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»Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Narr!
der ist des höllischen Feuers schuldig.«
Matth. 5, 22..
Stabsarzt Wese war keiner von den ganz Unangenehmen, keiner von jenen Ärzten und Menschenfeinden, die bei den Untersuchungen der ihnen überlieferten Soldaten nichts Lieberes zu schnarren wußten als: »K. v. Der Nächste!« Er konnte zuweilen beim Anblick blutjunger, noch in der Knospe steckender Knaben, die ihm zur Begutachtung und zur Überweisung in den Massenmord vorgeführt wurden, unwillig mit dem Kopf schütteln. Oder er entschloß sich gar, wenn auch nur höchst selten, einen alten Patron, der, mehrfach verwundet und zurechtgeflickt, wie eine welke, längst für den Abdecker reife Schindmähre vor ihm stand, achselzuckend wegzuschieben. Mit den ärgerlichen Worten: »Es geht wirklich nicht mehr.« Auch raffte er sich ab und zu einmal zu einem Knurren auf, wenn die Anforderungen auf kriegsverwendungsfähiges »Menschenmaterial« von oben her immer dringender und schonungsloser wurden. Aber im großen und ganzen stand er doch auf dem Standpunkt der Leute, die sich in das, was höhererseits von ihnen verlangt wurde, zu fügen pflegen mit den Worten: »Was befohlen ist, wird gemacht« oder »Was sein muß, muß sein«.
Auch hielt er es in einzelnen Dingen, die ihm wichtig vorkamen, peinlich genau. Beispielsweise unterließ er es nie, in etwas gereiztem Ton jeden, der seinen Namen falsch sprach und ihn als Stabsarzt »Weser« oder »Wesel« anredete, zu verbessern: »Bitte, Wese! Ohne ein ›r‹ oder ›1‹! Einfach Wese! Buchstabiert: W-e-s-e! Verstanden? Mir genügt der Name!«
Kurzum, jeder von uns kennt solche Ekels, deren unangenehmste Eigenschaft die ist, daß sie sich selber nicht kennen. Diesen leidlich gewöhnlichen Stabsarzt der weiland Königlich Preußischen Armee traf nun das ungewöhnliche Geschick, daß unter den vielen Leuten, deren Gesundheitszustand er täglich zu beurteilen hatte, sich eines Morgens auch Jesus Christus einfand.
Es war ein armer bleichsüchtiger, lang aufgeschossener Landsturmmann mit einem dünnen braunen Vollbart und einem stark hervortretenden Adamsapfel. Jeder etwas verfeinerte Mensch hätte ihm sogleich den Nervenleidenden angesehen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, tat das unser Stabsarzt Wese auch. Indessen gerade an dem bewußten Morgen war die Blutschraube von oben her wieder besonders streng angezogen worden. Es hieß in einem Geheimbefehl an die Ärzte, sie möchten alle Leute, die nur eben noch gehen und stehen könnten, für kriegstauglich erklären. Es entspann sich daher zwischen Wese und seinem Opfer folgendes kurze Zwiegespräch:
»Was fehlt Ihnen?«
»Ich bin nervenkrank.«
»Wie äußert sich das?«
»Durch Schwindel, häufiges Aussetzen des Pulses, Kopfschmerzen.«
»Schwindel ist nicht übel!«
Es erfolgte dann eine flüchtige Untersuchung des Herzens. Der Stabsarzt besah sich die lange Jammergestalt, die zitternd vor ihm stand, eine Sekunde durch seine Brillengläser. Irgend etwas in dem Blick des Menschensohnes, der ihn voll angstvoller Spannung auf das Urteil anstarrte, mißfiel ihm. Er wandte sich von ihm ab und brummte dem Lazarettschreiber, der sich halb stumpfsinnig, halb wollüstig an der Qual der armen Teufel weidete, die da untersucht wurden, ein paar Formeln zu, die zu bedeuten hatten, daß der unglückliche Jesus Christus kriegsverwendungsfähig wäre.
Dann machte sich Stabsarzt Wese an den nächsten, der ihm auf Gnade oder Ungnade überlassen war, während Jesus Christus sich zitternd anzog und in seine Kaserne zurückbegab. Es entspann sich von diesem Morgen an ein regelrechter Kampf zwischen dem Stabsarzt und »Jesus Christus«, wie er wegen seines sanften Wesens allgemein von seinen Kameraden getauft wurde. Dieser Spitzname war so treffend für ihn, daß ihn bald die ganze Kaserne nicht anders rief. Man nannte ihn aber ziemlich häufig, weil er durch Stabsarzt Wese in den Verdacht kam, ein Drückeberger zu sein, was er im übrigen auch wirklich war. Er gehörte zu jenen sonderbaren Heiligen, die es am schwersten auf allen Seiten im Kriege hatten, zu jenen wenigen Übertieren, die nicht mehr töten konnten und mochten. Um diesem Zwang auszuweichen, war er bis zur eigenen Vernichtung entschlossen.
Da er keine sehr guten Füße hatte, so versuchte er zunächst mit ihrer Hilfe seinem Schicksal zu entgehen. Er legte heimlich kleine Steinchen oder Stückchen Kohle in seine Schuhe, bevor er zu den Marschübungen kam, die mit Vorliebe vor dem baldigen Ausrücken ins Feld unternommen wurden. Den zunächst stechenden und hernach brennenden Schmerz beim Marschieren verbiß er, um das gewünschte Ergebnis, aufgelaufene Sohlen oder Blasen an den Füßen, zu bekommen. Außerdem empfand er, solang er in Reih' und Glied ging, eingelullt und betäubt durch das gleichmäßige Geräusch der Schritte, die Pein nur in geringer Weise. Häufig, vielmehr meistens sogar überhaupt nicht. Erst nach dem Marsch, wenn er wieder auf seine Bude in der Kaserne zu seinen zweiundvierzig Stubengenossen humpelte, merkte er, verstohlen lächelnd, daß seine aufgelaufenen Füße ihm schrecklich wehe taten. In solchem Zustand wurde er dann gewöhnlich zu Stabsarzt Wese geführt, der sich mit jedem Mal, das Jesus Christus aufs neue vor ihm erschien, mehr über ihn aufregte und ärgerte.
»Aha! Da sind Sie wieder!« herrschte er ihn an, wenn er den Martermann schon von weitem sah, wie er sich scheu vor ihm, dem er nicht entgehen konnte, in einen Winkel drückte. »Es hilft Ihnen alles nichts, mein Lieber! Sie müssen doch heraus. Ich garantiere Ihnen dafür. Was haben Sie denn heute für ein Wehwehchen, Sie Weichgesicht?«
Jesus Christus mußte bald schon damit aufhören, seine Füße wund zu laufen. Denn Stabsarzt Wese war schnell dahintergekommen. Er betrachtete sich ganz genau die Stiefel des armen Menschensohnes und bedeutete ihm, daß, wenn er nochmals mit durchgelaufenen Füßen zu ihm kommen würde, er ihn beim nächsten Marsch darauf untersuchen lassen würde, ob sich keine fremden harten Gegenstände in seinen Schuhen befinden könnten.
Jesus Christus errötete, als er sich so entlarvt sah, und begriff, daß er sich in Zukunft anderer Mittel werde bedienen müssen, um diesem Satan zu entgehen, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Krieger aus ihm zu machen. Er versuchte es nun ein paarmal mit dem Sichhinfallenlassen. Wenn es ans Ausmarschieren ging, so tat er zunächst zitternd eine Weile mit, um dann plötzlich umzusinken. »Hinzusacken«, wie es in der Soldatensprache heißt. Und zwar immer an verschiedenen Orten. Er nahm sich nämlich vorher ganz fest vor, an der und der Stelle zusammenzubrechen. Sei es unter einem dunklen Eisenbahnviadukt, durch den ihre Kolonne marschierte, oder an einer bestimmten Straßenecke. So daß es auf ihn wirkte, als ob diese betreffenden Punkte ihm den Befehl gäben, auf den Boden hinzuschlagen. Jedesmal führte er dies dann auch vorsatzmäßig aus, indem er rasselnd mit seinem Gewehr niederpurzelte.
Doch Stabsarzt Wese war auch diesen Machtentziehungsversuchen des andern gewachsen. Er ordnete kalt an, daß jedesmal nach einem solchen Zusammenbruch ein Soldat bei dem Hingestürzten verbleiben, ihn aufrichten und nach der Kaserne zurückführen sollte, wo dann einzeln mit ihm nachexerziert werden müßte. Der Wettstreit zwischen dem Peiniger und dem Gepeinigten wurde immer heftiger, immer verbitterter. Mit jedem neuen Unternehmen des stillen Kämpfers gegen die Kriegspflicht hielt sein Quälgeist Schritt. Er trieb ihn aus jedem Versteck und hinter jeder Lüge hervor, unter die der arme Dulder sich zu ducken suchte. Er jagte ihn aus dem Lazarett und aus dem »Revier«, wie man jene Vorhölle nennt, in die man die Halb- oder Leichtkranken beim Militär steckt. Dort pflegt man sie dann derartig unter magere Kost zu setzen und streng zu zwiebeln, bis sie bald das schlimmste Diensttun dem Aufenthalt in dieser Folterkammer vorziehen.
Dem von einer Leidensstation zur anderen gejagten Jesus Christus blieb nichts erspart. Wie ein Schweißhund hinter krank geschossenem Hochwild hetzte Stabsarzt Wese hinter ihm her. Er ließ nicht locker, bis er ihn reif für die Front hatte. Alle Ausflüchte, alle Täuschungen halfen dem Kriegsscheuen nichts bei jenem Wüterich, der es sich nun einmal zur heiligen Pflicht gemacht hatte, soviel Leute wie möglich zum Dienst fürs Vaterland heranzuholen. Besonders diejenigen, die er als Drückeberger erkannt zu haben glaubte, wie unsern Jesus Christus, hatte er sich aufs Korn genommen. »Nun gerade!« pflegte er dann zu knurren, biß sich auf die Zähne und gab nicht eher nach, bis er einen solchen schlappen Bruder in die Front gedrückt hatte. Schließlich war er nun auch mit Jesus Christus so weit. Er hatte ihn zwei Tage lang scharf bewachen lassen, so daß dieser, der an und für sich eine zähe Natur hatte, keine Möglichkeit fand, sich krank zu stellen. Nun wollte Wese ihn mit einem Transport von Leuten hinausschicken, die als unruhige, aufsässige Burschen galten und darum sofort in die vorderste Linie gesteckt werden sollten. Derartige Massenuriasbriefe waren ja in der schreckenvollsten Zeit der Menschheit nichts Seltenes. Irgendeine mitleidige Schreiberseele, die Kunde davon bekommen hatte, trug dies dem jeden seinesgleichen mild anlächelnden Jesus Christus heimlich zu, als er gerade zur letzten Untersuchung vor den Stabsarzt geführt wurde. Dieser hatte das angeordnet, um alle Förmlichkeiten zu erfüllen und auch, vielleicht unbewußt, um sich noch einmal an dem Jammeranblick dieses Todeskandidaten zu weiden, der seiner Meinung nach nichts von dem ihm drohenden Verhängnis ahnte. Ganz unauffällig zwischen dem andern Dienst sollte die nun einmal vorgeschriebene Untersuchung des Trupps stattfinden, der gleich danach in die vorderste Feuerlinie versandt wurde. »Damit nur ja dieser Hauptangsthase nichts merkt«, hatte Wese befohlen.
Er nahm ihn sich zuletzt vor, so daß Jesus Christus lange Zeit hatte, über seine Lage nachzudenken, die zu einer Entscheidung drängte. Nun stand er dem Stabsarzt gegenüber, dessen stechende graue Augen sich still triumphierend in die seinen bohrten. Er hörte ihn höhnisch fragen: »Nun? Heute scheint Ihnen ja ausnahmsweise nichts zu fehlen?«
Da entspann die Not, die Furcht vor dem unmenschlichen Zwang, töten zu müssen, dem nur noch auf eine einzige Weise zu entrinnen war, dem armen Jesus Christus ein seliges Lächeln:
»Warum soll dem etwas fehlen, Bruder, der sich zu der Vollkommenheit des Himmels durchgerungen hat?« gab er zum Grinsen der Umstehenden zur Antwort. Aber so leicht kam er bei Stabsarzt Wese nicht durch. »Aha!« fletschte der mit den Zähnen, fest entschlossen, sich seine sichere Beute nicht mehr entgehen zu lassen. »Das letzte Mittel! Er markiert Geisteskrankheit. Was? Religiösen Wahnsinn oder etwas Ähnliches. Wie?«
Doch wer sich einmal über die Schranke erhoben hat, die den durch Vernunft und Ordnungsliebe Gehemmten streng von dem Wilden oder Irren oder dem Edelsten absondert, der läßt sich nicht mehr bange machen. Wem der Sprung, der tollkühne, über diese für die meisten unüberwindliche Grenze gelungen ist, den vermag selbst eine mit allen Machtmitteln zur Erstickung des einzelnen ausgerüstete Mordmaschine wie der preußische Militarismus nicht mehr niederzudrücken.
»Selig sind die, die da geistig arm sind«, entgegnete der seinem Henker entrückte Jesus Christus mit dem merkwürdigsten Worte der Bergpredigt auf diesen wütenden Vorstoß seines Widersachers. Zur feixenden Freude der übrigen zur Untersuchung bestellten Soldaten, die ihn innerlich beneideten und sich wüst ärgerten, daß er auf solche Weise dem ihm drohenden Verhängnis entkommen würde. Stabsarzt Wese ließ sofort, um die anderen nicht der seelischen Ansteckung auszusetzen, das Zimmer räumen. Bis auf Jesus Christus, der vorläufig wieder beim Transport zurückbleiben mußte. Aber es war nun nicht mehr möglich, ihn, solang er lebte, von seiner Heiligkeit herunterzuziehen und zur sogenannten Vernunft zurückzubringen. Selbst Wese vermochte dies nicht, obwohl er ihm mit der ganzen Besessenheit seines beschränkten Wesens zusetzte und ihn mit dem blinden Haß des Durchschnittspflichtmenschen gegen das Außergewöhnliche verfolgte. Das einzige Schlimme, was er gegen ihn ausrichten konnte, war dies, daß er ihn zur Beobachtung auf seinen Geisteszustand in die psychiatrische Anstalt des Doktor Liebmann, eines ihm bekannten Peinigers, einsperren ließ. Und zwar in die Abteilung, in die man diejenigen steckte, die man für offenkundige Simulanten hielt. Die Behandlung der Scheinkranken bestand dort in Hungerkuren, kalten Duschen, Schlägen, Schimpfen und in der Anwendung von elektrischen Foltern. Mit diesem letzten Mittel hatte man sogar die besten Erfahrungen gemacht. Ganz verstockte Fälle von Kriegsscheuheit waren schon durch solche Elektrotorturen geheilt worden. Und es war mehrfach vorgekommen, daß Soldaten, die steif und fest erklärt hatten, nie und nimmermehr in die tagelangen Todesängste des Trommelfeuers zurückzukehren, nachdem sie drei- bis viermal stark elektrisiert worden waren, de- und wehmütig darum gebeten hatten, sie schleunigst wieder vorn an der Front verwenden zu wollen.
Unnütz quälerisch, all die Verfahren näher zu beschreiben, denen Jesus Christus in dieser Abteilung für Geisteskranke ausgesetzt wurde. Stabsarzt Wese sorgte durch häufige gehässige Nachfragen und belastende Mitteilungen ständig dafür, daß man in der Behandlung dieses zähen Simulanten nicht lässig wurde. Schließlich aber geschah es, daß der arme Jesus Christus, der unter solchen Quälereien mehr und mehr abgemagert, jedoch auch beständig nur noch milder geworden war, bei einer elektrischen Folterung auf der Strecke blieb. Und zwar durch die Schuld eines sadistisch veranlagten Sanitäters. Derartig beschaffene Bestien erlebten ja in den Jahren 1914 bis 1918 höchst zuträgliche Wonnezeiten. Dieser Unmensch, mit Namen Lambertz, der noch dazu ein dummer Taps war, hatte, um den armen, ihn sanft abwehrenden Jesus Christus durchaus zum Kriegshelden zu machen, den elektrischen Strom so stark angedreht, daß dieser den Gemarterten mit fortriß und seinen Geist in spätere edlere Jahrhunderte trug.
Der Leichnam blieb zurück. Mit einem eigentümlich zarten Gesichtsausdruck, der zwischen Lächeln und Weinen stand. Die Untersuchung über den Fall wurde bald niedergeschlagen, da es sich ja offenbar bei Jesus Christus um ein minderwertiges Subjekt gehandelt hatte.
Es bleibt nicht zu leugnen, daß Stabsarzt Wese die Nachricht von dem Ableben seines unverbesserlichen Kriegsdrückebergers mit höchst unangenehmen Empfindungen aufnahm. Nein, wahrhaftig, alles, was recht ist, er verspürte beinahe sogar etwas wie Gewissensbisse dabei. »Zu dumm! Zu dumm!« knutterte er ein paarmal auf seine verdrießliche Weise. Aber dann vergaß der Vielbeschäftigte die Sache von Woche zu Woche mehr und mehr über allen möglichen neuen Fällen und Untersuchungen. Und endlich hatte er sie, wie Pontius Pilatus unseren Heiland, ganz aus dem Kopf verloren.