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III

In diesem Sommer schenkte meine Frau mir das erste Töchterchen. Wäre es ein Sohn gewesen, hätte er Hans Detlev heißen sollen, nun nannten wir das Kindchen Gertrud Heilwig. Wir waren für beides gerüstet gewesen, Knabe oder Mädchen. Liliencron hatte eine lange Liste von Mädchennamen aufgestellt, meistens alte schleswig-holsteinische Namen, wie er sie in seinen Balladen und Erzählungen bringt; Wibke hatte er unterstrichen, aber meine Frau konnte sich mit dem fremden Namen nicht befreunden.

Da stand ich nun und hielt so ein erstes Kindchen in meinem Arm, wie man es so hält, halb ängstlich, man könnte es fallen lassen, und halb verlegen in der ungewohnten Vaterrolle. Und gerade in diesem Augenblick mußte der Hausarzt sich melden, und ich konnte das Würmchen nicht schnell genug wieder in die Hände der Wärterin zurücklegen. Die Mama aber lachte mich von ihren Kissen her mit gutmütigem Spott tüchtig aus.

Sie hatte gut lachen. Nicht ein Vögelchen konnte ich in der Hand halten, ohne daß mein Herz nicht ebenso ängstlich klopfte wie das des zitternden Tierchens, aus Furcht, ich könnte es verletzen. Und nun so ein Kindchen, so ein eingewickeltes Menschlein! Ist es nicht das hilfloseste Geschöpf auf Gottes Welt? Ist es nicht besser, es liegt warm und sicher in seinem Wiegenbettchen, und du stehst nur darüber hingebeugt und staunst es an, wie der Knabe ins Vogelnestchen guckt, wo eben die Kleinen aus dem Ei geschlüpft sind?

»Du schläfst, und sachte neig' ich mich
Über dein Bettchen und segne dich.
Jeder behutsame Atemzug
Ist wie ein schweifender Himmelsflug,
Ist ein Suchen weit umher,
Ob nicht doch ein Sternlein wär',
Wo aus eitel Glanz und Licht
Liebe sich ein Glückskraut bricht,
Das sie geflügelt herniederträgt
Und dir aufs weiße Deckchen legt.«

Nun erst war aus dem innigen Bund zweier, die sich lieb hatten, eine Familie geworden. Mit den Ansprüchen wuchsen freilich die Einnahmen nicht, wenn nicht vermehrter Fleiß das Nötige herbeischaffte. Da war es denn mit Freuden zu begrüßen, daß hin und wieder für ein Gedicht ein paar Mark Honorar eingingen. Durch Liliencron war ich mit der Redaktion der Zeitschrift »Zur guten Stunde«, die damals von Paul Dobert geleitet wurde, in Verbindung getreten. Diese Zeitschrift war wohl die erste und lange Zeit die einzige, die ständig Gedichte brachte und sie auch bezahlte. War es auch nicht viel, so war es doch für meine schmale Kasse eine erwünschte Beihilfe. Glücklicher Sommer dieses Jahres 1891!

Ich am Schreibtisch gedankenschwer,
Du vor dem Herd im Hin und Her,
Sorgen wir beide, den Boden zu nähren,
Heimlich reifen unsere Ähren.

Ruhen die Hände, und halt' ich dich fest
Abends, du Gute, ans Herz gepreßt,
Ist mir's, als hör' ich ein Rauschen und Regen
Feld an Feld in blühendstem Segen.

*

Förderlich in anderem Sinne als die Verbindung mit honorarzahlenden Redaktionen war mir eine neue Bekanntschaft, die Liliencron vermittelte, und die hernach zu einer dauernden Freundschaft führen sollte. Otto Ernst, in der Absicht, eine literarische Gesellschaft zu gründen, sammelte alles um sich, was literarisch einen Namen in Hamburg hatte und was sich für Literatur interessierte. Es galt, dem Neuen einen Weg zu bahnen, und bald trat denn auch die Gesellschaft ins Leben, die unter seiner energischen und klugen Leitung nach und nach einen großen Umfang annehmen und für das literarische Leben der Stadt wertvoll werden sollte. Die große Masse war noch im Alten befangen, Zola war noch als unsittlich verschrien, und es waren nur kleine Kreise oder vereinzelte Gruppen, die sich für das Neue begeisterten und dann auch, wie das immer ist, so radikal als möglich waren.

Ein solches Konventikelchen der Modernen nannte sich »Atta Troll« und tagte bei Bier, Likör und Zigaretten in einem Vorstadtcafé. Ein bekannter Geiger, Liliencron und mir befreundet, lud uns dahin ein, und eines Abends entschloß ich mich, mit Otto Ernst diesen Kreis zu besuchen. In einem vollgequalmten kleinen Klubzimmer trafen wir eine aufgeregte Versammlung, die leidenschaftlich durcheinanderdisputierte. Es war nicht zu verstehen, um was es sich handelte, und wir setzten uns bescheiden unten an den Tisch und verhielten uns zuhörend, bis es uns endlich gelang, in die Debatte einzudringen. Ein Musiker modernster Richtung schien als Dalai-Lama hier zu thronen, wenigstens saß er mit der Würde eines solchen oben am Tisch, dampfte und trank unheimlich, und jedes seiner Worte schien den anderen ein Evangelium. Er sprach nicht in zusammenhängender Rede, sondern polterte dann und wann mit dröhnendem Baß irgendeine Ungeheuerlichkeit heraus. Da wurde dann Schiller einfach ein Blechschädel gescholten und in gleichem Ton von Beethovens Trampelrhythmus gesprochen, so daß sich mir bei solchen Blasphemien die Haare sträuben wollten. Doch schien es mir angesichts der vielen geleerten Bierseidel und Schnapsgläser töricht, ein ernstes Wort zu sagen, und ich stand lachend auf, ging mit meinem vollen Glas zum Dalai-Lama und trank ihm zu: »Prosit! Auf Schillers Blechschädel!« Er sah mich verdutzt an, zog die Stirn in finstre Falten und löste langsam diese Jupiter tonans-Grimasse in ein unsagbar überlegenes Lächeln auf.

Die andern aber lachten und schienen mir nicht böse zu sein, wie sie denn alle zusammen, so absurd sie sich gebärdeten, ganz harmlose Leutchen waren, die wohl ihren Nietzsche gelesen hatten, aber ihre Rolle als Übermenschen noch ziemlich kindlich spielten.

Mit einem Lächeln schied ich von diesen Geistern, die ich nicht ernst nehmen konnte, sonst hätten sie mich wohl für immer aus dem neuen Lager verjagt. Zog ich aber Bier- und Tabaksdunst ab, in dem sie sich bewegten, so waren sie eigentlich nicht viel schlimmer als ich selbst, was unreifes Suchen und Tasten anbelangte. Der Naturalismus eines Zola, von Michael Georg Conrad den Deutschen begeistert gepriesen und gepredigt, galt auch mir als alleinseligmachend, und ich ereiferte mich für ihn in Wort und Schrift.

»Aber kommt einer des Wegs mit der reinen Freude am Objekt, mit der naiven Künstlerfreude an der Welt der Erscheinungen, und er heißt nicht gerade Goethe und ist nicht gerade seit 1832 mausetot, so rufen sie: ›Hebe dich weg, was willst du in unserem Tempel? Du hast keine höheren Absichten! Was willst du mit deinen Alltagsgeschichten und Alltagsmenschen?‹

›Alltagsmenschen?‹ rufst du erstaunt zurück. ›Gibt es denn Alltagsmenschen? Ich kenne keine.‹

›Dann sind Sie wohl Künstler?‹

›Ja!‹

›Dann raus, aber schleunigst!‹

Diese groben Tempelwächter, die ihrem Gott mit höheren Absichten und tieferem Sinn dienen, sind sehr ungerecht gegen dich. Auch reden sie sich nur ein, daß sie deiner Alltagsbilder und -geschichten nicht bedürfen. Ich wette, wenn sich einer dieser Herren hinsetzen soll und einen Milchkarren beschreiben, wie er ihn sicher tausendmal in der Woche auf den Straßen der Großstadt sieht, er kommt zu der Überzeugung, daß er noch gar keinen Milchkarren kennt. Er hat ihn das tausendstemal so flüchtig gesehen wie das erstemal. Aber den Jungen hinter dem Karren, den kennt er, das Mädel, das die Milch kauft, den Herrn Wachtmeister, der sie kontrolliert (die Milch natürlich), die kennt er, dieser vorzügliche Menschenkenner. Setzt er sich aber hin, um sie zu schildern, sie zu reproduzieren, heiliger Photographiekasten! Was für Ungeheuer kommen da zum Vorschein!«

Und mit derselben Feder, die so törichtes Zeug niederschrieb, warf ich in weicher Traumstunde in kaum leserlicher Schrift ein Gedicht wie dieses aufs Papier:

Phantasie.

Das Wolkentor sprang auf, und der entzückte Blick
Nahm teil an einem seligen Geschick.
Ich sah die Himmelsgeister
Mit goldnen Weltenkugeln Fangball spielen,
Und einer unter den verwegnen vielen
War aller Meister.

Nicht Weib, nicht Mann, in flatterndem Gewand
Ein blonder Genius, hüpft' er auf den Sohlen,
Mit rascher Hand
Sich seine Bälle aus dem Raum zu holen,
Die warf er jauchzend und voll Lust am Glanz
In der Genossen heitren Kugeltanz.

Und wenn die goldnen aneinanderklangen,
Gleich Glas zersprangen
Und Flimmerstaub in alle Weite streuten –
Wie sich die kindlichen der Spieler freuten
Und eifriger die blanken Bälle warfen,
Daß ein Geräusch entstand, ein tönend Schwirren,
Als wenn durch Silberharfen
Erschrockne Winde auf- und niederirren.

*

Mein »Mynheer der Tod« hatte nach einigen vergeblichen Versuchen, denn Liliencrons Empfehlung hatte damals noch nicht viel Einfluß, einen Verleger gefunden, dem ich freilich die halben Druckkosten zahlen mußte. Nun las ich die Korrektur und wiegte mich in goldenen Träumen und Hoffnungen. Als dann das Buch zu Weihnachten erschien, fand es hier und da freundliche Aufnahme bei der Kritik, doch im Lager der Alten auch Tadel und Spott. Ein Weiser in Wien wollte diese Verse überhaupt nicht als Gedichte anerkennen, es seien nur versifizierte und nicht einmal glücklich versifizierte Feuilletons; es sei verwunderlich, was die »Modernen« jetzt für Poesie ausgäben, und wer alles sich zum Dichter berufen fühle.

Hierbei tröstete mich nur und erfüllte mich mit einem gewissen Stolz, daß man mich zu den »Modernen« zählte, und so schlankweg ins neue Lager hinübergeschoben, wollte ich denn auch treulich bei der Opposition gegen das Alte und Überlebte verharren. Aber auch der angesehenste Kritiker im eigenen Lager stieß keineswegs in die Posaune, sondern behandelte mich als einen Anfänger, von dem man vielleicht einmal etwas Reifes erwarten könne. Eigentlich ließ er nur ein Gedicht gelten:

Regentag.

Der Regen fällt; in den Tropfentanz
Starr' ich hinaus, versunken ganz
In allerlei trüben Gedanken. Mir ist,
Als hätt' es geregnet zu jeder Frist
Und alles, solange ich denken kann,
Trüb, grau und naß ineinanderrann,
Als hätte es nie eine Sonne gegeben,
Als wäre nur immer das ganze Leben,
Die Jahre, die Tage, die Stunden all
Ein trüber, hastiger Tropfenfall.

Es war Heinrich Hart, der mich immerhin so ernst genommen hatte, daß er mich einer langen und aufrichtigen Kritik würdigte. Er stellte eine bedenkliche Abhängigkeit von Liliencron fest, wenn auch hin und wieder Ansätze zu Eigenem, wie das Regenlied, vorhanden seien.

Eine große Freude machte mir ein Brief Richard Dehmels, dem ich mein Buch auf Liliencrons Veranlassung geschickt hatte. Auch er fand Anlehnung an Liliencron, in »Form« und »Kolorit«, meinte aber, mein Wesentliches fände doch überall eigene Töne. Er schrieb:

»Der junge Künstler darf sich getrost, nein: muß sich unbedingt eingestehen, was, wo, wie und inwieweit er von den ausgereiften Meistern technisch gelernt hat. Tut er das, so lernt er eben an denen, die sich zu einer eigenen Form durchgebildet haben, sogleich sich selber vereignen. Übt er diese Kontrolle nicht, so ist es selbstverständlich, daß mit der angenommenen Form allmählich auch das eigene Wesen in Anempfindung untergeht; gerade der technische Fortschritt wird dann ein psychischer Rückschritt. Es ist ja gar nicht anders möglich, zu einer Herrschaft über die Ausdrucksmittel und dadurch zu neuen, eigenen Darstellungsformen zu gelangen, als daß wir untersuchen, was bei anderen neu und eigentümlich ist, oder gewesen ist. Sehen Sie doch: Wie hat Goethe sein ganzes Leben lang fremde Anregungen in sich aufgenommen und verarbeitet, fremde Eigenart in sich vereignet! Vielleicht war diese immer frische Empfänglichkeit gerade eine natürliche Bedingung seiner Größe.

Aber eben: der selbstsichere Blick, die Bewußtheit der Anlehnung und Aneignung muß da sein, soll nicht der Dichter durch den Künstler in Gefahr geraten. Und nun – offen gesagt – lieber Falke, bei Ihnen kann ich mir gar nicht denken, daß Sie nur blindlings »nachgeahmt« hätten; ich glaube, Sie wollen sich das nur einreden, befangen in der unwillkürlichen Abneigung selbständiger Naturen gegen das Zugeständnis solcher fremden Einflüsse. Sie sind ein so feiner Künstler, der so sorgfältig die Worte nach ihrem Klang wertet, ihre rhythmische und melodische Gegenseitigkeit wählt und wägt, der so genau seine Farbenkontraste, seine Stimmungseffekte und die Plastik seines Satzgefüges berechnet, daß ich mir nicht vorstellen kann, Sie hätten sich nicht an dieser und jener Stelle gesagt: aha, das wirkt bei Liliencron farbig, plastisch, stimmungsvoll. Meines Erachtens brauchen Sie aber gar keine Furcht zu haben, sich das ruhig einzugestehen, denn ich sehe, daß überall, wo Sie von innen heraus geben, auch die Form eine andere, eigene wird. Liliencronsche Darstellungsmittel tauchen nur auf, wo sich's um die äußere Einkleidung, das Lokalbild handelt; daher die Ähnlichkeit mit ihm in Farbenkontrasten und plastischen Stilwendungen – in dem, was man unter »äußerer Form« versteht. Das Melodische und Rhythmische dagegen, sowie das Gleichnis, das Empfindungsbild, also alles, was »innere« Form gibt, was in mitschwingende Bewegtheit versetzt, ist Ihr Eigentum. Es käme also nur noch darauf an, daß Sie auch das Lokale nicht mehr bloß als sinnliche Impression hinstellten (was Liliencron darf, weil das seine hedonische Phantasie symbolisiert), sondern daß Sie es mit geistigen Assoziationen erfüllten (was Sie müssen, weil Sie ein elegischer Realist sind, weil also in Ihrer Empfindungssprache das rein Sinnliche keinen symbolischen Phantasiewert hat). Sie müssen das Idyllische durch eigene Ideen wertvoll machen, die dann auch für das Lokale die eigene Form erzeugen werden. Ich spreche nicht etwa vom grünen Tisch weg; ich sehe, daß Sie in einigen Gedichten tatsächlich bereits zu dieser eigenen idyllischen Form durchgedrungen sind. Den »Gang ins Fischerdörfchen« z.B. halte ich geradezu für die lyrische Vollendung dessen, was Johannes Schlaf in »Dingsda« mit seinen breiteren epischen Mitteln lange nicht in dem Maße wirksam gemacht hat. Und daß Ihnen dieses so geglückt ist, liegt eben meiner Meinung nach einzig und allein daran, daß Sie erstens die objektiv sinnlichen Eindrücke durch eine ganz eigentümliche Rhythmik beseelt haben und zweitens auch noch immerfort Ihre subjektive Ideenkette sichtbar durch das Ganze schlingen: »Wie 's Kind in den Windeln«, »Bestimmt, zu welken«, »Nimm dich in acht«, »Haben immer Eile, sind immer reg'«, »Der alte Lehrer singt für zehn«, »Es ist unerträglich«, »Wie versauert« usw. Und die versteckten Wertbestimmungen in solchen Kontrastimpressionen wie:

»Hin und wieder ein frommer Spruch
Und überall Fischgeruch.«

Oder:

»Halb scheu und stutzig.
Halb dreist
Und barfuß zumeist.«

*

Dieser Brief Dehmels mußte mir Mut machen.

Eigentlich stand ich selbst meiner plötzlich lebendig gewordenen Produktionskraft wie einem Wunder gegenüber. Auf der Straße, am Klavier, während des Stundengebens, beim Essen, ja während des Schlafens im Traum war ich in beständigem poetischem Hervorbringen, und die Welt erschien mir in einem neuen, höheren Glanz.

Alles trug aber auch dazu bei, mich in diesem glücklichen Zustand zu erhalten: die Freundschaft Liliencrons, die Annäherung Richard Dehmels und vor allem das häusliche Glück, das mich mit weichen Liebesarmen umfing.

Doch drohende Schatten stiegen langsam auf. Noch aber war der Himmel über mir hell, und ich begrüßte jeden neuen Tag als ein schönes Geschenk mit dankbarem und zufriedenem Gemüt:

»Dem mein Herz willkommen singt,
Fließe aus der reinen Ferne,
Wo im Zirkel heitrer Sterne
Deine goldne Quelle springt.

Treib mit feingestimmtem Klang
Deine klaren Wellen weiter,
Und mein Lied sei dein Begleiter
Uferhin im Zwiegesang.«

*

Nun das Kind da war, erwiesen sich unsere drei kleinen Zimmer als zu beschränkt, und wir mieteten eine neue Wohnung. Sie lag nur eine Treppe hoch, hatte ein Zimmer mehr, und wir konnten uns ein wenig ausbreiten. Mein Arbeitszimmer sah freilich nach hinten hinaus in eine sogenannte Terrasse, einer schmalen Reihe niedriger Häuser, die von kleinen Leuten bewohnt waren, und zu welcher der Eingang von der Straße her neben unserem Hause war. Es war aber vor jedem Häuschen ein winziges Gärtchen, vielleicht ein Meter im Quadrat, wo ein bißchen Grün wuchs und das ganze Bild freundlich machte. Schien dann die Sonne drauf, die über die niedrigen Dächer leicht in diesen kleinen Winkel hineinkommen konnte, so war es oft gar hübsch, zumal dann die kleinen Kinder hinter den hölzernen Einfriedigungen im Sande spielten und, jedes für sich eingeschlossen, nur wenig Lärm machten und mich nicht stören konnten. Die Größeren lagen meist auf der Straße und umlagerten in den warmen Sommerabendstunden die Steinstufen unseres Hauses; manches Mal eine rechte Plage. Doch wer gezwungen ist, billig zu wohnen, muß schon vorliebnehmen.

Wir waren im Frühjahr eingezogen und hatten uns kaum eingelebt, als ein heißer Sommer uns in der nicht allzu vornehmen, staubigen und kindergesegneten Straße anfing, recht lästig zu werden. Da schlossen wir in den großen Ferien unsere Wohnung ab und zogen auf fünf Wochen nach Blankenese, wo wir hinter der Hauptstraße in einem stillen Hinterhause, das in einem etwas verwilderten Garten lag, ein billiges Unterkommen fanden. Wie sollte das uns allen wohltun, vor allem auch meiner Frau, die nach der Geburt des Kindes, den Mühen des Umzuges und allerlei häuslichen Plackereien recht erholungsbedürftig war. Wir hatten zwei freundliche Zimmer im Erdgeschoß und eine Küche, so daß wir selbst aufs billigste wirtschaften konnten, und hatten in einer alten Schifferswitwe mit ihrer erwachsenen Tochter gutmütige, gefällige Wirtsleute.

Der Garten war eigentlich nur ein mit ein paar alten Obstbäumen besetztes Stück Rasen, das hier am terrassenförmig aufsteigenden Elbufer mählich heraufkroch. Die Grenze nach oben bildete eine Mauer, an derem Fuße eine weiße Bank stand. Hier saß ich am Vormittag lesend und schreibend, den Kinderwagen neben mir, während meine Frau drinnen wirtschaftete. Ganz geborgen war man hier, kaum ein Laut drang von der Straße herüber, nur vom Strom her ab und zu das Pfeifen und Tuten der Dampfer, die ein- und ausliefen. Nur nachmittags, wenn die Ausflügler scharenweise das freundliche Bergstädtchen an der Elbhöhe überfluteten, hallte auch dieser stille Winkel von Gesang und Musik wider, denn oberhalb der Mauer schlängelte sich der Weg nach Sagebiels Fährhaus, einem beliebten Vergnügungsetablissement, hinauf. Kamen Vereine und größere Gesellschaften zu irgendeinem Feste dort oben zusammen, so wurden sie sogar mit Böllerschüssen begrüßt. Da geschah es mir denn gleich am ersten Tag, als ich nichtsahnend auf meiner Bank saß, daß ich bei dem unerwarteten Krach von der Bank fiel, auf der ich nicht allzufest gesessen haben mochte, und daß das Kind im Wagen vor Schreck gar jämmerlich an zu schreien fing, so daß die Mutter entsetzt aus dem Hause stürzte, vermeinend, es sei ein Unglück geschehen.

Unter solchem Festjubel und Geböller war natürlich an ein Arbeiten nicht zu denken. Das war ja auch nicht der Zweck unseres Aufenthaltes, und da ich die stillen Morgenstunden völlig ausnutzen konnte, überließ ich mich an den Nachmittagen um so ruhiger dem wohlbekömmlichsten Nichtstun.

Wie erquicklich war es am schönen, breiten Elbstrom, wo die Augen immer ein neues Bild regen Schiffslebens hatten, wo das weite Himmelsgewölbe den beständigen Anblick der herrlichsten Licht- und Wolkenspiele gab, und Ebbe und Flut ein wechselndes Schauspiel boten.

Leise ebbt der Strom. Im Schlick
Ragen plumpe Fischerkähne,
Draußen gleiten, stille Schwäne,
Mit den weißen Segeln andre.
Und die Strecke überwandre
Breiter Bahn ich mit dem Blick
Bis ans niedere Gelände
Drüben, wo sich Wiesen breiten,
Wo die bunten Kühe schreiten
Zwischen üppigem Krautgestände,
Und die groben Weidenköpfe,
Knorrig, bissig, Sauertöpfe,
Wie im Zorn die Haare spießen.
Weiter oben sammeln, schließen
Wie ein Wall, sich grüne Wipfel
Um das Dörfchen. Höchste Gipfel
Zeigen Pappeln. Nur der Hahn
Auf des Kirchleins goldner Spitze
Sieht von einem stolzren Sitze
Rings die Welt sich aufgetan:
Weite, unbegrenzte Fläche,
Segenstrotzend Feld an Felder,
Landmanns ungemünzte Gelder,
Wiesen, Moore, Waldesränder,
Und dazwischen, blaue Bänder,
Die Kanäle, Weiher, Bäche.
Aber unten, ihm zu Füßen,
Sieht er weiße Segel grüßen,
Schwarze Schlote niedergleiten.
Kommen, Gehen. Aller Weiten
Unsichtbare Fäden weben
Nach verborgenem Gesetze,
Dort an einem Riesennetze.
Und es trägt der Strom das Leben
Ruhig zwischen Uferbreiten,
Die zum Meer sich mählich weiten.

Leis' zum Strande rinnt die Welle,
Und die schwanke Binse schmiegt sich,
Windet sich und bebt und wiegt sich.
Zwielicht wechselt ab mit Helle,
Wie sich vor der Abendsonne,
Eine schweifende Kolonne,
Leichte Wölken hastig drängen.
Die auf ihren hohen Gängen,
Unter sich den Tanz der Wogen,
Über sich den Glanz der Sterne,
Kommen lautlos hergezogen,
Abgesandte welcher Ferne?

Aber tiefer, Wellenteiler,
Kraftbeschwingte Luftdurcheiler,
Tummeln sich im Auf und Nieder
Möwen mit dem Schneegefieder.
Wie um blaue Blumenkronen
Weiße Schmetterlinge flügeln,
Schaukeln ohne Schwingenschonen
Leicht sie über Wellenhügeln.

Zwischen Wasser, zwischen Himmel:
Segel, Vögel, ein Gewimmel
Regen Lebens, lautlos hastend.
Und ich träume in dem Schweigen
Unter breiten Buchenzweigen
Hier am Ufer wohlig rastend.
Stilles Glück der Ebbe. – Ragen
Seh' ich aus vergangnen Tagen,
Bloßgelegt, was überbrausen
Sonst die Wellen. Und die Hausen
Heimlich in verschwiegnen Reichen,
Kommen nun, die nixengleichen,
Mit den großen Schelmenblicken,
Mit der Lust am Necken, Zwicken,
Allerliebstes Ungeziefer,
Soviel klüger, soviel tiefer
Als die lärmenden Gedanken,
Die zur Flutzeit mich umzanken
Und mit ihrem kecken Meinen
Herrn sich meiner Seele scheinen.

*

Am liebsten waren mir freilich jene stillen Morgenstunden auf meiner Gartenbank, wenn die Sonnenflecken unbewegt auf dem grünen Boden ruhten und in den Kronen der alten Obstbäume die Hummeln summten.

Die Mütter waren auch hier Sonntags gewöhnlich unsere Gäste, einmal besuchte uns Liliencron auf ein Reisgericht mit Curry, das er leidenschaftlich gern aß, und einmal kam auch Georg, der sich in der letzten Zeit mit Recht von mir vernachlässigt fühlte. Ich war mir jedoch bewußt, ihm innerlich nicht untreu geworden zu sein und glaubte mich genügend entschuldigt, wenn ich ihm klarmachte, daß eine Persönlichkeit wie Liliencron mich natürlich sehr in Anspruch nehmen müsse, und daß gerade jetzt, da ich am Anfang meiner literarischen Laufbahn stünde, sein Umgang mir durchaus ebenso nötig als förderlich wäre.

»Laß dich durch mich nicht stören,« erwiderte er etwas gereizt. »Er wird dir gewiß vieles bieten, was du anderswo nicht findest. Daß ich der Meinung bin, daß du bei Goethe, Schiller, Storm und anderen unserer reinsten und edelsten Dichter eine bessere Schule fändest als bei ihm, der nun doch nachgerade in seinen neuesten Gedichten an Saloppheit und Geschmacklosigkeit den Gipfel erreicht hat, weißt du ja. Aber die Sache hat doch noch eine Kehrseite. Oder glaubst du, aus einem so intimen Umgang mit einem stadtbekannten Schuldenmacher und Schürzenjäger auch Nutzen zu ziehen?«

»Ich verbiete dir, in diesem Ton von ihm zu sprechen,« fuhr ich auf.

»Wenn du es wünschst, will ich nicht weiter über ihn reden,« sagte er ruhig. »Ich glaubte nur, als dein Freund das Recht zu haben –«

»Du bist eifersüchtig,« unterbrach ich ihn.

Er wies das mit einem kurzen Lachen zurück.

»Daß er jetzt bei dir im Vordergrund steht und mich bei dir zurückgedrängt hat, empfinde ich freilich, und daß es mir Freude macht, kannst du nicht verlangen. Doch das ist es nicht, wenigstens nicht in erster Linie.‹

»Aber du sagst mit Gretchen:

Es tut mir lang' schon weh,
Daß ich dich in der Gesellschaft seh'.«

»Ja und nein. Und nicht einmal deinetwegen, sondern meinetwegen; daß ich mich so täuschen konnte. Dich, gerade dich muß doch gar so vieles bei ihm abstoßen, beim Menschen wie beim Dichter.«

»Was weißt du von dem Menschen?«

»Persönlich kenne ich ihn allerdings nicht –«

»Und da plapperst du nach, was alte Tanten dir vorplärren!« rief ich und schlug zornig mit der Faust auf den Tisch, daß er zusammenfuhr.

Er wurde blaß und biß sich auf die Lippen.

»Bitte, lassen wir das,« sagte er kalt. »Du verlierst die Herrschaft über dich.«

Obgleich es mir leid tat, ihn so angefahren zu haben, konnte ich mich doch nicht bezwingen und sprudelte alles heraus, was ich gegen die Philister und die Pharisäer auf dem Herzen hatte, bis er seinerseits heftig wurde und nun auch aufsprang und zornig rief: »Wem sagst du das? Ist Saufen und Huren weniger philiströs als nach den Gesetzen bürgerlicher Moral leben?«

»Das Genie –« rief ich. Aber er unterbrach mich und wollte von dem Vorrecht des Genies nichts wissen.

»Übrigens weißt du,« sagte er, »daß ich deinen Dichter nicht so hoch einschätze wie du, und nun laß uns dieses unfruchtbare Gespräch abbrechen. Es war nicht meine Absicht, dich irgendwie zu beeinflussen. Ich wollte dich nur nicht im Zweifel darüber lassen, wie ich denke. Wenn du mir jetzt noch einen Platz neben ihm gönnen willst, will ich zufrieden sein,« sagte er mit einem hübschen Lächeln und hielt mir die Hand hin.

»Philister,« sagte ich gleichfalls lächelnd, indem ich einschlug. »Rechts das Genie, links den Philister, da habe ich wohl Sicherheit, immer auf der goldenen Mittelstraße zu bleiben.«

»Wenn mein Philistertum so schwer wiegt wie sein Genie.«

»Das tut es, unbedingt, das tut es!« rief ich. Und der kleine Krieg endete mit einem versöhnenden Lachen.

Da der Aufenthalt in Blankenese dem Kindchen und seiner Mutter sehr wohltat, verlängerten wir ihn noch um eine Woche. Und diese letzte Woche schien uns die schönste, da der größte Lärm der Feriengäste sich verzogen hatte und wir des Friedens nun recht ungestört genießen konnten. Nur unerträglich heiß war es geworden, so daß ich kaum aus meiner grünen Gartenecke herauskam. Endlich aber mußte doch an die Heimkehr gedacht werden, und wir nahmen Abschied von unseren guten Wirtinnen.

Zu Hause fanden wir eine heiße, stickige Wohnung vor. Wir rissen sogleich die Fenster auf, und unser erster Schritt war auf den kleinen Balkon hinaus, um den verwöhnten Lungen ein paar Atemzüge reiner Luft zu gönnen. Aber kaum hatten wir das kleine, umgitterte Plätzchen betreten, auf dem ein paar vergessene Blumen traurig ihre toten Köpfe hängen ließen, so erscholl von irgendwoher aus der Nachbarschaft ein so markerschütternder, furchtbarer Schrei, daß wir fast erstarrten.

»Was war das?« rief meine Frau und sah mich schreckensbleich an. Sogleich öffnete sich die Tür zum Nachbarbalkon und die Nachbarin trat heraus.

»Haben Sie gehört?« fragte sie.

»Ja, was war es?«

»Wohl wieder ein Kranker.«

»Ein Kranker?«

»Ja, wissen Sie denn nicht, daß wir die Cholera in der Stadt haben?«

»Die Cholera?« riefen wir wie aus einem Munde.

»Haben Sie denn keine Zeitungen gelesen?«

Das hatten wir freilich nicht. Aber war denn diese Schreckensnachricht nicht nach Blankenese gedrungen? Wußten denn unsere Mütter nichts davon, daß die uns nichts mitgeteilt hatten?

Das Furchtbare bestätigte sich. Ich eilte zu den Müttern und fand sie in Sorge und Angst; sie wollten erst seit zwei Tagen davon wissen, hätten uns aber nicht erschrecken wollen.

»Du kannst doch keine Stunden geben,« meinte meine Mutter. »kein Mensch wird dich annehmen. Du darfst es auch der Frau und des Kindes wegen nicht.«

Nun begann eine Zeit des Grausens und Bangens. Der Würgengel schritt durch Hamburg, und täglich erlagen ihm Hunderte.

Wenn ich keine Stunden gab, so hatten wir kein Brot. Ich mußte hinaus. Aber nahmen mich anfangs die meisten Schüler noch an, so zogen sie sich doch nach und nach bedenklich zurück, und zuletzt hatte ich nur noch an zwei Tagen der Woche einen mageren Verdienst.

Zitternd ließ meine Frau mich auf die Straße, zitternd kehrte ich zurück, das Herz von der Angst gepreßt: ›Findest du deine Lieben gesund wieder?‹ Das war eine qualvolle Zeit.

Liliencron schickte mir ein Gedicht, »Die Pest«, worin er die grausigen Erlebnisse dieser Tage dichterisch zu gestalten suchte, und erzählte mir in dem Brief von einem Mädchen, das in einem pestverseuchten Hause wohne, das er aber in dieser Schreckenszeit nicht verließe, obgleich sie ihn warnend darum bäte. Er aber wolle keine Furcht kennen und, sein Mädel im Arm, dem grinsenden Tod die Zähne zeigen. Sollte ich's bewundern? Sollte ich's ruchlos nennen? Mir grauste.

Georg, den ich nicht zu Hause angetroffen hatte, schrieb mir, ich möge ihn, solange die Seuche noch in aller Heftigkeit wüte, nicht besuchen. Ich würde ihn auch kaum zu Hause treffen. Da die Geschäfte ohnehin stockten, hätte er für ein paar Tage der Woche sein Kontor geschlossen und sich als freiwilliger Krankenpfleger zur Verfügung gestellt.

Das sah ihm ähnlich. ›Hättest du das auch getan?‹ fragte ich mich beschämt. Aber ich hatte Frau und Kind, ich hatte zuerst gegen sie meine Pflicht zu erfüllen. Georg stand ganz allein auf der Welt. Und doch, ich bewunderte ihn.

Wie aber hätte man die Aufgaben dieser fürchterlichen Tage bewältigen wollen, wenn es nicht solche edlen Helfer gegeben hätte! Die schreckliche Krankheit wütete mit unerhörter Heftigkeit.

Aus der Terrasse hinter unserem Hause wurden fast jeden Tag Kranke und Tote abgeholt. Wir mochten kaum mehr aus dem Fenster sehen.

Eines Abends kehrte ich heim und sah den Wagen nicht vor der Terrasse, sondern vor unserem Hause halten. Das Herz wollte mir stillstehen. Ich stürze vor, da trägt man aus der Tür eine totenblasse Frau – meine Frau! Ich fühle, wie mein Herz aussetzt. Eiskalt läuft mir's die Knie herab. Da erscheint meine Frau oben auf dem Balkon und winkt mir. Ich weiß nicht, wie ich die Treppe hinaufkam.

»Ich glaubte, du seiest es!« sagte ich und umarmte sie lange.

Ich ging in mein Zimmer, trat ans Fenster und sah in die unselige, heimgesuchte Terrasse hinunter, wo die kleinen ausgetrockneten Gärten verlassen und verwaist dalagen. Sechs Kinderchen und zwei Erwachsene hatte man hinausgetragen, und wie ich so stand, rannen mir langsam die Tränen über die Backen.

Bis in den November hinein dauerte die Schreckenszeit. Und ich mußte fremde Hilfe in Anspruch nehmen, um über sie hinwegzukommen.

Als ich zuerst wieder an Georgs Tür klopfte, wurde mir nicht aufgemacht. Die Seuche hatte ihn weggerafft. Umsonst mühte ich mich um eine Spur von ihm. Weggewischt war er von der Tafel des Lebens. Das große Massengrab hatte auch ihn aufgenommen.

Trauer war überall. Wohl hielt ich Weib und Kind lebend im Arm, aber erschüttert fühlte ich, auf wie schwachen Füßen mein Glück stand.

»Kann mit Ängsten und mit Händebreiten
Treue Liebe dunkle Mächte leiten?
Muß am Ufer stehn,
Wind und Wellen sehn,
Und ihr Liebstes taumelt über Tod und Tiefe.«

*

Handel und Wandel blühten wieder auf. Die herrliche Stadt, gedemütigt, belehrt, geläutert, richtete sich wie schon so manchesmal auch aus diesem Unglück wieder zu neuem, fröhlichem Leben auf. Der Einzelne, je nachdem er getroffen war, erholte sich langsamer oder schneller von dem Schlag. Und wer nicht einen Freund, einen lieben Toten zu betrauern, sondern nur einen geschäftlichen Verlust zu beklagen hatte, lebte wohl bald in alter Heiterkeit und in der Zuversicht dahin, daß eine solche Heimsuchung nur alle hundert Jahre einmal das Menschengeschlecht träfe, und somit für ihn nun ein für allemal überstanden wäre.

Traf mich Georgs Verlust auch schwer, und wollte das Bewußtsein, daß er eines Heldentodes gestorben war, auch nur ein schwacher Trost sein, so konnte ich doch im Besitz meiner Lieben wohl dankbar und befreit aufatmen. Dazu kam, daß die Zahl meiner Schüler mit einem Male einen unerwarteten Aufschwung nahm, teils, weil alles Leben nach überstandener Gefahr sich mit verdoppelter Kraft zu regen pflegt, teils, weil wohlwollende Freunde und Gönner trachteten, mich durch Empfehlungen für die erlittenen Verluste zu entschädigen.

Dennoch schien es, als wäre das Unglück, da es einmal den Eingang gefunden hatte, gewillt, sich nicht gänzlich wieder wegzuwenden. Der Winter brachte meiner Frau, die ohnehin durch die ausgestandene Angst geschwächt war, eine so heftige Influenza, daß ich um ihr Leben bangte. Doch nicht genug, fing auch die Kleine an zu kränkeln, indem sich eine entzündliche Anschwellung des rechten Fußgelenkes einstellte, die eine längere Behandlung mit Eis und nachfolgendem Gipsverband nötig machte und dem Arzt, wie er nachher gestand, einen Augenblick den Gedanken nahegelegt hatte, den kleinen Fuß zu amputieren. Ich selbst, von einer entzündeten Lippe geplagt, lief mit einem Maulkorb herum. Da nun die Magd ein trotziges und unbrauchbares Geschöpf war, so wären wir hilf- und ratlos gewesen, wenn nicht eine treue Freundin meiner Frau sich in dieser Leidenszeit unseres kleinen Hausstandes angenommen hätte.

Als nun mit dem Frühjahr beide Patienten sich wieder als genesen auf die Straße hinauswagen durften, wollte uns diese Unglücksstraße mit ihren vielen und traurigen Erinnerungen nicht länger gefallen, zumal auch der Arzt für meine Frau eine freier liegende Wohnung für wünschenswert erklärt hatte. Wir fanden eine solche nicht allzuweit davon in einem Eckhaus, das von grünen Anlagen umgeben war, und wo wir einen großen, geräumigen Balkon mit einer kleinen, gedeckten Extralaube darauf zur Verfügung hatten. Die Wohnung bot Raum genug, daß ich meine Mutter bei uns aufnehmen konnte, und wir waren bald froh und zufrieden in diesem neuen Nest. Jetzt trat auch die Notwendigkeit, unser Töchterchen taufen zu lassen, ernstlich an mich heran, wenn ich das meiner Mutter gegebene Wort einlösen wollte. Wir baten Liliencron, Gevatter zu stehen, und er erschien zur heiligen Handlung zu Ehren des Täuflings und seiner Eltern in Hauptmannsuniform. Als vollendeter Kavalier wußte er schnell die Herzen unserer beiden Mütter zu erobern. Namentlich die meine, nicht ohne die gleichen Sorgen und Bedenken, die damals Georg nicht verschweigen zu sollen meinte, war ihm im Innersten schon lange dankbar zugetan wegen der Freundschaft, die er mir erwies und die sie in ihrem bescheidenen Gemüt noch weit mehr als eine Ehre empfand, als ich; denn sie hatte wohl eine richtige Schätzung von Geist und Genie, wenn sie auch die reine und edle Menschlichkeit über alle Talente stellte. Daß es Liliencron auch an dieser nicht fehle, hatte ich ihr oft genug bewiesen und einmal sogar auch, wie meinem armen Georg, mit einem Faustschlag auf den Tisch bekräftigt; worauf sie mich denn nicht blaß wie jener, sondern vor Scham und Schreck errötend mit entsetzten Augen ansah, also daß die heißen Flammen von ihrem Gesicht sofort auf meines übersprangen, und ich meines unziemlichen Eifers wegen um Verzeihung bat. Es hat ihr aber hernach doch gefallen, daß ich mit einem Faustschlag für den Freund eingetreten war.

Wie sehr die ihn verkannten, die in ihm nur den Don Juan sahen, zeigte der Brief, den er mir am Tage nach der Taufe schrieb:

»Wir hatten gestern einen so lieben, lieben Tag. Ihr süßes Trudchen hat sich mir tief ins Herz geprägt, und es war mir eine stille, innige Freude, sie und ihr einsames Herz dabei zu beobachten. Und ewig wird mir auch das Bild Ihrer Frau Gemahlin vor Augen sein, wie sie den Täufling auf dem Arm hielt vor Pastor und Becken. Es war das Köstlichste, was uns das Leben schenken kann: Mutterglück – Madonnenglück.«

Doch auch dieses Köstlichste sollte mir bald wieder in Frage gestellt werden. Meine Frau hatte sich nur scheinbar von dem tückischen Influenzaanfall erholt. Sie hatte aufs neue zu kränkeln angefangen, sie wollte sich trotz aller Pflege nicht wieder kräftigen. Einige Wochen Seeaufenthalt auf Amrum, die ich mit schweren Opfern ermöglicht hatte, wollten nichts verschlagen. Langsam schien sie an einem schlimmen Lungenübel dahin zu siechen.

»Wollen Sie sich Ihre Frau erhalten, so muß sie unbedingt in eine Heilanstalt und lieber heute als morgen,« sagte der Arzt.

Aber woher sollte ich die Mittel nehmen?

Da kam Hilfe in schwerer Not. Ein Berliner Verleger gründete ein neues Romanunternehmen und fragte auch bei mir an, ob ich nicht ein geeignetes Manuskript für seine Sammlung hätte. Nun arbeitete ich schon seit langem an einem Hamburger Roman, den ich ungefähr zur Hälfte fertig hatte. Dieses unfertige Manuskript erbat er sich. Und kaum wagte ich zu hoffen, daß es ihm schon genug sagen würde. Aber es gefiel ihm, er zahlte mir die Hälfte des für mich sehr ansehnlichen Honorars bar aus, und mir war mit einem Schlage geholfen.

Wie jubelte ich und dankte ich. Und was das Schönste war, meiner Feder sollte es beschieden sein, das Leben meiner Frau zu retten.

Mit welcher Freude arbeitete ich nun weiter an meinem Roman, der nachher unter dem Titel »Landen und Stranden« manchen freundlichen Leser gefunden hat. Meine Frau aber ging auf eine Winterkur nach Bad Rehburg, während meine Mutter mir die kleine Wirtschaft führte.

Das war eine schwere Zeit der Trennung, der Angst und Sorge, aber auch der Hoffnung und des immer wieder durchbrechenden Vertrauens auf eine bessere Zukunft, dieses wunderbare Gefühl einer nachtwandlerischen Sicherheit, das mich von Jugend auf begleitet hatte –

Voller heimlichen Erwartens,
Als blühte wo ein spätes Glück mir noch
Im Schatten eines unbekannten Gartens.

Und auch diesmal trog es mich nicht. Im Mai konnte ich meine Frau als genesen wieder in die Arme schließen.

Wie man den Totgesagten ein besonders langes Leben zuschreibt, so glaubte auch ich mich nun der Hoffnung hingeben zu können, der Wiedergeschenkten mich hinfort ungestört erfreuen zu können. Und in der Tat stieg die Sonne unseres Glückes aus dem Dunstkreis der Trübsal wieder langsam aber stetig höher. Ja, meine Frau gewann die Kraft, mir ein zweites Töchterchen ohne Nachteil für ihre Gesundheit zu schenken. Und als ein abermaliger Wohnungswechsel uns in ein Unterhaus führte, das sowohl einen kleinen Vor- als einen größeren Hintergarten hatte, wo Rosen blühten und ein paar alte Birnbäume saftige Birnen schenkten, lebten wir alle miteinander auf. Die Rosen, an hundert edle Stämmchen, blühten mit einer Üppigkeit und Fülle, daß wir mit vollen Händen verschenken mußten, sollte der Reichtum nicht elend verkommen.

Es befand sich sogar ein geräumiges, bedachtes Glashaus längs der ganzen Hinterfront des Hauses, in dem der Hauswirt, der als ein leidenschaftlicher Gartenfreund vor uns diese Wohnung selbst innegehabt hatte, drei Sorten des schönsten Weines gepflanzt hatte, von denen wir die reifsten und schmackhaftesten Trauben ernteten. Auch eine kleine Tuffsteingrotte mit einem Springbrünnlein befand sich mit unter diesem Glas, so daß wir in den Besitz eines idealen Wintergartens kamen, der mit seiner feuchten Luft, der langen Durchsonnung und dem belebenden Anblick der grünen Ranken meiner Frau ein wahres Sanatorium wurde.

Wie freuten wir uns des ersten Weines. Grüngolden und purpurblau hingen die schönen Trauben dicht über unseren Köpfen, und wir brauchten nur die Hand zu heben, um uns zu laben. Ja bis in meine Träume rankten die gesegneten Reben. Ich sah die schlanke, biegsame Gestalt meiner Frau sich zu den hängenden Trauben hinaufrecken, die schönste brechen und die vollen roten Beeren über einen Becher zerdrücken, den ich in beiden Händen hielt. Dabei sah sie mich mit einem stillen, gütigen Lächeln gar eigen an und sagte leise: »Trinke, es ist mein Blut.«


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