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Seit einer Stunde bereits redete der Festredner des Abends, ein bekannter Expfarrer, auf die Versammlung ein. Er badete sich in Phrasen von der Notwendigkeit, den Krieg durchhalten zu müssen trotz Wind und Wetter und Schnee und Kälte. Es waren fast dreißig Grad Hitze im Saal. Und jeder hatte eigentlich genug von dem Redner und war vollauf überzeugt davon, daß das Kriegsbrot geradezu köstlich schmecke, daß die Menschenschlächterei ein herrliches Handwerk sei, daß der lange Friede ein erschlaffender verderblicher Zustand für uns alle gewesen wäre, und daß unser Volk als das beste, das wahrste, das stärkste, das reinste, das tugendhafteste dastehe, und daß ihm allein darum die Zukunft gehören müsse. »Was zählt gegen eine solche lichtüberströmte Aussicht für die Allgemeinheit das Leben des einzelnen?« schmetterte er mit seiner häßlichen kalten Stimme durch den Saal. »Gewiß! Wir beklagen die schweren Menschenverluste, die uns der Krieg gebracht hat. Wir betrauern die Witwen und Waisen, die ihren Gatten und ihren Vater dem deutschen Vaterland geopfert haben. Aber wir rufen ihnen auch zu: Seid stark! (Rufe: »Jawohl!«) Man kann auch zu wehleidig sein, meine verehrten Anwesenden!« Damit wandte er sich erleichtert von dieser ernsten Abschweifung, indem er sich den Überlauf vom Speichel aus den Mundwinkeln unter seinem Schnurrbart wischte, wieder dem großen Publikum zu. »Wer immer nur an das denkt, was uns der Krieg gekostet hat, der versündigt sich an dem Baum unserer Nation, der fort und fort grünt und gottlob noch weit davon entfernt ist, zu welken und zu vergehen. (Laute Bravorufe.) Die Blätter, die ihm dieser Kriegsherbst abgeschüttelt hat, bringt uns ein neuer Frühling tausendfach wieder ein. Für das vergossene Blut strömt neues aus dem unversiegbaren Born unserer Volkskraft ewig jung und ewig frisch hervor. Deutschland regeneriert sich allen Schwarzsehern zum Trotz. Es regeneriert sich wie der Phönix, der noch schöner aus seiner Asche emporsteigt.«
Selbst bei diesem abgedroschenen Vergleich rief jemand: »Bravo!« Worauf der Redner stolz belebt fortfuhr: »Noch herrlicher, noch majestätischer als das alte Deutschland vor der Welt prangte, wird ein junges Deutschland erstehen, dessen Fittiche ein seiner Väter würdiges, stets zum Kampf gerüstetes Volk umspannen sollen. Die Opfer, die es uns gekostet hat, wollen wir nicht vergessen, aber wir wollen sie verwinden. (Verstärkte Bravorufe.) Deutschland muß und wird sich in einer kurzen Spanne Zeit völlig regeneriert haben. Wenn wir alle wie ein Mann –!«
In diesem Augenblick, als der Festredner und Expfarrer zum Schluß übergehen und mit ein paar besonders wuchtigen Beteuerungen, die ihn nichts kosteten, noch einige saftige Bravos für sich herausfischen wollte, fiel in einer der hinteren Reihen eine Dame in Trauer, die zwischen dreißig und vierzig Jahre alt war, in einem Ohnmachtsanfall von ihrem Stuhl. Zwei ältere Herren sprangen herzu und brachten sie in den Nebenraum. Sie kam in der kühlen Luft bald wieder zu sich und bat darum, sie in den Saal zurückzuführen, damit sie die Rede zu Ende hören könnte. Man vernahm in dem Nebensaal, in dem sie saß, nur die knarrende Stimme des Expfarrers und bestimmte Worte, die er besonders laut von sich stieß, wie: »Sittliche Wiedergeburt – enger Zusammenschluß aller staatserhaltenden Faktoren – energische Abwehr der verweichlichenden Elemente – Lebendigbleiben unserer großen kriegerischen Überlieferungen.«
Trotz ihrer wiederholten Bitten überredete man die Dame, weil bei den rollenden Worten des Festredners, die man draußen verstand, wiederholt ein Zittern sie überlief, sich nicht mehr weiteren Aufregungen auszusetzen und lieber sogleich nach Hause zu fahren. Sie ergab sich schließlich darein, weil man schon eine Droschke geholt hatte, und weil man ihr klarmachte, daß ihr Wiedererscheinen im Saale alle, das Publikum wie auch den Redner, beunruhigen würde.
Sie war, wie man später in der gemütlichen Nachsitzung dem Expfarrer auf seine Frage mitteilte, die Witwe eines angesehen gewesenen Gelehrten, der im Kriege gefallen war. Sie galt als ein wenig exaltiert, namentlich wegen der übertriebenen Trauer um ihren verstorbenen Heldengemahl. Sie hatte, nachdem sie die Nachricht von dem Tode ihres Mannes erfahren hatte, ihr schönes langes Haar abgeschnitten und trug einen Tituskopf. Nach der Ansicht ihrer Freundinnen – wozu hat man Freundinnen? – hatte sie es freilich hauptsächlich darum getan, weil ihr Haar über der Trennung von ihrem Mann grau geworden war und diese häßliche Zwischenfarbe ihr bei kurzem Haar noch am besten stand. Aber abgesehen von diesem belanglosen Gerede genoß sie den Ruf, eine hochachtbare Dame zu sein, der »nichts weiter nachzusagen war«, wie die angenehme niederträchtige Redensart lautet. Ihr Mann freilich stand, weil er ein überaus liebenswürdiger geselliger Mensch gewesen und freiwillig in den Krieg gezogen war, in einem noch weit höheren Ruf.
Am Morgen nach seiner Rede ließ sich der Expfarrer bei der Dame, deren Namen und Wohnung man ihm mitgeteilt hatte, kurz vor Mittag melden. Er tat dies teils aus Gutmütigkeit, soweit er diese Eigenschaft in sich hatte, teils aus Langeweile und Zeitüberfluß. Er redete nämlich ratenweise und an dem Abend zum zweitenmal in der Stadt. Teils auch tat er es, um seinen Ruf als Menschenfreund, den er genoß, zu befestigen. Denn sein Besuch würde ja sicherlich allgemein bekannt werden. Die Dame wohnte mit ihren Kindern im Erdgeschoß einer Mietkaserne in einem billigen Viertel der Stadt. Der Expfarrer wurde von dem jüngsten Töchterchen, einem blassen unterernährten Kind, das eine Binde um seine Backe trug und offenbar Zahnschmerzen hatte, in die gute Stube geführt. Es war ein, wie dies im Erdgeschoß meist zu sein pflegt, ziemlich düsteres Zimmer, vollgepfropft mit schweren Möbeln, die viel zu groß für diese kleinen Räume waren, in die man nach dem Tode des Gatten und Vaters gezogen war. Die Dame war zunächst mehr verlegen als erfreut über den Besuch des Expfarrers. Sie entschuldigte sich, als sie mit hochrotem Kopf zu ihm eintrat, wegen ihres hellen, nicht mehr ganz reinen Morgenkleides. Sie müsse selber kochen und den Tisch decken. Und die Kinder brächten, wenn sie aus der Schule kämen, einen Heißhunger mit, den sie, soweit es ging, befriedigen müßte. Unter solchen Entschuldigungen, die er so freundlich, wie er konnte, beschwichtigte, war man auf die Hauptsache geraten, um die der Expfarrer hier erschienen war. Er erkundigte sich so zart, wie er konnte, nach der Höhe ihrer Pension, ihres Vermögens und der Unterstützungen, die sie erhielt. »Haben Sie nicht irgend jemanden in der Verwandtschaft, der Ihnen helfen könnte?«, fragte er schließlich, innerlich erschrocken über die winzige Summe, die bei aller Rechnerei zusammengekommen war. »Nein! Nein!« wehrte sie ängstlich ab, und das Zittern, das gestern abend über sie gelaufen war, befiel sie wieder.
»Ich würde mich gern für Sie verwenden, wenn es Ihnen selbst peinlich sein sollte – – –«
»Nein! Ich habe keine einzige Seele, die mir beistehen könnte. Ich will auch keine haben. Man hat mir genug vorgerechnet, daß man mit Mühe in diesen teuren Zeiten eben selbst auskommen könnte mit dem, was man hätte. Ich ertrag' es nicht mehr, mich als arme Verwandte behandeln zu lassen. Lieber weiter hungern und darben! Lieber – –«
Sie sah ihn mit so wilden Augen an, daß er ihr etwas erregt ins Wort fiel. »Sie müssen jeden falschen Stolz ablegen, gnädige Frau. In Ihrer Lage haben Sie ein Anrecht auf fremde Hilfe. Verschließen Sie sich nicht dieser Anteilnahme der Ihrigen durch einen unangebrachten Hochmut. Lernen Sie sich demütigen, wie es unser Herr und Meister Jesus Christus getan hat! Sein edles Menschentum – –«
»Wissen Sie denn, wie ich mich bereits gedemütigt habe?« unterbrach sie ihn und geriet immer mehr außer sich. »Sie reden nur wunderschön von der Demut! Ich aber habe mich darin geübt. Ich bin herumgekrochen vor Demütigkeit. Ich habe mehr ertragen in Demut und Geduld, als ich vor Gott und dem Andenken meines verstorbenen hochherzigen Gatten verantworten kann. Haben Sie denn überhaupt eine Ahnung davon, was wir deutschen Frauen während dieses Krieges durchgemacht und gelitten haben? Mit dem ewigen Herumrennen um jedes Stück Brot, um den kleinsten Fetzen Fleisch!«
Sie zitterte wieder heftig, und ihre Hand, mit der sie unter ihrem kurzen grauen Haar über ihre Stirn strich, als hätte sie die Erinnerung an diese unsere Frauen erniedrigende Zeit wegwischen wollen, klopfte an ihren Kopf. »Es hilft doch nichts! Ich kann es nicht leisten! Ich vermag es nicht als alleinstehende Frau mit meiner dürftigen Pension und meinen Unterstützungsgeldern und den Groschen, die ich mir sonst noch zusammenbettle. Meine Kinder werden verbittert werden und untergehen in Not und Elend und jämmerlich kleinen Verhältnissen. Trotz all meiner Arbeit und Demut werden sie herunterkommen, die Söhne meines herrlichen Gatten. Bestreiten Sie es nicht! Ich weiß es, ich sehe es vor mir wie die ganze trostlose Zukunft.«
Sie starrte ihn voll Verzweiflung an und sah aus wie die graue Zeit eines ewig gedrückten Lebens, die unabwendbar auf sie wartete. Sie saßen einander dicht gegenüber in dem finsteren, mit Möbeln überladenen Zimmer. So dicht, daß ihr und sein Atem in der nach Kampfer riechenden engen Stubenluft sich berührten. Und plötzlich sagte sie etwas, was sie gar nicht sagen wollte, und dessen sie sich nachher bis in den Grund ihrer Seele schämte: »Wissen Sie nicht einen Mann für mich, einen, der gut zu mir ist, der mich heiratet, ohne sich zu besinnen, der sich mit mir der Kinder annimmt, der mit die Last tragen hilft, die übermenschliche, unter der ich zusammenbreche?«
Der Expfarrer war erst erstaunt, aber dann ganz entrüstet von seinem Sitz aufgesprungen: »Was denken Sie von mir? Bin ich ein Heiratsvermittler oder eine Zeitung, der man Annoncen aufgibt oder vermischte Nachrichten mitteilt!«
Und nun geschah etwas, wovon sich die arme Witwe hinterher nicht mehr die geringste Rechenschaft geben konnte. Sie fiel vor ihm nieder. Sein Leben, sein Beruf, im Lande herumzureisen und die Gemüter anzufeuern, erschienen ihr plötzlich so wunderbar, daß sie davor niederknien mußte. Nichts in der Welt war diesem Manne zu vergleichen, der trösten und ermutigen konnte, der wie der Heiland die Not zu lindern und aus den Trümmern noch Hoffnung zu locken wußte. »Helfen Sie mir! Heiraten Sie mich!« stammelte sie und wagte die schwarzen Schöße seines Gehrocks dabei mit ihren zitternden Händen zu berühren. »Heiraten Sie mich! Ich will Ihre Sklavin sein. Ich will für Sie arbeiten wie ein Tier. Ich werde Sie glücklich machen, glauben Sie, das ist keine Redensart. Sie können mich behandeln wie die niedrigste Magd, wenn Sie nur eine Viertelstunde am Tage gut zu mir sein wollen. Eine Viertelstunde, hören Sie, nicht länger, fünfzehn Minuten, nicht mehr! Sie können Ihre Freiheit haben. Hören Sie! Ich werde eine bequeme Frau für Sie sein. Kein Weib auf der ganzen Erde ist bescheidener, kann bescheidener sein als ich. Sie können mit mir umgehen, wie Sie wollen!«
Sie wußte gar nicht mehr, was sie sagte, als sie sich völlig außer sich vor ihm auf dem Boden wand. Die Tränen stürzten ihr wie Gießbäche aus den Augen. Sie hätte ihm am liebsten wie Maria Magdalena die Füße geküßt und gesalbt. Der Expfarrer war aufs höchste erschrocken. Sein Ruf als sittliche Persönlichkeit, auf den er ganz besonders achten mußte, schwebte in Gefahr. Solche hysterischen Frauenzimmer hatten ihn schon mehrmals in peinliche Lagen gebracht. Er mühte sich, unter möglichster Schonung für seinen Anzug die heißen Hände, die sich an seine Rockschöße festgekrallt hatten, zu entfernen. »Lassen Sie mich los! Was unterstehen Sie sich? Sie sind ja vollkommen überspannt! Kommen Sie doch zur Vernunft!«
Es wäre ihm vielleicht nicht so rasch geglückt, sich ihrer zu entledigen, wenn man nicht in diesem Augenblick von der Küche, die nach hinten lag, einen lauten Lärm von einem umgestürzten Porzellanschrank vernommen hätte. Einen Lärm, wie ihn unbeaufsichtigte, aus der Schule gekommene Kinder anzurichten pflegen, wenn sie miteinander in Streit geraten. Aus der ängstlichen Stille, die nach diesem wüsten Getöse entstand, hörte man nur ein Mädchen, vermutlich das von Zahnschmerzen geplagte, kläglich wimmern, indes der scharfe Geruch von angebrannten Steckrüben durch die Türritzen hereindrang. Der Expfarrer zog seine Rockschöße, die die Witwe losgelassen hatte, wieder zurecht. Seine Rednergabe schien unter dem Ansturm der wirklichen Not, dem er ausgesetzt gewesen war, gelitten zu haben. »So etwas! So etwas! Und Sie wollen eine anständige Frau sein!« murmelte er, verwirrt durch dies Erlebnis vor sich hin. Aber sie entgegnete nichts mehr. Sie hatte sich stumm vom Boden erhoben und schritt, ohne ihn anzusehen, an ihm vorüber auf die Türe zu, die nach hinten führte. Aber er wollte, von alters her gewöhnt, das »Amen!« zu sprechen, noch ein letztes frommes Wort haben und sagte: »Ich kann nach dem, was hier vorgefallen ist und was Sie sich zuschulden kommen ließen, naturgemäß nichts mehr für Sie tun. Beten Sie zu Gott, daß er Ihnen hilft!« Damit schob er nach gedankenloser Menschen Art die Verantwortung von sich ab. Unter Berufung auf jene himmlische Macht, die immer herhalten muß, irdische Faulheit und Unzulänglichkeit zu rechtfertigen. Die Witwe ging ganz leise hinaus. Sie warf auch die Tür nicht vor ihm zu, wie der Expfarrer vermutet hatte. Sie schloß sie einfach, indes er einen prüfenden Blick in den finsteren Spiegel eines riesigen Kleiderschrankes warf, der hierher gestellt war, weil er in keines der anderen Zimmer paßte. Er zog seine Halsbinde hoch, zupfte die Bügelfalten an den Hosen über seinen O-Beinen gerade und verließ dann völlig unauffällig die Mietwohnung der Witwe.
Sechs Tage darauf, als der Expfarrer schon wieder in vier anderen Städten über die Regeneration Deutschlands geredet und gerade einen fünften Vortrag des Titels: »Wie erhalten wir die im Kriege wachgewordenen sittlichen Kräfte in unserem Volk?« beendet hatte, wurde ihm ein großer amtlicher Brief überreicht. Darin lag zunächst ein Zeitungsausschnitt, ein kurzer Zeitungsbericht, der mit den üblichen feststehenden Ausdrücken meldete, daß die Witwe eines angesehenen Gelehrten sich und ihre fünf Kinder in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer durch Gasvergiftung umgebracht habe. Daß ihr Mann im Kriege gefallen war, wurde nicht erwähnt. Bei dieser Notiz, die von der Polizei dem Expfarrer übersandt worden war, lag noch ein an ihn gerichtetes Briefchen der Verstorbenen. Es war offen gelassen und enthielt nichts als die Worte: »Es grüßt Sie, von ihrer Scham befreit, die Seele der Frau, die nur mehr eine vermischte Nachricht in der Zeitung ist.«
Der Expfarrer steckte das Briefchen ärgerlich zu sich, fest entschlossen, dieses Weib als völlig geistig Gestörte preiszugeben, falls man ihn noch in der Sache vernehmen würde. »Eine verrückte Person!« Das war die ganze Leichenrede, die er über den armen sechs toten Seelen hielt. Aber am andern Abend ließ er wieder Phrase auf Phrase über die geduldigen Häupter seiner Zuhörer hinrollen: »Unser Volk hat die Stärke, sich zu regenerieren. Was sind die Wunden, die wenigen, die uns der Krieg geschlagen hat, vor der Heilkraft unserer ganzen Nation? Wie Spreu im Wind verwehen die Leiden der einzelnen vor dem Hauch der großen Gemeinheit.«