, daß das Lager gegen Sonnenuntergang abgebrochen werden sollte und daß jetzt alle wieder in die syrische Wüste zurückkehren würden, und zwar durch jene Gegenden hindurch, die östlich vom Toten Meere gelegen seien. Eva würde sie begleiten und die Kinder Rechabs würden die Ehre haben, sie und ihre Dienerschaft bis zu den Toren von Damaskus zu bringen. Eine Abteilung von fünfundzwanzig Beni-Rechab sollten Fakredin und Tancred, Hassan und seine Jellahinen begleiten, und zwar nach einer entgegengesetzten Richtung der Wüste, bis sie Gaza erreichten, wo sie weitere Befehle des jungen Emirs abwarten sollten.

Sobald sich diese Nachricht verbreitet hatte, wurde das Stillschweigen, das bisher in dem Wüstenlager geherrscht hatte, plötzlich unterbrochen. Aus jedem Zelt und aus jeder Grabkammer kamen Menschen heraus. Alles war nun Lärm und Geschrei. Man sang, man schrie, man erzählte es den Pferden und benachrichtigte auch die Kamele von dem bevorstehenden Aufbruch. Man teilte schließlich einander mit, daß die Kamele ihre Einwilligung zum Aufbruch gegeben hätten, man prophezeite sich gegenseitig eine glückliche Reise, man stritt sich darüber, welche anderen Stämme man wohl auf dem Wege antreffen würde.

All die Kraft, die das Bewußtsein der Pflicht und einer großen Aufgabe verleihen kann, war notwendig, um Tancred über die Notwendigkeit, sich plötzlich von Eva trennen zu müssen, hinwegzubringen. Er bedauerte aufs innigste, daß er nicht mit ihr durch die syrische Wüste reisen konnte, aber er fügte sich in die Notwendigkeit. Alles, was in dieser Wüstenruinenstadt vorgefallen war, schien ihm so unzusammenhängend zu sein, wie ein Traum, und doch war es ein Traum, der nicht ohne seltsam überraschende und angenehme Lichtblicke gewesen war. Bei Tagesanbruch war er noch ein Gefangener gewesen, mittags war er zwar ein freier Mann, aber dennoch keineswegs in der Lage, auf- und davonzugehen, denn er war gänzlich ohne Führer. Warum er aber gefangen und wie er wieder befreit worden war, das war und blieb ihm ein tiefes Geheimnis. Nichtsdestoweniger überließ sich Tancred ohne Widerstreben der Leitung jener Persönlichkeit, die ohne Zweifel sich zum Herrn der Situation gemacht hatte. Fakredin allein traf darum alle Vorbereitungen, denn niemand konnte sich natürlich den Befehlen eines Mannes widersetzen, dem man ohne Zweifel seine Freiheit verdankte.

Es war jetzt nur noch eine halbe Stunde bis zum Sonnenuntergang. Die Vorreiter der Kinder Rechabs waren schon auf ihre Dromedare gestiegen und waren, mit ihren Lanzen bewaffnet, vor einigen Stunden von den Ruinen fortgeritten. Die Kamele, die mit Zelten und Gepäck beladen und von mehreren mit Zündnadelgewehr bewaffneten Fußgängern begleitet waren (die gelegentlich sich aber ebenfalls auf die Kamele setzten), betraten die Bergesschlucht; einige Reiter galoppierten noch über die Ebene und warfen ihre Speere in die Luft; eine größere Abteilung, von der die Mehrzahl abgesessen, aber marschfertig war, lagerte am Flußufer; ungefähr zwölf Pferde reinster Rasse, von denen einem oder zweien die Schabracke aufgelegt war, standen an Pflöcken gebunden vor dem Zelte des großen Scheiks, das noch nicht abgebrochen war und um das einige Pferdejungen herumsaßen, die Kaffee tranken und hier und da ihren Pferden mit großer Freundlichkeit etwas zuriefen.

Plötzlich sprang einer von ihnen auf und sagte: »Er kommt.« Dann ging er auf einen schönen Braunen zu, dessen dunkles, hervorstehendes Auge dem der Antilope an Glanz gleichkam und es an Intelligenz weit übertraf und sprach zu ihm: »O Diamant von Derajeh, nur die Prinzessin der Wüste darf auf dir reiten!«

Aus seinem Zelte trat jetzt, in der Begleitung einiger seiner Scheiks, der große Amalek, dann Eva, in deren Gefolge ihr riesiger nubischer Neger und ihre Dienerinnen sich befanden, und schließlich der Emir Fakredin und Lord Montacute.

»Es gibt nur einen Gott,« sagte der große Scheik und preßte dabei seine Hand aufs Herz. Dann sagte er dem Emir und seinem bisherigen Gefangenen Lebewohl: »Möge Gott uns alle beschützen!«

»In Wahrheit: es gibt nur einen Gott,« kam es wie ein Echo aus dem Munde der begleitenden Scheiks. »Möget Ihr viele Frühlinge finden!«

Evas Mägde wurden auf die Dromedare gesetzt, die Pferdejungen brachen jetzt mit magischer Schnelligkeit das Zelt des großen Scheiks ab und packten es auf die Kamele. Eva selber ließ sich dann, nicht ohne zuvor ihrem Rosse einen sanften Kuß auf den Hals gegeben zu haben, selber auf das Pferd helfen. Sie erschien in diesem Augenblicke Tancred, mit ihrer engelreinen Stirne, ihrer leicht geröteten Wange, ihrer graziösen Figur und ihrem Auge, das freudigen und sicheren Mutes auf das stolze Roß herabblitzte, als die Verkörperung einer jungen, klassischen Heroine.

Jetzt versuchte sie, ihrer Haltung und ihrer Stimme eine Art Munterkeit zu geben, die eigentlich in diesem Augenblicke der Trennung gar nicht angebracht war und rief, »Lebe wohl Fakredin!« Dann nach einer kleinen Pause warf sie Tancred einen Blick zu, der sein Herz erzittern machte und sagte: »Leben auch Sie wohl, Pilger vom Sinai!«


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