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Der Totenwurm

Was hat ein Postsekretär eigentlich mit dem Kriege zu tun, möchte ich wissen? Wir hatten da einen bei uns, einen älteren stillen Kerl mit einer Brille natürlich, einer schwarzen Hornbrille mit ganz großen und besonders geschliffenen Gläsern. Er stammte von der Eifel, glaub' ich. Jedenfalls war er die letzten Jahre dort in einer ziemlich zurückgelegenen Gegend tätig gewesen und war etwas verbauert. Das merkte man ihm an. Vielleicht bekam er selber auch einen Animus davon. Denn er hielt sich sehr für sich und war schweigsam wie Moltke, wenn er als Offizierstellvertreter bei uns saß. Ein merkwürdiger Heiliger! Zunächst bekam ihm die Kriegerei ganz gut, wie es schien. Er hatte einen gewaltigen Hunger, wenn er mit uns Leutnants zusammen speiste.

Aber das war wohl nur äußerlich, daß er sich in das Unabänderliche schickte. Innerlich ist er, wie uns hinterdrein klar wurde, wohl von Anfang an nicht mit dem Kriege fertig geworden. Namentlich die Anordnung und Verwüstung, die damit verbunden war, ging ihm gegen den Strich. »Ist denn das nötig gewesen«, fragte er oft ganz aufgeregt, wenn wir, die wir damals in der Nachhut waren, durch einen zerschossenen Flecken, ein verbranntes Dorf marschierten. Das Durcheinander der halb oder ganz zertrümmerten Gegenstände, der zerbrochenen Möbel, versengten Sofas, zerrissenen Bettdecken, die vor den kahlen Flanken der Häuser herumlagen, aus denen ein häßlicher Brandgeruch schwelte, machte ihn kaputt. Er blickte dann, entsetzt über die ganze trübsinnige Bescherung, die man dort angerichtet hatte, hin und her und meinte mit einem nervösen Achselzucken, das er an sich hatte: »Wie ist denn das wiederherzustellen? Wer kann sich noch in diesem Wirrwarr zurechtfinden?«

Unsere Leute machten sich bald einen Spaß daraus, ihn auf besonders übel mitgenommene Sachen aufmerksam zu machen, und stießen sich schon vorher heimlich an: »Was wird der Postmeister wieder dazu sagen?« Später, als wir aus der Reserve weiter ins Ganze und Volle nach vorne kamen, begann er wie jeder gleichgültiger gegen die Sachbeschädigungen des Krieges zu werden. Er sah ein, daß seine Aufregung und Entrüstung darüber wenig Zweck mehr hatte. Es wurde weiter geschossen und Schaden angerichtet, soviel man konnte. Das gehört nun einmal zum Kriege. Das mußte sich schließlich auch unser Postsekretär sagen. Er hörte also auf, sich um die Zertrümmerei zu bekümmern. Desto mehr begann er sich aber jetzt mit den Menschen zu befassen, die neben und um ihn vernichtet wurden. Die Verwundeten blieben ihm ziemlich gleichgültig. Für die sorgten die andern dutzendweise: der ganze Schwarm der Sanitäter, die emsig wie die Aaskäfer die Verbandplätze und verlassenen Schützenlinien abgrasten. Aber die Toten, die waren geradezu ein Fressen für unsern Postsekretär. Wo es nur einen oder mehrere zu begraben galt, da tat er mit. Er war ganz unermüdlich, Gefallene zu bestatten, und riskierte mehrmals sogar sein Leben dabei. Es widersprach offenbar seinem Ordnungssinn, wenn Leichen, die in die Erde gehörten, noch oben herumlagen. Auch konnte er gar nicht begreifen, daß wir die Unmenge der Toten um uns herum einfach als eine grausame Notwendigkeit hinnahmen und immer abgestumpfter gegen ihren Anblick wurden.

Er hatte sich nach und nach eine besonders feine Nase für Tote angewöhnt, die er selbst gegen den Wind zu riechen vermochte. Jedesmal, wenn wir vorrückten oder ein neues Quartier bezogen, war seine erste Frage an unsere Kameraden, die noch dort waren: »Sind keine Toten hier?« Dabei stieß er seine kurze dicke Nase in die Luft und schnupperte genau wie die Hunde, welche die Lazarettgehilfen, um Verwundete oder Vermißte aufzustöbern, an ihren Stricken herumführten. Er witterte Leichen heraus, wo man kaum welche mehr vermutete. Und wenn er wieder glücklich irgend so eine in der Nase hatte, so ruhte der Kerl nicht eher, bis er sich allein oder mit einem Helfershelfer an sie herangepirscht und sie je nach der Gefahr, die damit verbunden war, mehr oder minder umständlich bestattet hatte.

Auch für das hinterbliebene Hab und Gut der Toten brachte er eine ungeheure Teilnahme auf. Er fühlte sich bei der Leichtfertigkeit, ja fast Selbstverständlichkeit, mit der man hier draußen in der Schlacht dem Tode gegenüberstand, doppelt verantwortlich gegen die armen Angehörigen und Anverwandten, die ein Gefallener zurückließ. Es war seine Lieblingsbeschäftigung, den Krempel zu ordnen, der von einem solchen armen Kerl übriggeblieben war, den er beerdigt hatte. Die ganze fahrende Habe, als da sind: Taschenuhr, Pfeife, Tabaksdose, Uhrkette, Brieftasche, Gesangbuch, Brustbeutel, Rosenkranz und andere Dinge, die dem Verstorbenen ans Herz gewachsen waren, aber eigentlich ziemlich wertlos sind. Unser Postsekretär stellte aufs sorgfältigste den ganzen Fund fest und schrieb alles, was der Tote hinterließ, haarscharf auf. Dann stattete er den Angehörigen in einem ausführlichen Schreiben nüchtern und klar genauen Bericht über das Vorgefundene ab, das er gleichzeitig mit ein paar gang und gäben Beileidsausdrücken am Schluß seiner Mitteilung zurücksandte.

Zunächst fielen diese Eigentümlichkeiten unsers Postsekretärs weiter keinem Menschen auf. Man hatte verdammt anderes zu tun, als sich mit den Geheimnissen in den Seelenleben unserer Mitstreiter zu befassen. Erst als wir in Choléra lagen und uns ein wenig verschnaufen konnten, begann der sonderbare alte Knabe uns ungemütlich zu werden. Choléra, das war ein Gehöft, das so scheußlich und unheimlich aussah, wie es klang. Ein trauriges Backsteinhaus mit armseligen Ställen und Wirtschaftsgebäuden drum herum. Von seinen Bewohnern verlassen, wurde es nur von einem Schwarm herrenlos gewordener Tauben umflattert, was ihm ein ganz gespenstisches ödes Aussehen gab. Es lag noch im Feuerbereich, und mehr als einmal zischten die feindlichen Granaten über Tag in die Buden, die immer wackliger und luftiger wurden. Da es uns oben auf die Dauer zu sehr zog, waren wir in den Keller des Hauses gerückt, wo wir uns die Erholungszeit außer dem Schlafen so gut wie es ging vertrieben. Meistens spielten wir Karten oder erzählten uns Witze, je schärfer, je besser, wie das eben Brauch ist, wenn mehrere Männer zusammen sind. Unser Postsekretär war wenig in solchen Witzen bewandert. Er saß gewöhnlich in einer Ecke des Kellers und war bei dem erbärmlichen Licht eines Kerzenstumpfes damit beschäftigt, die Uniformstücke oder die Gelder und Papiere zu ordnen, die von denen zurückgeblieben waren, die am Tage vorher in den Schützengräben gefallen waren. Er legte diese Hinterlassenschaften in einzelne Päckchen säuberlich sortiert zusammen, um sie hernach, sobald die Feldpost kam, gewissenhaft mit seinem Bericht zur Weiterbeförderung abzuliefern. Wir machten uns oft untereinander auf den Kerl aufmerksam, wenn er wieder wie der Postmeister des Todes in der Kellerecke zwischen seinen Päckchen saß und alles sammelte und untersuchte und numerierte, was von den Toten des Tages bewahrt worden war. Er gab sich eine wahnsinnige Mühe mit diesen stinkenden Überbleibseln und gönnte sich kaum mehr den Schlaf, um alles recht gut machen zu können. Den Helm eines unserer jüngsten Leutnants, eines prächtigen Menschen, der von einer Granate in Stücke zerrissen war, schraubte er sorgfältig auseinander, um ihn richtig erhalten dem alten Vater als Andenken an sein letztes Kind einzusenden. Mit einer fabelhaften Geduld quiselte er an dem Helm herum, bis er ihn glücklich klein gekriegt und für ein Postpaket zurechtgemacht hatte. Das ist nur ein Beispiel für die Unermüdlichkeit, mit der er sich der Sachen der Toten annahm.

Unserm Major wurde schließlich, weil der arme Esel von Tag zu Tag immer grauer aussah und vor Ermattung im Dienst schlapp wurde, die Sache denn doch zu dumm. Ihm war der Kerl von vornherein gegen den Strich gewesen, weil er, wie er behauptete, nach altem Kleister röche. Er untersagte ihm jetzt schroff, sich so ausschließlich und angestrengt mit den Angelegenheiten der Gefallenen zu beschäftigen, die ihn eigentlich gar nichts angingen, und gab ihm den scharfen Rat, sich mehr auf seine militärischen Pflichten zu besinnen. Das erregte unsern Postsekretär aufs äußerste. Zwar er wagte nicht gegen den Major direkt seine Klappe aufzutun. Aber heimlich entlud er sich, soweit es ging. Man hörte ihn oft vor sich hinsprechen: »Eine Schande! Es sind doch auch Menschen gewesen. Wer bekümmert sich nun um ihre Sachen und um die trauernden Hinterbliebenen? Es ist unerhört!«

Zwischendurch befaßte er sich aber, soviel es ihm noch möglich war, mit seiner früheren Tätigkeit, von der er offenbar nicht lassen konnte. Es war wie ein Zwang, der ihn packte und unwiderstehlich zu den Leichen oder ihren nachgelassenen Sachen trieb. Denn wir bemerkten, wenn wir nachts einmal in unserm Keller aufwachten und erschrocken aus irgendwelchen kriegerischen Träumen die Augen aufrissen, immer wieder unsern Postmeister aufrecht hinter seiner schwarzen Hornbrille wie ein Gespenst in seiner Ecke sitzen und die Überbleibsel der zuletzt Gestorbenen sortieren und zusammenlegen. Seine überanstrengten Augen glühten dabei hinter den riesigen, besonders geschliffenen Brillengläsern wie zwei rote Löcher. Und wir schlossen die unsrigen schnell, um den unheimlichen Kerl zwischen den übelriechenden Totensachen, von dem wir nicht wußten, ob wir ihn sahen oder träumten, flugs wieder zu vergessen.

Dem Major wurde der Mann immer unangenehmer. Er wäre ihn offenbar gern los geworden, da ihm diese beständige Fürsorge für die Toten, von der der Kerl nicht abzubringen war, graulich wurde. Er ließ ihn beobachten und gab an, daß man seine Briefe besonders nachprüfen solle. Zu unserm Erstaunen wurde unser Postsekretär an sich selbst fortwährend unordentlicher und zerstreuter, je länger der Krieg dauerte. Mal hatte er das vergessen, mal jenes verloren, so daß er immer abgerissener und verkommener aussah. Schließlich endete seine ganze militärische Laufbahn mit folgendem Brief, den man an der Kontrollstelle zurückbehalten hatte und unsern Major aushändigte. Der Brief lag einem Paket bei, das der Postsekretär an seine Frau nach Hause abgeliefert hatte. Mit seiner schönen regelmäßigen Handschrift hatte er geschrieben:

»Meine liebe Elise! Ich schicke dir hiermit die beifolgenden Stücke, die dein lieber verstorbener Gatte hinterlassen hat.« Es folgte dann unter a, b, c, d, e usw. eine genaue Aufzählung und Bezeichnung der Gegenstände, die er seiner Frau mit dem Paket übersandte. Er hatte sie in der letzten Zeit, in der wir uns über seine zunehmende Schäbigkeit gewundert hatten, zurückgelegt und nach und nach angesammelt. Zum Schluß des Briefes stand zu lesen: »Ich erfülle hiermit endlich die traurige Pflicht, dich von dem Ableben deines geliebten Gatten in Kenntnis zu setzen. Ich habe ihn selbst beerdigt, wie ich auch seinen letzten Augenblicken beigewohnt habe. Er starb sanft und gefaßt. Seine letzten Worte waren: ›Es ist vorbei.‹ In deinem großen Schmerz wird es dir ein Trost sein, dir sagen zu dürfen, daß er für die Heimat und für die Ehre des Vaterlandes gefallen ist. Ich bitte, auch den übrigen Hinterbliebenen den Ausdruck meines tiefsten Beileids übermitteln zu wollen, und zeichne hochachtungsvoll, an deinem Kummer teilnehmend

Peter Hölscher,
Postsekretär u. Offizierstellvertreter.«

Hiernach wurde er von der Front fortbeordert und auf Anordnung unsers Majors und der Ärzte in eine Nervenheilanstalt verwiesen. Nach seiner baldigen Genesung kehrte er in sein bürgerliches Amt zurück, da man, höhererseits vor ihm gewarnt, auf seine weiteren Kriegsdienste verzichtete. Nun sitzt er wieder hinter dem Schalter, ein Muster an Pflichttreue und Arbeitseifer, und befaßt sich mit den Angelegenheiten der Lebenden so gewissenhaft, wie er sich im Kriege, von einer inneren Macht getrieben, mit denen der Toten abgeben mußte.

Es ist auch viel besser so. Was hat ein Postsekretär eigentlich mit dem Kriege zu tun, möcht' ich wissen!


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