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Charlotte Corday

Wenn Charlotte de Nayer in den Spiegel blickte, sah sie ein zartes blondes Mädchen mit einer langen schmalen Nase, hellen dünnen Ponyhaaren, die über eine niedrige Stirn hingen, und zwei blauen Augen, die etwas stumpf und ausdruckslos in diesem Gesicht schwebten. Gleichwohl konnte sie sich sagen, daß sie trotz ihrer häufig nicht ganz reinen Haut ein hübsches junges Mädchen war. Ihre Gestalt war noch nicht ausgewachsen und entschieden am Hals und am Busen zu dünn. Dies rührte offenbar von einem Blutsturz her, den sie zu ihrem und ihrer Eltern Schrecken unvermutet als kleines Kind bekommen hatte. Aber ihre schwache Gesundheit hatte sich hernach dank der sorgfältigsten Pflege, die man ihr angedeihen ließ, wieder gehoben, so daß sie jetzt für ihre siebzehn Jahre leidlich entwickelt war. Und wenn sie erst dreiundzwanzig wie ihre älteste Schwester Henriette oder selbst nur neunzehn Jahre alt war wie ihre zweite Schwester Mathilde, so würde sie schon voller werden, wie ihre Mutter zu ihrem Trost sagte. Charlotte hatte freilich diesen Trost gar nicht nötig. Anders wie ihre beiden älteren Schwestern, dachte sie noch gar nicht daran, ob sie einem Mann gefallen könnte. Sie war eben erst aus der strengen Klosterschule, in der sie erzogen worden war, nach Hause gekommen. Ihr Vater war ein recht vermögender belgischer Fabrikant, der in einem kleinen Schlößchen an der Sambre unweit von Charleroi wohnte. Er war ein sehr unternehmender, vielbeschäftigter Mann, und seine Familie bekam ihn nur wenig zu sehen.

Charlotte wohnte in dem kleinen Turmstübchen des väterlichen Hauses, abseits von den Zimmern der Eltern und der beiden Schwestern. Sie hatte sich dies Stübchen gesondert für sich ausgebeten, weil sie in ihm am besten allein sein konnte. Sie war in dem verschlossenen knospenden Alter, wo man dies über alles liebt. Hier konnte sie stundenlang mit sich sitzen, ein Buch in der Hand, über das sie hinweg durch das Fenster träumte und mit dem Fluß draußen ins Unbekannte, Ungewisse trieb. Sie sah sein Wasser durch die Wipfel der Baume blitzen und hatte ihn in seiner ewigen Bewegung so gern, daß sie ihm Kußhändchen zuwerfen konnte. Nach dem Fluß hatte sie sich am meisten gesehnt bei den frommen Schwestern, die sie in eine ernste und strenge Schule genommen hatten, und er war bisher ihre einzige Liebe gewesen.

Bis auf eine Ausnahme freilich. Es gab noch ein Wesen außer diesem Fluß, das sie geradezu abgöttisch verehrte und liebte. Sie kannte es freilich nur in einem Bilde, das ihr eine Freundin geschenkt und das sie mit großer List vor den Nonnen gerettet hatte. Es war ein Bild von Charlotte Corday, wie sie Marat ermordet. Vielleicht hatte sie sich zuerst nur des gleichen Vornamens wegen zu dieser Heldin hingezogen gefühlt, deren große Tat von den frommen Schwestern oftmals erzählt und gefeiert worden war. Mehr und mehr aber hatte sie sich dann in dies Bild verliebt und in den blutigen und erhabenen Vorgang, den es darstellte, den sie mit dem Erschrecken und der Teilnahme, mit der sie damals ihren eigenen Blutsturz erlebt hatte, betrachtete. Sie starrte das junge Mädchen unter dem Spitzenhäubchen der damaligen Zeit, das solch eine Tat gewagt hatte, voll Bewunderung und Entzücken an. Und sie bedeckte oft das liebe sanfte Gesicht ihrer Heldin und ihre Ringellocken und die weichen weißen Hände, die den Dolch auf den fremden Mann gezückt hatten, mit vielen heißen Küssen. Ihre Mutter und ihre beiden Schwestern durften nichts von diesem Bilde wissen. Aber darum war es besonders schön, von ihm zu träumen und, den Kopf auf den langen Arm gelegt, sich auszumalen, wie dieser Vorgang sich ereignet hatte, wie ihre große tapfere Heldin herzklopfend vor ihren Feind getreten war, wie sie gleichgültig mit ihm geplaudert und wie sie dann die Waffe, die mörderische Waffe gegen ihn zum blutigen Todesstoß erhoben hatte. Ach, nur einmal eine solche kühne Tat tun zu können, um dann diesem angebeteten zarten tapferen Mädchen die Hand reichen zu dürfen! dachte sie oft, wenn sie sich vor dem Bild ihrer Heldin abgeschwärmt und abgehärmt hatte.

Über diesen ihren Sehnsüchten und Wünschen brach der große Krieg zwischen Deutschland und Europa aus. Wie alles durch dies gewaltige Ereignis verändert wurde, so kam auch Charlotte hierdurch ganz aus ihrem bisherigen stillen und abgeschlossenen Leben. Ihre Eltern nahmen sie mit ihren Schwestern in verschiedene politische und patriotische Versammlungen, in denen sich zum erstenmal ihr Vaterland und die Fragen ihres Vaterlandes in die kindlich-jungfräuliche Seele Charlottens ergossen. Wie eine Überschwemmung überflutete es sie, dies große Gefühl, einem Staat, einem Volk anzugehören, in dem Tausende und aber Tausende das gleiche wollten und fühlten. Sie sagte, sang und dachte mit, was die andern sagten, sangen und dachten, und bei dem Gedanken, ihr Vaterland, ihr Volk könnten verlieren, wurde sie ganz blaß wie eine Tote und krank und elend vor Schmerzen. Und als es so kam, als ihr kleines Land überrannt wurde und die deutschen Truppen immer tiefer einrückten, konnte sie sich kaum mehr auf ihren zarten schwachen Beinen halten, so sehr griffen sie der Jammer und die Vergewaltigung ihres Volkes an. Der Hausarzt, der sie auf Bleichsucht und Blutarmut behandelte, hatte keine Ahnung von dem tieferen Grund des Leidens, das dieses schmächtige blonde siebzehnjährige Mädchen gepackt hatte, das immer dünner und blasser wurde, je weiter der Feind ins Land vordrang.

Eines Morgens beim Frühstück erzählte ihr Vater, der über den schweren letzten Wochen und Verlusten fast schneeweiße Haare bekommen hatte, daß ihnen am Abend deutsche Einquartierung bevorstände. »Zwei Offiziere und zwölf gemeine Soldaten, soviel ich bis jetzt gehört habe!« meinte er auf die näheren Fragen ihrer Mutter. Charlotte überlief es kalt bei der Ankündigung dieser neuen Schmach, die über sie kommen sollte. Sie verkroch sich in ihr Zimmer und weinte und betete, wie sie es im Kloster gelernt hatte, zu Jesus und zur Mutter Gottes, diese tiefe Erniedrigung von ihr und ihrem Heim abzuwenden. Dabei betrachtete sie das Bild der heiligen Mörderin, die sie so heiß verehrte, und heftete ihre Augen voll Angst und Inbrunst darauf, als ob ihre Rettung von ihm abhängen könnte. »Segne mich! Segne mich!« bat sie in einem fort ihre kühne Heldin und küßte ihren kleinen Mund, ihre tapferen Hände, als hätte sie sich Mut und Entschlossenheit daraus saugen können. Indes kam der Abend, und die Einquartierung zog ein, wie sie angemeldet war. Die Soldaten schliefen draußen in der Garage, die man voll Stroh gelegt hatte. Die beiden Offiziere aber wurden in das Fremdenzimmer geleitet, das nach hinten neben Charlottens Turmstübchen lag. Durch die dünnen Fachwände hier oben hörte Charlotte sie sprechen und sich waschen und säubern. Das ganze Haus und ihr stilles sanftes Zimmer kamen ihr entweiht und geschändet durch diese fremden Menschen vor, von deren Greueltaten die Zeitungen und Leute ihres Landes nicht genug hatten berichten können.

Sie schrak auf, als der Diener bei ihr anpochte und wie allabendlich meldete, daß das Essen bereit sei. Um nicht mit den beiden Offizieren schon auf der Treppe zusammenzustoßen, wartete sie, bis sie die beiden heruntertrampeln hörte. Erst dann ging sie ihnen nach. Aber sie machte noch einen kleinen Umweg. Sie lauschte, ob sie die Eltern schon mit den Offizieren sprechen hörte. And da dies der Fall war, schlich sie sich leise in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie drehte das Licht auf und holte den Revolver ihres Vaters hervor, der seit dem Beginn des Krieges, wie sie wußte, in seinem Nachttisch lag. Aber wohin jetzt mit der Waffe? Sie konnte sie unmöglich in der offenen Hand hinunternehmen. Vorn auf ihrer kleinen Brust wollte sie sie ungern verstecken, weil dort das Bild ihrer Heldin, das sie in irgendeiner Eingebung mit sich genommen hatte, auf ihrer Haut und ihrem Herzen brannte. Da fiel ihr ein kleiner Beutel auf dem Nachttisch ihrer Mutter in die Augen. Sie nahm das Riechfläschchen, das in ihm fleckte, heraus und versuchte, den Revolver hineinzupressen. Er paßte, als ob der Beutel für ihn gemacht gewesen wäre.

Nun ging sie mit ihm hinunter. Sicher würde ihr die Mutter vor den Fremden nichts sagen mögen. So war es auch. Sie bekam nur einen erstaunten Blick von ihr zu spüren, als sie mit dem Täschchen in der Hand in das hellerleuchtete Speisezimmer trat. Man hatte schon auf Charlotte gewartet, der von ihrem Vater jetzt die beiden deutschen Offiziere vorgestellt wurden. Man setzte sich darauf gleich zu Tisch. Charlotte kam gegenüber dem älteren Offizier zu sitzen, der zu seiner Rechten ihre Mutter als Nachbarin hatte. Es war ein ziemlich dicker Süddeutscher mit einem gutmütigen Gesicht, das Charlotte freilich in ihrer Abneigung gegen die Fremdlinge besonders alltäglich und gewöhnlich erschien. Sonst fiel an ihm nichts weiter auf als ein breites schwarzes Pflaster, das er über seinem linken Auge auf der Stirne trug. Er hatte sich vor einigen Tagen dort gekratzt. Irgendeine Unsauberkeit war hineingekommen. Und nun hatte er die entzündete Stelle, nachdem er sie sorgfältig ausgewaschen, aus Rücksicht auf das vornehme Quartier und die Gegenwart der Damen mit diesem Pflaster verdeckt.

Es kam Charlotte fast wie ein häßliches drittes Auge vor, das dieser Mensch auf seiner Stirne hatte. Schaudernd blickte sie von ihm zu dem andern herüber, der rechts von ihr zwischen ihren beiden Schwestern Henriette und Mathilde saß. Das war ein noch ganz junger frischer Mensch, der ein tadelloses Französisch sprach und recht gewandt ihren Schwestern den Hof zu machen wußte. Sie war entrüstet über die beiden, die seine albernen Huldigungen lächelnd entgegennahmen und sich so gewählt und vornehm wie möglich zu diesem Essen angezogen hatten. Sie selbst hatte ihr einfaches dunkles Kleid, das sie seit dem Morgen trug, nicht gewechselt. Finster starrte sie vor sich hin und nahm sich fest vor, auf keine Frage, die etwa einer dieser beiden Barbaren an sie richten wurde, eine Antwort zu geben.

Was sie noch besonders verstimmte, war die Anwesenheit eines dritten Deutschen, des Offiziersburschen, im Zimmer, der mit seinem dreisten Gesicht ihrem alten vornehmen Diener offenbar beim Anreichen und Bedienen behilflich sein sollte. Vor allem aber beim Einschenken, wie es schien. Denn beide Offiziere machten dem Ruf der Deutschen, tüchtige Trinker zu sein, alle Ehre und gossen ein Glas Rotwein nach dem andern herunter. Der ältere Offizier versuchte indes mühsam, mit ihrer Mutter, die neben ihm saß, in ein Gespräch zu kommen. Und da ihm nichts Besseres einfallen mochte, fing er aus lauter Verlegenheit an, mit ihr über Charlotte zu plaudern, die stumm und verbittert ihm gegenüber saß. Das war ihr am allerunangenehmsten, und sie ärgerte sich maßlos über jedes Wort, mit dem ihre Mutter darauf einging.

Er radebrechte etwas herum von ihrem scheuen Wesen und ihren hübschen blonden Haaren, die ihr wie einem Pony über die Stirn hingen. Dabei dachte er bei sich: »Schade, daß sie keinen ganz reinen Teint hat! Sie wäre sonst wirklich trotz ihrer Blässe ein verführerischer, vielversprechender kleiner Kerl!« Er gehörte nämlich zu den nicht seltenen Männern, denen ein Flecken oder ein paar Pickel auf der Haut der Frau den ganzen Appetit auf sie verderben können. Ihre Mutter nahm die Artigkeiten, die er ihrer Jüngsten spendete, nach Mütter Art für sich mit in Anspruch und lächelte sogar ein paarmal über die Ausdrucksweise und die Sprachverdrehungen, in denen er seine Liebenswürdigkeiten loszuwerden versuchte.

Charlotte saß stumm dabei und schämte sich ein über das andere Mal, daß dieser fremde unbekannte Mensch es wagte, so über sie herzusprechen, und daß ihre eigene Mutter ihm Rede und Antwort gab. Als er schließlich sogar daran ging, über ihre Gestalt sich zu äußern und sie noch etwas zu schlank zu finden, da schaute sie vom Tischtuch empor und blitzte ihn haßerfüllt mit ihren Augen an. Aber seltsam! In diesem Blick, den er gelassen und herausfordernd auffing und erwiderte, dämmerte zum ersten Male vor Charlotte de Nayer die Welt der verliebten und vertrauten Beziehungen, die zwischen Frau und Mann möglich sind. Als ob ihr Gegenüber dies gefühlt hätte, ließ er jetzt seine dicken hervorstehenden Augen an ihr heruntergehen und auf dem kleinen unentwickelten Busen Charlottens ruhen. Sie wurde über und über rot und heiß und fühlte das Bild ihrer blutigen Heldin, das sie zu sich gesteckt hatte, kühl auf ihrer Haut liegen. Sie schaute, um sich seinen Blicken zu entwinden, nach den Schwestern hinüber. Dabei fiel ihr der Beutel mit dem Revolver in die Augen, der rechts vor ihr neben ihrem Glase lag, das sie während der Mahlzeit nicht angerührt hatte. Sie griff unwillkürlich hinein und löste mit zweien ihrer kleinen Finger die Sicherung des Revolvers. Als Tochter eines Waffenfabrikanten war sie von Kindheit an unterrichtet, mit derlei gefährlichen Gegenständen umzugehen.

Die Schwestern schwatzten und lachten jetzt sogar mit dem jüngeren deutschen Offizier, der vom Wein angeregt immer liebenswürdiger und kühner gegen Henriette und Mathilde wurde. Ja, wie es Charlotte schien, unterhielt auch er sich gerade jetzt mit den beiden über sie, die jüngere Schwester, die freilich noch nicht ganz mit ihnen beiden wetteifern konnte, aber vielleicht einmal die Fülle der Reize ihrer zwei Schwestern in sich vereinigen würde. Dies oder etwas Ähnliches, ihr höchst Unangenehmes hörte oder glaubte Charlotte wenigstens aus dem lauten Gespräch der drei herauszuhören. Es war vielleicht nur Einbildung von ihr. Aber darum machte es sie nicht weniger traurig und unglücklich. Sie wurde immer verwirrter und nervöser. Es kam ihr vor, als ob alle die Ihrigen schon die unerhörte Schmach ganz vergessen hätten, die ihnen mit diesen beiden aufgezwungenen fremden Gästen an ihrem Tisch angetan wurde. Sonst hätten sie nicht so munter und angeregt hier sitzen können, als ob ihnen nichts geschehen wäre. Man mußte sie aufrütteln und ihnen wieder zum Bewußtsein bringen, was für Entsetzliches in ihrem Lande vorgefallen war und sich vor ihren Augen zutrug.

Ein kühler Abendwind blies durch die geöffnete Verandatür ins Zimmer, bog die Kerzenflammen zur Seite und wehte ein paar Rosenblätter aus den Vasen aufs Tischtuch. Der ältere Offizier gegenüber Charlotte wischte sich die erhitzte Stirne ab. »Ah!« machte er: »Wie angenehm!« und fächerte sich mit seiner großen Hand die Luft zu, die von draußen hereinkam. Jetzt beugte er sich zu Charlotte hinüber. Sein dicker Kopf war glühend rot geworden von dem starken Weingenuß, so daß das Pflaster sich noch schwärzer und deutlicher von ihm abhob. Charlotte starrte ihn entsetzt an, wie er ihr so nahe kam, und drückte mit ihrer linken Hand dabei das Bild ihrer Heldin fest auf ihre Brust, als hätte dies sie beschützen können. Er bemerkte diese reizende Bewegung und sagte, ein wenig lüstern geworden durch den frechen trotzigen Blick ihrer Augen: »Gnädiges Fräulein werden vielleicht einmal einen deutschen Mann zum Glücklichsten der Sterblichen machen!« Er hatte sich noch etwas mehr nach vorne geneigt und bohrte seine Augen in die ihrigen.

In diesem Augenblick riß Charlotte den Revolver aus dem Täschchen. Sie zielte gerade auf das häßliche schwarze Pflaster auf seiner Stirn, das wie das Zentrum auf einer Scheibe vor ihr war, und schoß, indes er sie noch nichts fassend und ahnend anstierte, eine Kugel durch seinen Kopf. Sie wollte in dem Entsetzen, das die ganze Gesellschaft am Tisch ergriffen und vor Überraschung betäubt hatte, die Waffe noch auf den jüngeren Offizier richten, als sie ihr von hinten aus der Hand geschlagen wurde. Dies geschah von dem Burschen der beiden Offiziere, der, während der alte Diener des Hauses gerade das Eis herumreichen wollte, den Schuß gesehen hatte. Er riß Charlotte hinten an ihrem Kleide vom Stuhl in die Höhe und stellte sie an die Wand. Charlotte sah noch, wie ihr Opfer zu Tode getroffen ihr gegenüber den blutenden Kopf zur Seite neigte, ganz wie Marat auf dem Bilde, das über ihrem Busen brannte. Und ein Gefühl, gemischt aus Schauder und Stolz, überlief frierend das arme verirrte Geschöpf.

Dann hörte sie plötzlich wie ein Echo auf ihre Tat draußen im Garten und Hof mehrere Schüsse fallen. Es war ein Trupp von Arbeitern, die – ob mit oder ohne Wissen ihres Fabrikherrn, das ließ sich hinterher nicht genau feststellen! – die bei ihm einquartierten Soldaten zu überfallen suchten. Der jüngere Offizier, der gerade Charlotte von den Fäusten des Burschen befreien wollte, sah sich gezwungen, hinauszulaufen und sich erst um seine Leute zu bekümmern. Infolgedessen blieb das arme junge Mädchen in der Gewalt des Burschen zurück, der es zum wehrlosen Entsetzen ihrer Eltern und Schwestern, die zu ängstlich oder zu feige waren, ihm zu folgen, mit sich in den Garten hinauszerrte.

Es war ein sonst ganz harmloser einfältiger Kerl, der nur eine einzige besondere Eigenschaft hatte: er hing mit einer seltenen Treue und Innigkeit an seinem Herrn und Hauptmann, den ihm dieses Vieh von einem Mädchen erschossen hatte. Darum ergriff ihn auch eine solche maßlose Wut gegen dieses zarte Geschöpf, das vornehm und fein sein wollte und dabei einen Menschen wie seinen Hauptmann meuchlings bei der Mahlzeit über den Tisch weg niedergestreckt hatte. In dieser wilden Erregung schleppte er das wimmernde Ding durch den finstern Garten zum Fluß hinunter, um es zu erschießen. Aber dort angekommen, fiel ihm in seinem Zorn erst ein, daß er seine Waffen drinnen abgelegt hatte. Schon wollte er das vor Schrecken fast gestorbene Mädchen in den Fluß tauchen und ertränken, als er in der Dunkelheit auf eine Hacke trat, die der Gärtner in dem Wirrwarr der letzten Tage dort an einem Baum hatte stehen lassen. Und mit dieser Hacke zerschlug der wütende Bursche die zarte Charlotte de Nayer, zerschlug und zerhackte sie tatsächlich wie eine Wölfin in lauter kleine Teile und verscharrte sie dann, als ihn mit der an ihr erloschenen Wut der stille Ekel überkam, so schnell wie nur möglich, ehe noch ein Kamerad oder irgendein anderer von der Fabrik herbeigekommen war.

Die neue Herrschaft des Hauses, die später von der Familie de Nayer das Schlößchen erwarb, ließ im Jahr nach dem Krieg ein großes Beet von Stiefmütterchen auf die Stelle setzen, wo Charlotte de Nayer liegen sollte. » Tenez! Ne marchez pas sur les pensées!« rufen die kleinen Kinder, wenn sie im Sonnenschein spielend um die Blumen herumlaufen.


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