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Elftes Kapitel

»Besso geht es besser«, sagte der Konsul Pasqualigo zu Barizy vom Turme, den er an einem Dezembermorgen in der Via Dolorosa getroffen hatte.

»Ja, aber er ist noch keineswegs gänzlich hergestellt,« erwiderte Barizy schnell. »Der Arzt des englischen Fürsten hat mir erzählt –«

»Der Arzt des englischen Fürsten hat ihn ja gar nicht besucht«, rief Pasqualigo triumphierend aus.

»Ich weiß das wohl,« sagte Barizy einlenkend, »aber der Arzt des englischen Prinzen sagte, gegen Fleischwunden –«

»Aber er hat ja gar keine Fleischwunden,« sagte der Konsul Pasqualigo. »Sie sind alle zugeheilt – er leidet jetzt nur noch an der Erschütterung, die er sich durch den Fall zugezogen hat.«

»Für Erschütterungen gibt es nichts Besseres als Rosmarin in Salzwasser gekocht –«

»Das ist nur gut für Quetschungen«, sagte Pasqualigo.

»Eine Quetschung ist eine Erschütterung«, erwiderte Barizy.

»Besso hätte in Aleppo bleiben sollen«, sagte der Konsul.

»Besso kommt immer nur nach Jerusalem, wenn er krank ist,« sagte Barizy; »die Luft hier, das sagt er selber, ist die einzige, die ihm Heilung bringen kann, und wenn auch sie das nicht mehr kann, dann kann er wenigstens gleich im Tale Josaphat begraben werden.«

»Er ist gar nicht in Jerusalem«, sagte der Konsul Pasqualigo mit hinterlistigem Lächeln.

»Was heißt das?« sagte Barizy etwas beunruhigt. »Ich bin gerade auf dem Wege zu ihm, um mit ihm eine seiner Latakiapfeifen zu rauchen.«

»Er ist in Bethanien«, sagte der Konsul.

»Hm!« sagte Barizy geheimnisvoll, »Bethanien! Meinen Sie, es wird mit der Hochzeit doch noch etwas werden? Ich meine immer, daß – wenn –«

»Sie wird keinesfalls eher heiraten, als bis ihr Vater wieder gesund ist«, sagte der Konsul.

»Eine merkwürdige Geschichte das,« sagte Barizy. »Unsere Truppen von Kurden geschlagen!«

»Es waren keine Kurden,« sagte der Konsul Pasqualigo, »es waren verkleidete Russen. Man hat einige Kanonen erobert, die sicherlich in St. Petersburg gegossen worden sind, und außerdem hat man bei einem als Turkomane verkleideten Kosaken eine Menge Staatspapiere gefunden, die alles verraten. Diese Dokumente werden, eins nach dem andern, und zwar mit Kommentaren herausgegeben werden. Der Generalkonsul Laurella schreibt von Damaskus, daß die orientalische Frage mehr wie je an der Tagesordnung ist. Wir stehen am Vorabend großer Ereignisse.«

»Wirklich?« fragte Barizy vom Turm, der durch das Übermaß der mitgeteilten Neuigkeiten gänzlich aus dem Gleichgewicht gebracht worden war, »das habe ich mir immer gedacht. Palmerston wird sich nicht zufrieden geben, bis er Jerusalem besetzt hat.«

»Die Engländer müssen doch Absatzgebiete haben«, sagte der Konsul Pasqualigo.

»Sehr gescheit von ihnen,« sagte Barizy vom Turm. »Und dieses hier wird sich sehr gut bezahlt machen. Ich gedenke, mich gleichfalls ein wenig auf Baumwolle zu werfen, aber ich habe Angst, das Haus Bessos wird alles wieder selber an sich reißen.«

»Ich glaube nicht, daß die Engländer hier viel machen können,« sagte der Konsul und schüttelte seinen Kopf. »Was können wir ihnen als Gegenprodukt anbieten? Wenn die Leute hier vorwärts kommen wollen, so sollen sie sich lieber an Österreich halten. Die Österreicher haben auch Baumwolle und sind nebenbei noch Christen. Sie können uns ihre Wolle liefern und wir ihnen dafür unsere Kruzifixe.«

»Ich mag eigentlich nicht gerne in Kruzifixen handeln«, sagte Barizy vom Turm.

»Na, wenn Sie es nicht mögen, so wird Ihr Vetter, Barizy vom Tore, sie mit Freuden liefern. Ich habe gehört, er hat nach Bethlehem einen größeren Auftrag gegeben.«

»Der Verräter!« rief Barizy vom Turm. »Nun, wenn die Leute eben Kruzifixe und sonst nichts haben wollen, so muß man sie ihnen eben liefern. Der Handel zivilisiert die Menschheit.«

»Wer ist denn dies?« rief der Konsul Pasqualigo.

Eine Anzahl wohlberittener Reiter, die aber sehr ermüdet aussahen, kamen, von einer Beduinenabteilung gefolgt, die Via Dolorosa herauf und machten vor dem Hause Hassan Nejids halt.

»Es ist der englische Prinz,« sagte Barizy vom Turm, »er ist sechs Monate fort gewesen – in Ägypten.«

»Um die Tempel der Feueranbeter zu besuchen und Krokodile zu schießen. Das machen sie alle so«, sagte der Konsul Pasqualigo.

»Der wird sich freuen, daß er wieder in Jerusalem zurück ist,« sagte Barizy vom Turm. »Es mag größere Städte geben, aber keine, die schöner sind!«

»Die schönste Stadt der Welt ist entschieden Venedig«, sagte Pasqualigo.

»Sie sind ja nie dort gewesen«, sagte Barizy.

»Aber sie ist hauptsächlich von meinen Vorfahren erbaut worden,« sagte der Konsul, »ich habe ein Bild der Stadt bei mir zu Hause hängen.«

»Ich habe noch nie gehört, daß Venedig mit Jerusalem sich messen könnte.«

»Jerusalem ist mit Venedig verglichen in jeder Beziehung ein Schweinenest«, sagte Pasqualigo.

»Ich möchte Ihnen doch zu verstehen geben, Monsieur Pasqualigo, der Sie sich Konsul benennen, daß die Stadt Jerusalem nicht allein die Stadt Gottes, sondern immer auch der Stolz des Menschengeschlechtes gewesen ist.«

»Puh!« sagte Pasqualigo.

»Pah!« sagte Barizy.

»Ich wundere mich gar nicht, daß Besso sich so schnell wie möglich von hier fortgemacht hat.«

»Sie würden nicht wagen, ihm das ins Gesicht zu sagen,« sagte Barizy.

»Wer erlaubt sich, dem Vertreter einer europäischen Macht gegenüber das Wort ›wagen‹ zu gebrauchen?«

»Ich brauchte dies Wort ja nur zu dem Sohn des Janitscharen des österreichischen Vizekonsuls in Sidon.«

»Sie werden von mir zu hören bekommen,« sagte Pasqaligo mit Stolz. »Ich werde mich bei dem Botschafter in Konstantinopel über Sie beschweren.«

»Gehen Sie doch persönlich dorthin, da Sie El Kuds satt haben.«

Pasqualigo, der nicht recht wußte, was er antworten sollte, warf seinem alten Kameraden einen verächtlichen Blick zu und entfernte sich.

Tancred war inzwischen abgesessen und in das Haus eingetreten, dessen Mieter er seit einem halben Jahre war. Baroni, der in der Zwischenzeit verschiedentlich Tancreds Reisegesellschaft aufgesucht hatte, fühlte sich bald wieder ganz zu Hause. Freeman und Trueman, die wie Ballen Ware vom britischen Konsul in Beirut nach Jerusalem zurückbefördert worden waren, standen vor der Türe und verbeugten sich vor ihrem Herrn, als ob er aus seinem Klub zurückkäme. Aber von den begleitenden Herren war nicht ein einziger zur Stelle. Oberst Brace war gerade im Begriff, bei dem englischen Konsul einen Plumpudding, zu dem er selber das Rezept gegeben hatte, zu verzehren; das Nationalgericht aber war zunächst nur versuchsweise hergestellt worden, um erst, wenn es schmackhaft befunden, in den nächsten Tagen in größerer Auflage zu erscheinen. Es war übrigens das erste Mal, daß man in Jerusalem einen Plumpudding zubereitet hatte, und die Aufregung war dementsprechend eine sehr beträchtliche. Der Oberst hatte es unternommen, einen syrischen Koch in die Geheimnisse dieser wunderbaren Speise einzuweihen, dieser aber hatte es, trotz mehrtägigen Unterrichtes, nur bis zu einem Gemengsel gebracht, das das spezifische Gewicht des Bleies und den Geruch von nicht mehr ganz frischen Datteln miteinander verband. Der Pastor Bernard befand sich in Bethlehem, wo der englische Bischof gerade einige Leute taufte, die sich als wahre Kinder Israels ausgegeben hatten, aber in Wahrheit ältere Christen waren, als ihre Taufväter: sie stammten nämlich von einigen nestorianischen Familien, die in den früheren Zeiten des Christentums im Süden Palästinas sich niedergelassen hatten, ab. Dr. Roby war gerade damit beschäftigt, Arzneikräuter im Jordantale zu pflücken, und so kam es, daß Tancred, als er wirklich einmal das Bedürfnis nach Ruhe empfand und die Gesellschaft seiner Freunde und Begleiter aufsuchen wollte, nicht einen einzigen von ihnen zu Hause fand.

Tancred eilte von einem Zimmer ins andere, treppauf, treppab, in den Hof und in den Garten, während Baroni seinerseits die Beduineneskorte ablohnte und entließ. »Ich weiß nicht, was mir ist,« sagte er schließlich mit einem Seufzer zu seinem Reisemarschall, »aber wenn mir jemand gesagt hätte, daß mir in Jerusalem so traurigmiserabel zumute sein könnte, so hätte ich es ihm nicht geglaubt.«

»Das ist nur die Reaktion auf die monatelange Wanderschaft in der Wüste, Mylord. Die Welt kommt einem danach so zahm vor: das ist immer so.«

»Es tut mir leid, daß Besso nicht hier ist. Ich hätte mich sehr gefreut, ihn begrüßen zu können.«

»Soll ich den Obersten kommen lassen?« fragte Baroni, während er Tancreds arabischen Mantel säuberte.

»Nein – ich denke, wir lassen ihn, wo er ist,« erwiderte Tancred, »wenn man ihn in seiner Beschäftigung stört, so wird er eigentümlich – und ich weiß nicht, Baroni, ich fühle mich zu gar nichts aufgelegt. Ich vermisse auch die englische Post, und doch ist es mir wiederum recht, denn ein Brief –«

»Den man einige Monate nach seiner Niederschrift erhält, wirkt auf einen stets wie ein Gespenst. Mir graut es immer, wenn ich einen der Art in die Hand bekomme.«

»Oh!« sagte Tancred in halbem Selbstgespräch, »hätte doch die Schlacht von Gindarics niemals aufgehört, hätte ich doch, wie jene Märchenhelden, bis in die Ewigkeit weiter fechten können!«

»Ja! Ja!« sagte Baroni, indem er die Pistolen putzte, »Tätigkeit, das ist das Wahre!«

»Aber welche Art Tätigkeit gibt es noch in dieser Welt?« fragte Tancred. »Die energischsten Männer Europas sind nichts wie geschäftige Nichtstuer. Ganze Weltreiche werden heute wie kleine Städte regiert, und ein großer Staatsmann ist heute auch nicht mehr als eine Art Bürgermeister. Und wie kann dem anders sein, wenn wir nicht imstande sind, die Menschen wieder dem Himmel näher zu bringen und die Regierungen wieder göttlicher zu machen. Menschenwerk allein genügt da doch nicht!«

»Hm!« sagte Baroni, indem er Tancreds Koffer öffnete, denn das Thema begann etwas über seine Begriffe hinauszugehen. »Mylord ist wohl etwas nervös. Vielleicht hat Mylord etwas im Sinn, das er selbst noch nicht recht klar sieht – aber es wird mit der Zeit schon herauskommen.«

Tancred brachte infolgedessen den Tag allein und mit Lesen zu, das er durch zeitweiliges Auf- und Abgehen im Zimmer unterbrach. Seine Gedanken verloren sich aber häufig selbst während der Lektüre, und er versank von Zeit zu Zeit über dem Buche in tiefes und lang andauerndes Träumen. Als der Abend hereinbrach, zog er sich auf sein Zimmer zurück und gab Baroni gegenüber seinem Wunsche Ausdruck, daß man ihn nicht stören solle. Oberst Brace kam kurz darauf zurück und war höchlichst erstaunt, als er von der Ankunft Lord Montacutes vernahm, aber es gelang der Diplomatie Baronis, ihn von einem übereilten Besuche seines Herrn abzuhalten. Eine Stunde nach dem Obersten kam Pastor Bernard von Bethlehem zurück. Er war in großer Aufregung, da er von einigen Räubern aus dieser stets unsicheren Gegend bis an die Tore der Stadt verfolgt worden war, ja, man hatte sogar einen Schuß auf ihn abgefeuert, das letztere aber wahrscheinlich nur, um ihm einen Schrecken einzujagen. In Wirklichkeit verhielt sich die Sache so: der Anführer seiner Verfolger war sein erster Katechismusschüler gewesen, der großes Verlangen nach einer kostbaren, schön gebundenen und mit goldenen Schlössern versehenen Bibelausgabe, einem Geschenk der Herzogin von Bellamont, in seinem frommen, frisch bekehrten Herzen trug. Der Pastor Bernard hatte nämlich die unvorsichtige Angewohnheit, bei jeder besseren Bekehrung zu Ehren der von ihm hochgeschätzten Spenderin seine goldene Bibelausgabe zu produzieren.

Als Dr. Roby mit mancherlei seltenen Kräutern beladen zur Stadt zurückkehrte, fand er ihre Tore schon geschlossen. Die Folge davon war, daß er in einer Grabkammer des Tales Josaphat sich für die Nacht ein Unterkommen suchen mußte. Da sein Diener gänzlich ohne Nahrungsmittel war, aß er dem braven, aber unvorsichtigen Naturforscher, der inzwischen schon zu schlafen begonnen hatte, einen Teil seiner kostbaren Pflanzen und Wurzeln auf und löschte seinen brennenden Durst mit einem Trunke Wasser aus der benachbarten Quelle Siloah.

Tancred verbrachte die Nacht in unruhigen Träumen: bald befand er sich in der sternenklaren Wüste, bald in dem Höhlengefängnis von Gindarics. Dann veränderte sich das Bild plötzlich, und er sah sich zu Hause im Bellamont-Schloß, dessen Besitzer jedoch Fakredin war, und als Tancred auf seine Mutter hinzueilte, um sie zu umarmen, nahm sie die Gestalt der syrischen Göttin an, aber ihr Antlitz war das Evas. Trotz dieser Unruhe aber hatte er doch geschlafen, und als er aufwachte, wußte er zunächst gar nicht, daß er sich in Jerusalem befand. Obgleich es nur eine Woche vor Weihnachten war, so hatte sich doch das Klima nicht merklich verändert. Die goldene Sonne löste des Morgens stets den silbernen Mond ab und beide erstrahlten vom klarsten Himmel herab. Man kann noch in einer Januarnacht auf einer Hausterrasse zu Jerusalem zur Nacht essen, ohne sich über Kälte und rauhe Winde beklagen zu müssen.

Tancred stand frühzeitig auf. Noch niemand rührte sich im Hause, ausgenommen die eingeborenen Diener und Herr Freeman, der einen großen Lärm schlug, weil er noch kein heißes Wasser hatte. Tancred gab diesem Herrn Diener den Auftrag, dem Obersten und seinen anderen Begleitern gefälligst mitteilen zu wollen, daß er einen kleinen halbstündigen Spaziergang unternommen hätte und sich freuen würde, die Herren allesamt beim Frühstück zu sehen. Darauf verließ er das Haus und ging durch das Stephanstor nach dem Olivenberg.

Es war ein herrlicher, klarer, frischer und doch sanfter Morgen. Das verlassene Jerusalem erschien Tancred von der Höhe des Olivenbergs als eine glückliche und blühende Stadt, so vornehm nahmen sich die vielen Kuppeln, die stattlichen Gebäude aus Quadersteinen und die mit Zinnen geschmückten Mauern und die mächtigen Tore darin aus. Die Natur war gnädig gestimmt. Tancred meinte, einen würzigen, frischen Wind zu verspüren, der durch die Schluchten der Wildnis vom entfernten Arabien her zu ihm herüberwehte. Es war heute eine Lust hier zu leben.

So stand er lange Zeit in Träumerei versunken da. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er sich schließlich zum Gehen wandte, aber anstatt in die Stadt zurückzukehren, verfolgte er einen geschlungenen Weg in der anderen Richtung. Dieser führte nach Bethanien zu.


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