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IV

Das nachgeborene Schwesterchen, ein hübsches, zierliches Kind, war schwer erkrankt. Es springt noch eben munter mit seinen Gespielen umher, als es plötzlich aufschreit. Befragt, klagt es über Schmerzen in der rechten Hüfte. Die Schmerzen verlieren sich, treten aber bei jedem Laufen und Springen erneut und heftiger auf. Das Kind muß sich legen, ein Hüftleiden stellt sich heraus, Wunden brechen auf, und die Ärzte wollen zur Amputation des Beines schreiten; nur der energische Widerspruch des Hausarztes verhindert das. Aber nun begann ein langes Krankenlager, das der Mutter schwere Lasten aufbürdete. Um sich zu erholen und auch der Kranken zur Stärkung, ging die Mutter mit den beiden Schwestern während der Sommerferien nach Travemünde. Wir beiden Brüder wurden solange auf ein benachbartes Gut in Pension gegeben. Wir freuten uns gar sehr darauf und vergaßen darüber die betrübende Veranlassung.

Es war ein heißer Sommer, die Ernte war vor der Tür und schon teilweise in Angriff genommen, so daß wir Ungeduldigen etwas zu verlieren fürchteten; denn was gibt es Schöneres für einen Knaben als das Einfahren des Kornes, hoch oben auf dem schwankenden Segen oder, noch besser, neben dem Knecht auf dem Handpferd. Bei uns regte sich das alte Bauernblut der Vorfahren. Das Landleben war uns nicht ganz neu; auf gelegentlichen Ausfahrten hatten wir es genugsam kennen gelernt, um uns sehnlichst einen längeren Landaufenthalt zu wünschen. Nun sollten wir so Herrliches wirklich auskosten!

Die Gutskinder, zwei Brüder und eine Schwester, holten uns in einem niedrigen Wägelchen ab. Es waren bäuerlich-derbe Jungen von achtzehn und dreizehn Jahren, für ihr Alter groß und breit; die Schwester, neunzehn Jahre alt, war ebenso stattlich aufgewachsen, und wir respektierten sie als junge Dame. Sie war freundlich, fragte nach Eltern und Geschwistern, Haus und Schule und zeigte ein munteres, burschikoses Wesen, das uns eine gute Gemeinschaft erhoffen ließ.

Die Eltern dieser Geschwister waren ein sehr ungleiches Paar. Der Vater kam gerade über den Hof, als wir anlangten, und begrüßte uns mit kräftigem Handschlag. Er war ein schlanker, sonnengebräunter Mann, aber von leidendem Aussehen, mit hübschen, stillen Augen. Die Mutter stand unter der Tür, breit, behäbig, wohlwollend.

Sie hieß uns willkommen und führte uns ins Haus. »Ihr habt gewiß einen tüchtigen Hunger,« waren ihre ersten Worte.

In der kühlen Stube standen ein mächtiger Teller Butterbrot und ein großer Topf herrlicher Milch bereit, uns zu laben, und wir waren ob solchen Empfanges sehr erfreut. Nur genierte es uns, daß wir allein zulangen sollten; die beiden Söhne behaupteten, keinen Appetit mehr zu haben, da sie schon gegessen hätten, bevor sie aus dem Hause gegangen wären. Doch sie setzten sich mit an den Tisch, uns gerade gegenüber, stützten den Kopf und sahen uns jeden Bissen in den Mund. Das Mädchen stand daneben und wehrte ihnen zuletzt; da gingen sie hinaus und hießen uns nachkommen, wenn wir satt wären. »Lauft nur,« sagte die Schwester. »Wir haben doch noch allerlei herzurichten.«

Sie führte uns denn auch, nachdem wir die Hälfte des großen Butterbrotberges abgetragen hatten, in unsere Kammer, zeigte uns im Vorübergehen allerlei andere Räume und auch ihr eigenes freundliches Mädchenzimmer, worin ein grünliches Licht herrschte, da vor dem offenen Fenster eine breite Lindenkrone ihre Zweige ausstreckte.

Unsere Kammer lag auf einem schmalen Korridor gerade der Kammer Helenens gegenüber. Auch hier stand das Fenster offen und ließ eine erquickliche Luft herein, und sperrte ein grünes Lindenlaub die heiße Sonne ab. Die schlichten Betten waren sauber, und das weiße Linnen duftete nach frischer Wäsche.

»Ihr müßt euch erst ein wenig behelfen,« sagte das Mädchen. »Paul schläft ein paar Tage bei euch auf dem Fußboden. Er geht dann nachher mit Georg zum Schwager Oberförster in die Ferien, und dann habt ihr hier das ganze Reich für euch allein.« Nachdem wir uns oberflächlich eingerichtet hatten, führte unser erster Weg natürlich in die Ställe, die wir jedoch leer fanden; das Vieh war auf der Weide und die Pferde waren bei der Arbeit. Die Rapsernte war im Gange, und die vollen Wagen rollten geräuschvoll über den Hof und schwankten durchs weitgeöffnete Scheunentor auf die Tenne. Wir streichelten die dampfenden Tiere, kletterten in die geleerten Wagen und fuhren gleich mit aufs Feld hinaus, wo eine große Schar fleißiger Arbeiter in der glühenden Sonne beschäftigt war, die erste Feldfrucht mit ihrem harten, stachligen Stroh aufzuladen. So holten wir uns neuen Hunger für den Mittag, aber auch ein wenig Müdigkeit, so daß wir es nach dem Essen vorzogen, im Garten zu bleiben, wohin in eine schattige Laube der Nachmittagkaffee und die selbstgebackenen Kringelchen aus Mürbeteig gebracht wurden.

Dieser Garten senkte sich an der einen Seite in ein buschiges Tal, in der eine Quelle ihr Wesen trieb; man hörte beständig ihr Geplätscher aus dem kühlen Dunkel herausklingen. War man auf schmalem, romantischem Pfade zu ihr hinabgestiegen, sah man sie mit einem glitzernden Bogen aus dem dunklen, bemoosten Abhang hervorspringen, hell, klar und kühl, und dann weiter durch Moos und Farn ihren schlängelnden Weg sich suchen. Hier war der Lieblingsplatz Helenens, und sie führte uns denn auch bald in dies Heiligtum hinab. Auf der entgegengesetzten Seite des Gartens erhob sich ein tannenumsäumtes Hügelchen mit einer Ruhebank, von wo aus man einen weiten Blick über die Felder hatte. Das goldene Korn wogte im Sonnenschein, und die heiße Luft zitterte unablässig darüber bis an den fernen, dunstigen Horizont, wo ein dunkler Wälderstrich das Bild begrenzte. Oft schwankte ich, welchem Platz ich den Vorzug geben sollte.

Anfangs freilich war an ein friedliches Genießen so schöner Umgebung, wie es meinem Wesen wohl angemessen war, nicht zu denken. Die beiden Brüder erwiesen sich als ein derbes, unruhiges Paar, das immer etwas unternehmen mußte, und, wenn es nichts Gemeinsames auszurichten fand, miteinander raufte, um doch irgendwie die überschüssige Kraft auszulassen. So waren wir denn froh, als sie uns nach einigen Tagen verließen. Allein meinem Bruder schien es auch in dem größeren Frieden nicht zu behagen, denn eines Morgens war er verschwunden.

Zum Schrecken der Eltern kam er zu Fuß in Travemünde an. Diese heroische Leistung kindlichen Heimwehs rührte sie, und sie behielten ihn bei sich. Da war ich denn allein und stand vor der Frage, ob ich auch nach Hause gehen oder aushalten wolle. Nun gab es so vieles, was mich hielt; vor allem war es die ungebundene Freiheit in der schönen Natur, dann das gute ländliche Essen, vor allem das selbstgebackene, schmackhafte Brot und nicht zuletzt die Hoffnung, nun die beiden Störenfriede aus dem Hause waren, eine Zeit ungestörten Glückes verleben zu können. Dazu kam, daß Helene mich bat, doch ja da zu bleiben.

»Ich werde dir sehr böse,« sagte sie, »wenn du gehst. Oder bist du auch so ein Muttersöhnchen?«

»Das nicht,« antwortete ich, »aber wenn sie alle weg sind –«

»Wir wollen uns schon die Zeit vertreiben. Jetzt, da du gerade anfängst, frisch auszusehen, wolltest du davonlaufen? Das gibt es nicht.«

Auch die Eltern schienen froh, daß ich dann blieb; sie mochten die üble Nachrede fürchten, wenn es etwa heißen würde, wir waren ihnen davongelaufen, weil wir es nicht bei ihnen hätten aushalten können.

So wurde ich denn mit doppelter Freundlichkeit von ihnen umgeben, ja geradezu verzogen. Helene hatte manche Stunde für mich übrig; ja sie nahm die Sorge für mich und mein leibliches Wohl zuletzt ganz in ihre Hand.

Ich fühlte von Tag zu Tag, daß ich ihr lieber wurde und, daß sie suchte, mir etwas Gutes zu erweisen. War ich dann einige Stunden mir selbst überlassen, so war sie am Nachmittage wieder für mich da. Wir gingen in den Garten, saßen an der Quelle oder auf dem Tannenhügel, machten auch wohl einen weiteren Spaziergang durch die Felder oder bis an den entlegenen Wald. Oft aber gingen wir zu den Arbeitern auf das Feld hinaus und fuhren mit den vollen Wagen heim, wobei sie sich auch wohl mal in den Sattel schwang und die Zügel ergriff, während ich mich an der Seite einer so kraftvollen Amazone mit großem Stolz und möglichst guter Haltung auf dem Nebenpferd breit machte. Sie war von früh an das Reiten gewohnt und ersetzte auch in anderer Hinsicht gut einen Knecht. So vertraute man ihr denn ein Gespann schon an und war sicher, daß sie es wohlbehalten in der Scheune abliefern würde.

Als nun die Roggenernte begann, ließ sie es sich nicht nehmen, das erste Fuder auf den Hof zu fahren. Es war ein schwüler, gewitterschwangerer Tag, als wir aufs Feld hinausgingen, wo alles des Wetters wegen in fieberhafter Tätigkeit war. Hier rauschten die goldenen Ähren unter dem singenden Schlag der Sensen in schönem, gleichmäßigen Schwung zu Boden, dort rafften braune Arme die Gefallenen zusammen, und andere stellten sie in Hocken gegeneinander; weiterhin war alles schon zum Einfahren bereit, und der gebündelte Segen schwebte auf ragender Forke hoch über dem Rand des Wagens. Der erste war vollgeladen und Helene wollte ihn im Triumph in die Tenne bringen; ein Knecht half mir aufs Nebenpferd, und im Trabe ging es heim.

Die schwarzen Wolken waren indes drohend heraufgekommen und schienen uns gleichsam zu verfolgen. Mein langbeiniger Fuchs stieß sehr, und ich hatte Mühe, mich auf seinem Rücken zu behaupten. »Halte dich nur gut fest,« mahnte Helene, »wir sind bald zu Hause.« Sie schnalzte mit der Zunge und ermunterte mit kurzem Schlag der Leine die Tiere zu schnellerem Trab, so daß ich nicht ohne Angst auf meinem sattellosen Gaul hockte.

Doch umsonst, der plötzlich einsetzende Wind trieb das schnell aufkommende Gewölk rascher vor sich her als wir unsere Pferde; ein erster Blitz fuhr herab, ein knatternder Donner folgte, und die ersten schweren Regentropfen fielen. Und jetzt brach das Unwetter mit aller Heftigkeit auf uns herein; ein zweiter Blitz in unserer Nähe machte die Pferde scheuen, schwere Hagelkörner prasselten herab und ein Unglück drohte. Helene glitt aus dem Sattel und beruhigte die zitternden Tiere. Wie ich ihrem Beispiel gefolgt, weiß ich nicht: genug, ich stand neben ihr, triefend und bei jedem neuen Blitz zusammenfahrend. Mit jeder Hand eines der Pferde kurz am Zügel haltend, hoch aufgerichtet bot Helene das Bild jugendlicher Kraft. Die unruhige Deichsel tanzte vor ihrer Brust in gefährlicher Nähe auf und ab; aber sie sprach mit ihrer tiefen, vollen Stimme unablässig auf die Pferde ein: »So, so, Lisch. – Ruhig, Peter. – So, so, guter Peter.« Schnell wie das Unwetter gekommen war, zog es vorüber, und wir konnten uns wieder, freilich tüchtig durchnäßt, in den Sattel schwingen.

Solche gemeinsame Erlebnisse führten uns immer näher zusammen, und als wir uns am Nachmittag dieses schwülen Tages an der Quelle im Gartental trafen, hatten wir ein ergiebiges Thema für unsere Unterhaltung. Der schwere Regen war nur strichweise gefallen, wir konnten uns auf die einladende Moosdecke niederlassen, in unmittelbarer Nähe des kühlenden Strahles, seiner feuchten Spritzer nicht achtend; klingend sprang er aus der kühlen Erde und schimmerte vielfarbig im Lichte, das durch die leise schwankenden Blätter fiel. Helene schöpfte mit beiden Händen, die sie kunstvoll ineinander verschlungen hatte, trank, und bot auch mir aus diesem köstlichen Becher von dem klaren, erquicklichen Labsal an. Ein wenig verschämt beugte ich mich auf ihre Hände, und schlürfte mit spitzen Lippen, nicht eben bequem, bis sie auf einmal das schöne Wasser entlaufen ließ, mir mit den nassen Händen ins Gesicht fuhr und mich gehörig wusch.

War dieser Scherz an heißem Tage eine doppelte Erfrischung, so war es eine dreifache von ihren Händen. Wie dankbar war ich schon für jede derartige Vertraulichkeit, die mir ein Recht gab, mich ebenso gegen sie zu betragen. So zögerte ich denn auch nicht, sie mit einem raschen Handschlag durch den sprudelnden Strahl zu bespritzen. Sie erwiderte es, und es entspann sich ein feuchter Krieg, der mit meiner völligen Niederlage endigte; denn sie packte mich plötzlich an beiden Armen, zwang mich auf den Rücken ins weiche Moos nieder und schüttelte mich kräftig durch. »Ich könnte dich fressen!« rief sie, und machte eine drollige Gebärde des Beißens.

Endlich ließ sie mich los, sprang auf und ging ein paar Schritte von mir weg. Ich erhob mich und folgte ihr, war aber nicht fähig ein Wort zu sprechen, in einer so wunderlichen Stimmung befand ich mich. Doch ihre Sache war Verlegenheit nicht, sie fand denn auch bald ein lustiges Wort, und wir jagten uns ausgelassen durch den Garten. Daß sie mich gern hatte, erkannte ich nun jeden neuen Tag an hundert kleinen Zeichen. Gingen wir des Abends nach dem Essen noch ein Stückchen im Garten spazieren, legte sie ihren Arm schwesterlich um meinen Nacken. Mit ihren Brüdern hatte ich sie nie so gesehen; Zärtlichkeit kommt im Verkehr mit Geschwistern selten vor. Ich aber war ihr gerade fremd und unschuldig genug dazu, und meine städtische Wohlerzogenheit, die ihr mit größerem Respekt begegnete, nahm sie für mich ein. Nun ließ ich es meinerseits auch nicht an kleinen Aufmerksamkeiten fehlen, und zeigte ihr, aller Verstellungskünste bar, durch mein ganzes Betragen, daß ich ihr von Herzen gut war. Für ihre gesunde Schönheit war ich nicht unempfänglich, ihre Kraft und ihr Mut hatten mir Respekt eingeflößt, und ihre tägliche Güte gegen mich tat mir wohl. Ich sann darüber nach, wie ich ihr etwas Besonderes zuliebe tun könne. Eine billige Ausgabe des Faust trug ich seit einiger Zeit immer mit mir herum; schonsam, wie ich mit meinen Büchern war, schien sie mir noch wohlerhalten genug, um sie mit Anstand verschenken zu können. Ich schrieb auf das erste Blatt: »Meiner lieben Helene,« und bat sie, das kleine Andenken von mir anzunehmen. Sie tat hocherfreut und dankte mir mit einem Händedruck. »Goethes Faust!« rief sie aus. »Liest du denn den schon?« »O,« antwortete ich stolz, »ich weiß ihn fast auswendig.« »Nun, nun, das wäre?« meinte sie zweifelnd. Sogleich begann ich:

»Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin
Und, leider! auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.«

Soweit kam ich, als wir gestört wurden. Als wir aber am anderen Abend im Garten allein waren, nahm ich die unterbrochene Deklamation wieder auf, und während ich von Helene umhalst an ihrer Seite auf und ab wandelte, und der Mond sein poetisches Licht über die Gartensteige breitete, rezitierte ich mit knabenhaftem Pathos die unsterblichen Verse, wobei ich mich bald aus ihrer Umarmung schälte, bald wieder in diese schöne Gefangenschaft zurückdrängte.

*

Reichlich die Hälfte der Ferien war vergangen, da kam aus dem benachbarten Kirchdorf eine Einladung ins Pastorat. Der Besuch mußte aber, ich weiß nicht mehr uns welchen Gründen, verschoben werden, und fand erst am letzten Sonntag vor meiner Heimreise statt. Da die Pferde nach der angestrengten Wochenarbeit ihrer Sonntagruhe bedurften, wollte man zu Fuß gehen, nur Helenens Vater wollte reiten. Es wurde aber die Mutter von einem Unwohlsein befallen, und von den Fußgängern blieben nur Helene und ich übrig. Am liebsten wäre nun die Tochter auch zu Hause geblieben, aber der Vater drang darauf, daß man gehe; man wäre lange nicht dort gewesen, hätte auch seine kirchlichen Pflichten seit einigen Sonntagen versäumt und dürfe den Herrn Pastor nicht erzürnen. Doch schien es mir, als spräche man sich nicht ganz unumwunden aus, als wäre da etwas im Hinterhalt. Es fielen ein paar scharfe Worte zwischen Vater und Tochter, bis das Mädchen resigniert nachgab. Das kam mir wunderlich vor, beschäftigte mich aber nicht lange, und vergnügt schritt ich neben Helene in sonntäglicher Nachmittagsstunde dem Kirchdorf zu. Der Weg war höchst anmutig und führte auch eine Strecke durch jenen Wald, den man vom Tannenhügel des Gartens aus am Horizonte sich hinziehen sah. Wir gingen gemächlich nebeneinander, als hätten wir kein bestimmtes Ziel und könnten die Zeit nach Belieben verschlendern. Helene war anfangs schweigsamer als sonst, ich voller Erwartung, was sich mir in jenem ländlichen Pastorat bieten würde. Es war ein milder, nicht zu heißer Augusttag, ein sonntäglicher Friede ruhte auf den Feldern, die teilweise schon in den Stoppeln standen, teilweise noch den reifen Schmuck der fetten Weizenfrucht trugen, die sich auf ihren schlanken Halmen wie in satter Zufriedenheit wiegte. Im Walde war es angenehm kühl; die schönsten Buchen strebten mit ihren silbernen Stämmen in den Himmel und wölbten ein dichtes grünes Dach über den moosigen Waldboden.

»Könnte man doch hier die paar Stunden verbringen, statt diesen langweiligen Besuch zu machen,« sagte Helene, und es klang fast wie ein Seufzer. »Ein wenig mögen sie gerne auf uns warten. Komm, setz' dich!« Sie ließ sich ins Moos niedergleiten und zog mich am Arm zu sich herunter. Nur zu gerne folgte ich der Aufforderung, denn es war hier ein stilles, abgeschiedenes Plätzchen, wie ich es liebte. In schmalen, goldenen Bächlein rann hier und da das Sonnenlicht an den breiten Stämmen herunter und lief über die schwarzgrüne Moosdecke, bis es in Schatten versickerte. Ein Specht klopfte irgendwo, und ein Eichhörnchen lugte neugierig herüber und entfloh dann mit blitzschnellen Sprüngen. Und ein leises, schwebendes Summen war in der Luft, lieblich einlullend.

Wir saßen denn auch anfangs ganz still beieinander, und unsere Hände spielten mit den abgefallenen Bucheckern, die reichlich im Moose verstreut lagen. Da wir gar so stumm waren, konnte ich es nicht unterlassen, sie mit einem Nußkernlein zu werfen, und traf sie mitten auf ihre gebräunte Wange, auf der ein lustiges Sonnenfleckchen hin und her tanzte. Sie wurde sofort lebendig, warf gleich zurück, eine ganze Hand voll, und die wunderliche Stille verwandelte sich alsbald in ein lustiges Kampfgetümmel. Mitten in einem reichen Vorrat so billiger Munition sitzend, hatte ich sie mit einem wahren Regen von Geschossen in die Flucht geschlagen, als sie sich mit einem: »Warte, du Kerlchen!« auf mich stürzte, mir beide Arme am Handgelenk umklammerte und mich so kampfunfähig machte. Vergeblich suchte ich mich zu befreien. »Willst du ganz artig sein?« fragte sie. »Ja,« sagte ich und spürte ihre festen Finger schmerzhaft um meine Gelenke. »So gibst du mir jetzt einen Kuß,« befahl sie.

Mit einem Ruck riß ich mich los. Aber es gelang mir nur, die eine Hand frei zu bekommen; sie hatte mich alsbald wieder eingefangen, und von meinem Widerstand gereizt, suchte sie jetzt mit Gewalt ihren Willen durchzusetzen. Sie riß mich plötzlich an sich, zwang mein Gesicht mit ihrer rechten Hand in die Höhe, so daß es wie in einem Schraubstock saß und küßte mich gerade auf den Mund. »Siehst du, was ich will, muß geschehen!« rief sie.

Bisher schien es nur Spiel zu sein; aber Herr der Situation besann sie sich, gab mich nicht frei, sondern sah mir mit einem eigentümlichen, herrischen Blick in die Augen und küßte mich ungezählte Male jetzt auf Mund, Stirn und Wangen. Wehrlos ließ ich es geschehen, daß sie ihre Lippen solange auf die meinen preßte, bis es mich schmerzte. Endlich gab sie mich frei.

»Bist du verrückt?« Das war alles, was ich hervorbrachte, indem ich meine Kleider ordnete und ihr zornige Blicke zuwarf; eine solche Vergewaltigung verletzte doch meinen Knabenstolz, und ich war ihr ernstlich böse.

»Bist du nicht angefangen?« fragte sie lachend. Doch merkte ich wohl, daß einige Verlegenheit sie unsicher machte.

»Womit angefangen?« fragte ich heftig zurück.

»Meinst du Knirps, du dürftest ältere Damen ungestraft mit Bucheckern bewerfen?«

»Mein ganzes Handgelenk hast du mir zerquetscht,« schmollte ich.

»Komm her, ich will's dir pusten.«

»Danke schön!«

»Aber so zeig' nur, wehe tun wollte ich dir nicht.«

»Sieh nur,« rief ich, und hielt ihr die roten Ringe, die ihre festen Finger um meine Handgelenke gelegt hatten, unter die Augen.

»Armes Kerlchen, hier, tu mir wieder weh,« sagte sie halb mitleidig, halb spöttisch. Sie hielt mir ihre Hand hin, aber mein Zorn war schon verflogen, und ich gab ihr nur einen leichten Klaps.

So lief in Scherz aus, was in Scherz begann. Sie drängte zum Weitergehen, und war wie umgewandelt, fast übermütig. So kamen wir auf dem Pastorat an, als der Vater schon da war, und entschuldigten uns mit der Hitze des Tages und dem Zauber des Waldes, der uns solange gegen unseren Willen festgehalten hätte.

Es war eine muntere Gesellschaft, in die wir gerieten. Nur Helene wurde gleich wieder schweigsam und schien in ihre Zerstreutheit von vorhin zurückfallen zu wollen. Und dieses Wesen steigerte sich von Stunde zu Stunde, bis sich zum Abendessen noch eine benachbarte Familie einstellte, und es mir klar wurde, daß hier die Ursache zu Helenens Verhalten zu suchen sei, denn sie verstummte jetzt fast vollends.

Diese neuen Besucher waren ein älteres, großbäuerisches Ehepaar, aus dessen feisten Gesichtern seine ganze Wohlhabenheit sprach, und ein ungefähr fünfundzwanzigjähriger Sohn. Machte die zur Schau getragene, nur auf Besitz gegründete Würde der Alten, einen fast komischen Eindruck auf mich, so gefiel mir der stattliche Sohn wohl. Er hatte ein sicheres, selbstbewußtes Auftreten, das sich auch im lauten, unbekümmerten Sprechen äußerte. Ein hübsches, frisches Gesicht nahm für ihn ein. Ein kleiner blonder Schnurrbart war kokett aufgewichst und nötigte mir besonderen Respekt ab, und es regte sich der heimliche Wunsch, auch bald eine solche Zierde mein eigen nennen zu dürfen. Der junge Mann hatte bei den roten Husaren gestanden, hatte eben seine Dienstzeit hinter sich und war noch nicht wieder hinter dem Pflug verbauert.

Die Unterhaltung drehte sich meist um landwirtschaftliche Fragen, die mir fremd waren, weswegen mir denn alles klug und bedeutend vorkam, was so breit und sicher über den Tisch hin- und herüber geredet wurde. Nach Helenens Miene zu urteilen, mochte es das freilich nicht sein; sie saß gelangweilt da, und ließ sich von dem gewesenen Husaren gezwungen den Hof machen. Ich wandte indessen meine größere Aufmerksamkeit den erlesenen Gerichten dieser ländlichen Tafel zu. Mit Erstaunen und Bewunderung sah ich, wie der wohlgenährte geistliche Gastgeber sich einen dicken Keil vom fetten Käse abschnitt, ihn fingerdick mit Butter belegte und den üppigen Bissen ohne Brot in den Mund schob, wo er alsbald verschwand und einem neuen Platz machte. ›Könnte es einem doch auch einmal so gut werden,‹ dachte ich; doch wagte ich nicht, dem Beispiel kühnlich zu folgen und belegte mir mein Brot bescheidentlich, wie ich es gewohnt war.

Die Pastorsleute waren noch verhältnismäßig jung. Eine ganze Schar Kinder im Alter von sieben bis sechzehn Jahren saß mit am Tisch, fünf Söhne und zwei Töchter, darunter ein Zwillingspaar. Hier fiel mir nun eine merkwürdige Art des Tischgebetes unangenehm auf. Es teilten sich nämlich die fünf Söhne darin, so daß der älteste aufstand und begann: »Komm, Herr Jesu,« worauf der zweite sich erhob und fortfuhr: »sei unser Gast,« und so weiter, alle Orgelpfeifen hindurch, bis der letzte und kleinste mit einem hastigen »Amen!« schloß, worauf sogleich jeder nach seinem Löffel langte. Diese Arbeitsteilung beim Beten hatte aber so etwas unwiderstehlich Komisches, daß ich mich krampfhaft bemühen mußte, nicht loszulachen. Schon der Anblick der keineswegs wohlgestalteten, rothaarigen Jungen, wie sie nacheinander von ihren Stühlen in die Höhe schnellten, als ob sie einem Druck auf einem elektrischen Knopf gehorchten, war ein Hohn auf jede Gebetsstimmung. Ich faltete jedoch mit den anderen die Hände und sah dabei verstohlen auf Helene; sie verriet aber mit keiner Miene, daß sie Anstoß an dem weihelosen Geplapper nähme.

Nach dem Essen mußte ich auf einem alten, verstimmten Tafelklavier etwas zum besten geben. Ich fand auf dem Instrument ein abgegriffenes Choralbuch, Spindlers »Husarenritt« und das »Gebet der Jungfrau« liegen; auch ein Tanzalbum fehlte nicht. Den »Husarenritt« wollte ich nicht spielen, damit nicht Helenens Courmacher sich einbilden möge, es geschähe ihm zur Ehre; vielmehr griff ich zum »Gebet der Jungfrau«, in der bestimmten Absicht, damit eine Verbeugung vor Helenen zu machen. Ich spielte das sentimentale Stück mit allem Gefühl, das mir aufzuwenden möglich war und war beglückt, als ich einen freundlichen, warmen Blick aus ihren Augen auffangen konnte. Die Unterhaltung ging jedoch während meines Musizierens ungehindert weiter, und ich hatte die Freude, das alte Tafelklavier in einem siegreichen Fortissimokampfe mit der lauten, prahlerischen Husarenstimme führen zu können. Zu einem zweiten Stück aber ließ ich mich nicht bewegen, sondern zog mich still in eine Ecke zurück, wo ich ungestört beobachten konnte. Je eifriger sich der junge Bauer mit Helene beschäftigte, um so lebhafter gedachte ich jener Szene im Walde und spürte die Wonne, die ein solches Geheimnis schenkt. ›Rede du nur,‹ dachte ich, ›mich hat sie geküßt, wenn du es nur wüßtest!‹ Ich kam mir wichtig und auserwählt vor, empfand plötzlich Eifersucht und redete mir ein, das Mädchen zu lieben.

Als nun für den Heimweg sich jener Nebenbuhler als Begleiter anbot, war mein Ärger groß. Ich war albern genug, zu widersprechen; wir wären ja zu zweien und der Weg wäre ja auch durchaus nicht gefährlich. Er sah mich groß an, lachte und beachtete mich weiter gar nicht. Doch Helene sprang mir bei: »Recht hat er eigentlich. Sie sollten sich wirklich nicht bemühen.« Doch jener konnte und wollte nicht mehr zurücktreten, und es blieb nichts übrig, als seine Begleitung mit Dank anzunehmen.

Als wir an jener Stelle vorbeikamen, wo wir die Bucheckernschlacht bis zum absonderlichen Friedensschluß ausgefochten hatten, konnte ich nicht unterlassen, Helene mit den Blicken zu belauern; aber es war zu dunkel, um eine Bewegung auf ihrem Gesicht bemerken zu können. Jenseits des Waldes verabschiedete sie unseren Begleiter ganz energisch; wir bedürften nun seines Schutzes nicht weiter. Er machte einige Redensarten, fügte sich aber ihrem Willen und verließ uns mit einem schnarrenden: »Wünsch' wohl zu ruhen, gnädiges Fräulein.«

So waren wir denn allein, und ich erwartete einige harte Worte über den Aufdringlichen. Aber ich spitzte mich umsonst darauf; sie verstummte völlig und ließ mich müde und gelangweilt den Rest des Weges neben sich herlaufen. Nur beim Gutenachtgruß nachher war sie wieder lieb und freundlich, drückte mir die Hand und hieß mich recht schön schlafen und träumen, wie sie mit einem hübschen Lachen nach einer kurzen Pause hinzufügte. »Gleichfalls,« sagte ich mehr gedankenlos als absichtlich.

Ich hörte sie noch in ihre Kammer gehen, sank müde aufs Bett und fühlte unter vergeblichen Versuchen, die Erlebnisse des Tages noch einmal zu durchdenken, wie die Lider schwerer und schwerer wurden und sich langsam schlössen. Das Fenster stand, wie immer, offen, ich hörte noch ein leises, traumhaftes Rauschen der Linde, fühlte den kühlen Nachthauch gleichmäßig über mein Gesicht streichen und ging so unmerklich in einen Traumzustand über, der mir die wunderliche Waldszene noch einmal zurückführte. Ich spürte noch einmal die heftigen Küsse auf meinen schmerzenden Lippen, erwachte davon, schlug die Augen auf und starrte gerade in Helenens Gesicht. Sie hatte ihr reiches Haar gelöst, die vollen Flechten hingen ihr vorn über die Schulter und lagen wie zwei braune Schlangen auf meiner Brust. Ihre grauen Augen standen dicht über den meinen, wie zwei stählerne Sterne, ihr Mund hatte sich soeben von meinem gelöst, und ihre unbedeckte Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen. So sahen wir uns wohl ein paar Sekunden regungslos an; ich starr, wie ein Vogel unter dem Blick der Klapperschlange, sie in der Ruhe eines selbstverständlichen, wohldurchdachten Tuns. »Ich mußte dich noch einmal küssen,« sagte sie. Dabei drückte sie ihre Lippen wieder auf meinen Mund, und es war mehr eine leise Berührung als ein Kuß. Dann nickte sie mir noch einmal zu, doch nur mit den Augen allein, und ging geräuschlos, wie sie gekommen.

Ich hatte weder ein Wort zu ihr gesprochen, noch hatte ich mich gerührt; jetzt fiel es wie ein Alp von mir, ich erhob mich halb, starrte mit aufgerissenen Augen auf die Tür, durch die sie verschwunden war und sank in die Kissen zurück, um in ein haltloses, mich selbst befremdendes Weinen auszubrechen. Warum ich weinte, ob ihretwegen, ob meinetwegen, ich wußte es nicht; meine Tränen flossen reichlich und hörten nicht eher auf, als bis ich erschöpft wieder dem Schlaf in die Arme fiel.

Am anderen Tage packte ich mein Köfferchen. Helenens Betragen verriet nichts von dem nächtlichen Abenteuer, und meine Verstörtheit konnte man auf die Stimmung des Abschieds zurückführen. Als ich im Wagen saß, der mich nach der Stadt zurückbringen sollte, schüttelte sie mir noch einmal kräftig die Hand und nickte mir schwesterlich zu; dann rollte das Gefährt vom Hof. Ich wandte mich zurück: sie stand und winkte mit der Hand; eine Wegebiegung, und ich hatte sie zum letztenmal gesehen.


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