Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Feldprediger

(Dem Andenken meines Schulfreundes Otto Zurhellen gewidmet. Er war Pfarrer von St. Trinitatis in Frankfurt am Main und fiel bei einem Sturmangriff irgendwo in Frankreich.)

 

Anfangs war es ihm etwas schwer, sich mit dem Gedanken an die neue, die kriegerische Ausübung seines geistlichen Berufes vertraut zu machen. Es lag ja auch nicht ganz einfach, und man kam nicht über gewisse Widersprüche zwischen der Lehre und dem Leben Christi und diesem schrecklichen blut- und raubgierigen Krieg hinweg, selbst wenn man sich von vornherein mit einem Riesensprung über das fünfte, das höchste Gottesgebot: »Du sollst nicht töten!« tollkühn hinwegsetzte. Doch Walter Frommel wäre nicht der frische lebensfrohe und starke Verkünder des reinen Gotteswortes gewesen, als den ihn seine lutherische Gemeinde seit Jahren verehrte, wenn ihn solche Widersprüche zwischen dem hohen Ideal und der rauhen Wirklichkeit im Innersten längere Zeit unsicher gemacht hätten. Schon sein Vater, der alte Superintendent Frommel, der Anno 1870 als Lehrer des Evangeliums mit in den Krieg gezogen war, hatte dafür gesorgt, daß ein unerschrockener draufgängerischer Geist in seine Jungens gesät wurde. Sentimentale Friedensschwärmerei war seinem Pfarrhause ferngeblieben. Seine Knaben sollten von frühauf lernen, einem kommenden Krieg als einer eisernen Notwendigkeit und einer heiligen Arbeit entgegenzuschauen. Und als einziger weltlicher Spruch hing neben den zahlreichen Bibelworten, welche die Wände seines frommen Pfarrheimes zierten, im Hausflur der Ausspruch des Freiherrn von Stein unter Glas und Rahmen: »Wer mit seinem Volk nicht Not und Tod teilen will, der ist nicht wert, daß er unter ihm lebe.«

Darum galt es für Walter Frommel eigentlich nur, die langjährige liebgewordene Friedensgewohnheit abzuschütteln, die ihm wie der Pfarrertalar, den er seit sieben Jahren trug, auf den Schultern lag, um im Grunde seiner Seele wieder auf den kriegerischen Kern zu stoßen, den sein Vater dort hineingelegt hatte. Es war ja richtig, in der Bibel stand, und er hatte manchen Sonntag darüber gepredigt: »Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen; auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel, denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.« Aber hatte nicht der nämliche Christus, der dies von dem Berge herab gelehrt hatte, auch die Händler aus dem Tempel getrieben und der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer daselbst umgestoßen, wie im Evangelium Matthäi, Kap. 21, Vers 12 zu lesen stand? Hatte nicht der nämliche Christus auch gesagt: »Ich bringe euch nicht den Frieden, ich bringe euch das Schwert.« An solche Worte und Vorgänge aus dem Neuen Testament brauchte man nur zu denken, um den gerechten heiligen Zorn, der einen wider seine Gegner durchglühte, auch durch Beispiele aus dem Leben unseres Herrn und Heilands erhärten zu können.

Und darum weg mit jeder weichlichen Regung, die einen aus dem Evangelium anwehen könnte, das er seit sieben Jahren von der Kanzel gepredigt hatte! Es ließ sich ja nach der Zeit und Gelegenheit anders auslegen. Wenn er seinen Amtsbrüdern zugehört hatte, war ihm das oft genug schon aufgestoßen. Jetzt hieß es wieder stahlhart werden, wie sein Vater es sie als Jungens gelehrt hatte, stahlhart wie das Bajonett, das die Krieger beim Sturm, die Waffe verdoppelnd, auf ihre Gewehre aufpflanzten. Jetzt war die schlaffe Friedenszeit vorüber, die den Wurm der Fäulnis und Sittenlosigkeit in ihrer scheinbaren Blüte getragen hatte. Jetzt war die große Zeit der sittlichen inneren Wiedergeburt für den einzelnen wie für das Ganze gekommen. Das Vaterland war in Gefahr, war tückisch überfallen von einer feigen elenden Übermacht, da mußte jeder Mann das Seine tun, sich seinem Volke in dem ihm aufgezwungenen Krieg nützlich zu machen. Und darum gehörte Walter Frommel, dem dies von Jugend an beigebracht worden war, zu den ersten Geistlichen, die sich, trotzdem sie Weib und Kind daheim hatten, dem Heer als Feldprediger zur Verfügung stellten.

Gleich die Uniform, die er nach seiner Aufnahme als Feldgeistlicher bekam, tat das ihre, die letzten sanften Gefühle und Aufwallungen einer jetzt völlig unangebrachten übertriebenen Menschlichkeit und scheuen Empfindsamkeit von ihm abzustreifen. Die mächtigen Lederstulpstiefel, der lange, kühn geschnittene Rock mit den militärischen Abzeichen und der breitkrempige spitzzulaufende Hut, der dem ganzen Kostüm etwas Hahnenhaftes gab, das alles trug dazu bei, die martialische Stimmung in Walter Frommels christlicher Seele noch zu erhöhen. Jede unzeitgemäße Gefühlsduselei schwand vor dem großen Gedanken, in diesem kriegerischen Rock zu denen mitzugehören, denen das Vaterland jetzt mit vollem Recht mehr als alles andere galt. Er ließ sich ein paarmal in dieser Tracht en face und en profil, das heißt »von vorn« und »von der Seite«, wie man jetzt ängstlich sagte, photographieren und reiste dann nach dem ihm angewiesenen Posten zur Front ab.

Anfangs lag Walter Frommel mit großem Eifer seinen neuen Seelsorgerpflichten ob. Aber dieses erste Feuer ließ rascher nach, als er es sonst an sich gewöhnt war. Verwundete trösten und unterhalten, das konnte schließlich jede Krankenschwester ebenso gut wie er. Ja manchmal sogar besser, wie es schien. Die Sterbenden wollten ganz selten noch etwas von ihm wissen. Sie waren meist zu matt von den überstandenen Anstrengungen oder zu verzweifelt mit ihrem Schicksal, in das sie, ohne die nötige Vorstellung davon zu haben, hineingetrieben worden waren, um sich noch gut zureden zu lassen. Und den Kriegern, die selbst im Felde standen und kämpften, konnte er auch nichts Rechtes sagen. Ja, es kam ihm, je länger er hier draußen unter ihnen lebte, um so törichter vor, ihnen Mut und Schlachtbegeisterung zuzusprechen, wenn sie in ihre Schützengräben abzogen, indes er gesichert in der Etappenlinie zurückblieb. »Du hast gut reden, Mann Gottes!« schienen ihre stummen Augen ihm zu antworten, wenn sie in die Nässe und Kälte und das Verderben abmarschierten und ihr entsetzliches tierhaftes Höhlendasein begannen: »Du sitzt hier warm, schmauchst deine Zigarre und liest in der Bibel, bis die Feldküche wieder etwas Leckeres von sich gibt. Du brauchst deine Angst nicht stumm zu verbeißen wie wir. Du weißt nicht, wie die Flintenkugeln pfeifen und die Granaten schreien. Du kannst gut die Tapferkeit und das Heldentum und den Tod fürs Vaterland lobpreisen und dich hinter der Feuerlinie bei den Gulaschkanonen Gott weiß wie mutig gebärden! Du brauchst ja keine weiteren Beweise für deine Kühnheit abzulegen.«

Derlei Gedanken begann Walter Frommel aus den Blicken der Soldaten herauszulesen und sich selbst heimlich mehr und mehr Bedenken über seinen Beruf zu machen. Die wenigen, die wirklich nach ihm und seinen Reden Verlangen trugen, die wollten ihm gar nicht wie richtige Krieger vorkommen, die paßten mit ihren weichen Herzen ebensowenig hierher wie er selber. Dahingegen schien es ihm ganz sinnlos, solchen Leuten, die fest entschlossen waren oder entschlossen sein mußten, das Äußerste zutun und zu dulden, noch mit schönen frommen Worten zu kommen, die sie mehr oder minder gleichgültig ließen vor dem einzigen Gedanken, den sie hatten: »Ob ich lebend und heil wiederkehren werde?« Ja, schließlich schämte er sich so sehr über seine bloße Redetätigkeit in dieser Lage, wo wenige Meter von ihm immerzu Kraft auf Kraft stieß und sich entzündete, daß er sich die Erlaubnis ausbat, einen Zug, der am Abend in die Schützengraben abging, begleiten zu dürfen. Es war ein Verzweiflungsentschluß von ihm, um über diese quälenden Fragen und Sorgen, die er sich machte, hinwegzukommen.

Man rüstete ihn auf seinen Wunsch mit einem Gewehr und mit Patronen aus. Er verstand ganz gut zu schießen. Sein kriegliebender Vater, der alte Gottesstreiter Frommel, hatte ihm und seinen Brüdern als Kindern schon eine Luftpistole und später ein Floberttesching geschenkt. Und sie hatten sich manchen Mittwoch- und Samstagnachmittag an ihrer Gartenlaube als Scharfschützen geübt. Auch hatte er sich den Gebrauch des jetzigen Infanteriegewehrs mehrfach von den Soldaten erklären lassen und manche Patrone verknallt.

Wenn er freilich geglaubt hatte, im Schützengraben und im Brennpunkt der Gefahr zur Ruhe zu gelangen über die Bedenklichkeiten, in die er bei der Ausübung seines Predigeramtes im Kriege geraten war, so hatte er sich getäuscht. Allerdings. Die Vorwürfe, die er sich als ein bloßer Schönredner unter seinen handelnden kämpfenden Mitmenschen gemacht hatte, die verschwanden gänzlich, als er jetzt, nicht geschützter als der geringste Soldat, Schulter an Schulter mit seinen Kameraden dem Feinde gegenüberlag.

Dadurch, daß er das gefährliche Schicksal brüderlich mit seinen Landsleuten teilte, fühlte er sich wenigstens von dem peinlichen Selbstvorwurf der Tatenlosigkeit und Feigheit frei. Aber der bisherige Beruf des christlichen Feldpredigers widerstand ihm dabei immer mehr. Dieser Krieg, den er jetzt, wie ein Maulwurf in der Erde vergraben, mitmachte, der war schlechterdings nicht mehr mit dem Evangelium und dem Leben Christi zu vereinbaren. Ja, wenn es ein fröhliches, ehrliches Kämpfen und Drauflosstürmen gewesen wäre, in dem man sich und seine Sache in offener Schlacht mutig seinem lieben Herrgott anvertraut und in die Schanze geworfen hätte, wie man es früher getan! Aber dies war ein heimliches unterirdisches Heranwühlen an den Feind, bei dem man möglichst viele Kriegslisten zu benutzen suchte. Es war mehr ein Kriechen und Jagen als ein tapferes Kämpfen. Man saß gleichsam auf dem Anstand, um jedes Menschliche, das sich zeigte, abzuschießen, und versuchte wie die Jäger mit allerhand Kniffen den Gegner hervorzulocken, um ihn dann niederzustrecken. Nein, diese Art zu kämpfen widersprach ganz der Lehre und dem Wesen Christi, dem jede Arglist, jede Lüge zuwider gewesen war. Und es ließ sich auch keine einzige Stelle in der Bibel finden, mit der man diesen heimtückischen Grabenkampf erklären und belegen könnte. Sogar, was ihm endlich einfiel, Evangelium Matthäi, Kapitel 10, Vers 16: »Darum seid klug wie die Schlangen!« kam, selbst wenn man den Zusatz »und ohne Falsch wie die Tauben« fortließ, kaum in Frage, um einen solchen mit List oder mit roher Kaltblütigkeit ohne stürmische Leidenschaft und Begeisterung geführten Kleinkrieg rechtfertigen zu können.

Mit solcherlei quälenden Gedanken verbrachte Walter Frommel zwei Tage und zwei schlaflose Nächte im Schützengraben. Mit dem Gestank der unbeerdigten Leichen, die vor ihm verwahrlost wie das räudige Vieh herumlagen, sog er den Abscheu gegen seinen frommen Beruf, der ihm wie eine Fratze vorkam, in sich ein. Am Abend des zweiten Tages sollte die Ablösung kommen. Aber sie erschien nicht. Statt ihrer lief die Nachricht von Mann zu Mann – keiner wußte, woher sie kam –, man würde vermutlich heute abend nach Eintritt der Dunkelheit noch zu einem Sturmangriff verwendet werden. Die Bajonette wurden infolgedessen aufgepflanzt, und jeder erwartete ernst und schweigend die dienstliche Bestätigung dieses Gerüchtes. Man bedeutete Walter Frommel, daß er selbstverständlich zurückbleiben dürfe. Aber zu seinem Erstaunen gab er zum erstenmal in seinem Leben eine ausweichende Antwort hierauf. Er merkte, daß ihn das Gerücht von diesem Sturm angriff mit einer großen inneren Freude erfüllte. Schon daß die Ablösung nicht eingetroffen war, hatte ihn nicht im mindesten unangenehm berührt oder erschreckt. Und jetzt ward es ihm plötzlich klar, daß es ihn geradezu ekelte, wieder in seinen christlichen Feldprediger-Beruf zurückkehren zu müssen, den er nicht mehr in Einklang mit diesem Kriege zu bringen wußte. Er sagte sich: »Es geht gar nicht mehr, ich bringe es sicher nicht mehr fertig, als Diener Christi in einem solchen Kampf zu stehen. Ich muß den Feldpredigerrock ausziehen und als einfacher Gemeiner freiwillig in der Front jetzt streiten, wenn ich den Krieg noch weiter mitmachen will.«

Er sprach das beinahe laut vor sich hin, ohne daß es den Soldaten im Schützengraben weiter auf gefallen wäre. In solchen Augenblicken, wo der Tod jede Minute vor einen treten kann, läßt man einander in seiner Eigenheit gewähren und bekümmert sich nicht viel um das, was die Todesangst aus jedem heraustreibt. Dazu ist man viel zu sehr mit sich selbst und seinen letzten Gedanken und Sorgen beschäftigt.

Indes die Soldaten noch des Befehles zum Sturmangriff gewärtig unter Gewehr in ihrem Graben standen und das erste zarte Blinzeln des Abendsternes in ihre Augen drang, kam auf einmal von der Seite des Feindes her ein Weib über das graue Feld gelaufen. Sie schwenkte in der rechten Hand einen großen weißen Fetzen, ein altes Handtuch, wie es schien. Sie stammte augenscheinlich aus dem kleinen Dorf in der Nähe, das man vor wenigen Tagen beschossen hatte. Denn sie schrie, während sie heranlief: »Mein Haus habt ihr zerschossen, meinen Mann habt ihr getötet, mein Kind ist eben vor Hunger gestorben. Schießt mich auch nieder, hört ihr?! Macht mich kaputt, macht mich kaputt!«

Diese letzten Worte rief sie auf deutsch und wiederholte sie, indes sie näher kam und von Zeit zu Zeit stehen blieb, immer dringender. Wie ein großer kreischender Vogel kam sie so durch die Dämmerung herangeeilt. Offenbar war sie, ob sie nun die Wahrheit schrie oder nicht, durch das Schicksal, das sie betroffen hatte, geistesgestört geworden. Darum hatten sie wohl auch die Franzosen einfach loslaufen lassen, damit sie weiter keine Scherereien von ihr hatten und ihr Geschrei nicht mehr zu hören brauchten.

Auch von deutscher Seite wollte man sie, da es sich um ein Weib handelte, nicht einfach abknallen, zumal da sie das weiße Friedenstuch schwenkte. Sie rannte jetzt geradezu auf Walter Frommel zu, der das Gewehr, das man ihm gegeben hatte, gespannt in der Hand hielt. Immer näher, immer eindringlicher gellte ihr Geheul: »Macht mich kaputt!« jetzt stand sie dicht vor dem Schützengraben und vor Walter Frommel. Er sah ihr von Kummer und Verzweiflung verzehrtes schmutziges Gesicht, und ihre aufgerissenen Augen glühten ihn an. Aber im letzten Augenblick bog sie vor ihm aus und riß sich zur Seite, beinahe als ob sie die Uniform des Feldpredigers, die er noch trug, gekannt und geachtet hätte. Sie sprang dicht neben ihm in den Graben hinein. Dort stand sein Nachbar, ein einfacher Soldat aus Holstein, ein guter scheuer, fast ängstlicher Kerl, der sich am liebsten vor dem Krieg in die Erde verkroch und nur aus Neugier auf die verrückte Frauensperson hervorgekommen war. Sie aber stürzte sich wie wahnsinnig über ihn, der sich ihrer noch scherzhaft erwehren wollte. Da sah Walter Frommel, wie sie unter dem weißen Tuch in der Rechten, mit dem sie sich sicher herangeschmuggelt hatte, einen Revolver trug. And schon krachten zwei Schüsse in die Brust des armen Burschen aus Holstein, der vor Entsetzen über dies unerwartete Abenteuer ins Lachen gekommen war und mit einer solchen greulichen verlegenen Grimasse die Erde verließ und das Weite aufsuchte.

Dieser zu seinem Geschick gar nicht passende letzte Ausdruck des armen jungen Kerls, der von dem tückischen tollen Weib ganz ahnungslos überrumpelt worden war, versetzte Walter Frommel am meisten in Wut. Die Entrüstung des Seelsorgers, der gewohnt ist, die Menschen auf den Tod als auf etwas höchst Wichtiges vorzubereiten, flammte zu der Empörung über die Hinterlist des Weibes, das dort von dem niederbrechenden Soldaten mit auf den Boden gerissen war. Er senkte sein Gewehr und stach und stürzte sich mit dem Bajonett in das Weib, das sich zu seinen Füßen wälzte. Der süßliche Schauder, den er dabei empfand, wie er in dem weichen Fleisch herumstieß, bis es sich nicht mehr rührte, verfolgte ihn fortan wie ein scheußlicher Geschmack oder Geruch, den man nicht mehr los wird. Seine Augen, die dies mitangesehen hatten, was er, er, in dessen bleichen Händen sie die dicke schwarze Bibel oder den mit rotem Wein gefüllten Kelch des Herren zu schauen gewohnt waren, vor ihnen vollführt hatte, bekamen den scheuen unsichern Ausdruck des Verbrechers und des schlechten Gewissens, den die aus dem Gefecht zurückkommenden Soldaten zu haben pflegen.

In diesem Augenblick wurde der Befehl zum Angriff verkündet. Walter Frommel stürzte mit gefälltem Bajonett allen andern weit voraus. Der Blutrausch, der wildeste, der hemmungsloseste von allen, hatte ihn ergriffen und von jedem entfesselt, was ihn zurückhalten wollte. Hierher paßte, das sah er, Christi Lehre nicht mehr. Und so warf er sie von sich mit der Wut, mit der einer einen Glauben, den er für falsch befunden hat, von sich schleudert, und mit dem heiligen Zorn, mit dem einst sein Meister und Lehrer Doktor Martin Luther die alten römischen Irrlehren weggeworfen hatte. Christi Lehre war ja viel zu schade und zu schön für diese Welt, und man war ein Narr und wurde auf Schritt und Tritt hier widerlegt, wenn man sie predigte. Er war eine lächerliche Person, er spielte eine komische Rolle im Kriege. »Merkst du das erst jetzt? Fühlst du das nicht schon die ganze Zeit?« rief ihm etwas zu, als er dem blinkenden Stahl dort vorn an seinem Gewehr wie seiner Erlösung nachrannte. »Du sollst töten! Du sollst töten!« rauschte es in seinen Ohren, die von den Kugeln der Feinde wie von dicken Bienen umschwirrt wurden.

Er richtete ein entsetzliches Gemetzel unter den Franzosen an. Über zwanzig von ihm niedergestochene Menschen würde er vor dem Jüngsten Gericht zu verantworten haben. Seine unersättlich entfachte Blutlust brachte ihm schließlich das Verderben, indem sie ihn in seiner Tollkühnheit zu weit vortrieb. Schwer verwundet fiel er in die Hände eines Senegalnegers, den er nur mehr leicht verletzen konnte. Der Haß der schwarzen Bestie ward noch erhöht, als sie zu ihrer wahnsinnigen Freude an seiner Uniform erkannte, daß ein Missionar ihr zur Beute geworden war. Sie warf sich heulend wie ein Schakal mit den Zähnen über ihn und richtete ihn noch schändlich zu, ehe sie ihn endlich niederstach.

Es war ein Glück, daß seine Gemeinde ihn nicht mehr so zu sehen bekam, die um ihres guten Hirten und Seelsorger Walter Frommel's Ableben auf dem Felde der Ehre einen feierlichen Trauergottesdienst abhielt, bei welchem sein Amtsbruder und späterer Nachfolger eine sanfte Gedächtnispredigt sprach über den Text: »Selig ist, wer im Herrn stirbt. Und seine guten Werke folgen ihm nach.«


 << zurück weiter >>