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Im Klub spielten zwei Schwestern Ammann eine bescheidene Rolle, wenn auch jeder die hübschen und aufgeweckten Mädchen gern hatte; aber sie waren als Letzte eingetreten, hatten die besten Plätze besetzt gefunden, und mußten sich nun lange Zeit mit einer Art Aschenbrödelstellung begnügen.
Diese beiden Schwestern mochten darüber nachgesonnen haben, wie sie sich verdient machen konnten; denn sie wollten doch auch etwas sein und vorstellen. So kamen sie auf den hübschen Einfall, uns ein kleines Fest zu geben. Die Eltern lebten in guten Verhältnissen, so daß die Töchter sich diesen Aufwand schon erlauben durften. Aus dem Heiratsgut der Mutter war noch ein ansehnlicher Weinberg unveräußert geblieben. Er überragte, von einem zierlichen Häuschen gekrönt, im Südosten das Städtchen mit seiner nicht unbeträchtlichen Kuppe, von der aus man einen reizenden Blick in das Tal genoß. Der Wein, der an diesem Hügel wuchs, war freilich nicht berühmt, doch lieferte er annehmbare Trauben, die von bescheidenen Leuten nicht verschmäht wurden.
Auf die Höhe dieses Weinberges hatten die Schwestern uns geladen, wo sie uns in dem hübschen Häuschen mit Kaffee und Kuchen und nachher mit einer Pfirsichbowle bewirten wollten. Die Liederbücher sollten mit hinaufgenommen werden, und von dort oben die schönsten und beliebtesten Lieder ins Tal hinunterschallen.
Es war ein wunderschöner Sonntagnachmittag, als wir einzeln die übersonnten Stufen des Weinberges hinaufstiegen, um oben von dem schon wartenden Schwesternpaar aufs freundlichste empfangen und in die Veranda des schmucken Häuschens geführt zu werden. In dieser Veranda, die sich gegen das Städtchen hin auftat, war der Kaffeetisch gedeckt, Berge von Kuchen türmten sich auf, Blumen fehlten nicht, und ihr Duft erfüllte mit dem Duft von Kaffee und Schokolade den kleinen Raum. Bald war die Gesellschaft versammelt, die Paare ungezwungen geordnet, wobei sowohl Eduard von seiner Meta, als ich von Anna getrennt wurden. Vielleicht aber wollten sich die beiden Gastgeberinnen einmal an den bevorzugten Freundinnen rächen und sich deren Liebhaber auf ein paar Stunden selbst aneignen.
Ich war keineswegs mit meinem Platz zufrieden, da ich meinen Rücken der schönen Aussicht zuwenden mußte. Annas Gesicht, das ich vor mir hatte, hätte mich freilich entschädigen sollen, aber ich mußte auch Kluges rosigen Vollmond daneben sehen, und so kam es, daß ich auf meinem Sitz in beständiger Bewegung war, bald mich der Landschaft und bald mich der Gesellschaft zuwandte.
»Ich glaube, wir geben diesem Herrn einen anderen Stuhl,« sagte meine Nachbarin zur Rechten, die blonde Germania. »Er sitzt in keiner Weise bequem darauf, wie es scheint.«
Man lachte, und ich entschuldigte mich. »Ist es denn nicht schwer, einem solchen Bilde beständig den Rücken zukehren zu sollen?« sagte ich, indem ich mich noch einmal dem übersonnten Tal zuwandte. »Ich liebe nichts mehr, als so von freier Höhe hinunter ungehindert in die Welt hinauszusehen. Mir ist es dann immer, als wäre das Fliegen nur eine verkümmerte Fähigkeit, die den Menschen angeboren ist.«
Aber die Germania wandte mich wieder mit einem festen Schultergriff der Gesellschaft zu: »Auch vor Ihnen gibt es hübsche Aussicht, andernfalls würde eine Viertelwendung nach rechts genügen.«
»Mir liegt nichts daran, daß der Herr aus seiner Höhe auf mich herabsieht,« sagte Anna. »Mag er nur ins Blaue schwärmen.«
Abermals gab es ein Gelächter auf meine Kosten, und diesmal glaubte ich, Kluges etwas laute und harte Stimme über alle sich hervortun zu hören.
War das Anna, die das gesagt hatte? Ich hatte ihr soviel Schlagfertigkeit gar nicht zugetraut. Sie selbst schien erschrocken über ihre Dreistigkeit; sie war rot und suchte ihre Verlegenheit unter einem kindischen Gekicher zu verbergen.
»Wer, der jung ist,« rief ich, »schwärmt nicht ins Blaue? Kommt es doch nur darauf an, daß wir schwärmen. Ob der Gegenstand es verdient, ist so wichtig nicht. Aber einmal die Flügel heben, einmal heraus aus dem Alltag, hinauf in freiere, sonnigere, glücklichere Höhen will jedes Herz, jede Seele! Und da erprobt sie erst auf kleinen, dann auf immer größeren Flügen, recht wie ein flügges Vöglein, ihre Schwingen, um plötzlich, wenn die rechte Zeit da ist, wie eine singende Lerche in den goldenen Himmel aufzusteigen, so hoch, daß das kleine Gänseblümchen, um das ihre ersten furchtsamen Versuche hinkreisten, den singenden Punkt über sich gar nicht mehr gewahr wird.«
»Wie poetisch!« rief Kluge spöttisch, während Anna blutrot in ihrer Kaffeetasse löffelte.
Ich hatte das wirklich alles ohne Bezug auf sie gesagt. Auch das Gänseblümchen war mir nur so entfahren. Jetzt wurde mir jedoch schnell klar, wie ungezogen mein Ausfall erscheinen mußte. Aber Meta riß mich aus der Verlegenheit, indem sie Kluges Ausruf aufgriff und meinte: »Freilich war das poetisch gesagt, und ich wette, unser himmelblauer Schwärmer ist ein heimlicher Versemacher.«
»Leugnen Sie nicht, ich sehe es Ihnen an, Sie können dichten,« fuhr sie fort und ließ sich von meiner Widerrede nicht beirren.
»Unbedingt muß er etwas zum besten geben,« rief man. »Nicht zieren, mein Herr!«
»Wer sagt Ihnen denn, daß ich dichte!« entgegnete ich noch einmal; »und wenn es so sein sollte, so habe ich doch nichts bei mir.«
»Wissen Sie nicht etwas aus dem Kopf?« fragte man hartnäckig.
»Gewiß! Aber es ist nicht von mir.«
»Hören lassen! Hören lassen!« hieß es.
Mit einem Achselzucken, das sagen sollte: ›Ich bin unschuldig, ihr habt es wollen,‹ erhob ich mich und begann Goethes »Der Goldschmiedgeselle« herzusagen.
Es ist doch meine Nachbarin
Ein allerliebstes Mädchen!
Wie früh ich in der Werkstatt bin,
Blick' ich nach ihrem Lädchen.
Zu Ring und Kette poch' ich dann
Die seinen goldnen Drähtchen.
Ach, denk' ich, wann und wieder, wann
Ist solch ein Ding für Käthchen?
Und tun sie erst die Schalter auf,
Da kommt das ganze Städtchen
Und feilscht und wirbt mit hellem Haut
Ums Allerlei im Lädchen.
Ich feile; wohl zerfeil' ich dann
Auch manches goldne Drähtchen.
Der Meister brummt, der harte Mann!
Er merkt, es war das Lädchen.
Und flugs, wie nur der Handel still,
Gleich greift sie nach dem Rädchen.
Ich weiß wohl, was sie spinnen will:
Es hofft das liebe Mädchen.
Das kleine Füßchen tritt und tritt,
Da denk' ich mir das Wädchen;
Das Strumpfband denk' ick auch wohl mit,
Ich schenkt's dem lieben Mädchen.
Und nach den Lippen führt der Schatz
Das allerfeinste Fädchen.
O wär' ich doch an seinem Platz,
Wie küßt' ich mir das Mädchen!
Vers für Vers stand mir sicher zu Gebote, mit jedem überkam mich eine größere Leichtigkeit, eine Freiheit, die mir erlaubte, das Ganze mit einer anmutigen Schelmerei vorzutragen, die ihre Wirkung nicht verfehlte, und man mochte das Ganze für einen gewollten und gelungenen Versuch halten, das Wort vom Gänseblümchen wieder vergessen zu machen.
»Das haben Sie selbst gemacht?« rief Kluge, ohne seine Verwunderung unterdrücken zu können.
»Ja,« antwortete ich ironisch. Doch die anderen fielen über ihn her: »Aber Herr Kluge! Das ist ja von Goethe, das wissen Sie nicht?« Und jeder tat wie ein Goethekenner.
»Zur Strafe für seine Unwissenheit soll er nun selbst ein Gedicht hersagen,« befahl die Germania, die gern das Wort führte. Alle stimmten jubelnd bei, und der arme Mensch wurde mit Gewalt vom Stuhl in die Höhe gezerrt. Als er nun einmal stand, schien auch er zu denken: sie haben es gewollt, also müssen sie es nehmen, wie ich es gebe; sogar ein selbstgefälliges, siegessicheres Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Eine Parodie des Schillerschen Handschuhs, nicht übel vorgetragen, verfehlte denn auch ihre Wirkung nicht. Ich selber lachte herzlich mit. Was er aber hernach, durch den Beifall eitel gemacht, folgen ließ, sank immer mehr auf ein so flaches Niveau herab, daß er nur schwachen Beifall erntete.
Wenn sie nicht blind ist, so hat sie jetzt gesehen, wes Geistes Kind er ist, dachte ich. Aber Anna, in allem lau und farblos, ließ nicht erkennen, ob sie für oder gegen den Rezitator und seinen banalen Wirtshaushumor war.
Indessen waren die Kuchenberge bis auf die Sohle abgetragen, nur noch einige Rosinen und Bröckelchen lagen auf den Tellern, und sie wurden jetzt den Vögeln hingeschüttet. Die Sonne war gesunken; ein letzter Schimmer lag noch auf dem weißen Tischzeug und spiegelte sich in dem seinen Porzellan der Kannen und Tassen, während unten schon alles in einem stillen, blauen Dämmer lag, aus dem der Abend langsam zu uns heraufstieg. Die Lampe wurde angezündet, die Bowle aufgesetzt, und die Liederbücher hervorgeholt. Das liebliche Getränk, an dem in keiner Weise gespart war, brachte erhöhte Stimmung. Die Gläser klangen in die stille Luft hinaus, und ein Lied nach dem anderen verhallte, bald laut und feurig, bald sanft und innig hinausgesungen, zwischen den Hügeln. Unten aber waren in den Häusern die Lichter schon aufgeblitzt, bevor wir hier oben unsere Lampe mit der farbigen Kuppel als einen grünen Stern in die beginnende Nacht hinausgestellt hatten; wie ein Märchenlicht, das einem geisterhaften Treiben leuchtet, mochte es den Leuten da unten vorkommen, wenn nicht unsere kräftigen Kehlen, die man jedenfalls weithin vernahm, sie über unsere irdische Beschaffenheit aufklärten.
Je lauter die anderen wurden, je stiller wurde ich und saß zuletzt wie ein Zuschauer da, der statt vor der Bühne mitten zwischen den Schauspielern Platz genommen hat. Die singenden Freunde erhielten zugleich etwas Puppenhaftes, ja Gespensterhaftes, wobei ihr Gesang ähnlich dem monotonen Geräusch der Meeresbrandung oder des Wipfelrauschens an mein Ohr schlug, ohne mich zu stören. Das grüne Licht der Lampe erhöhte den geisterhaften Eindruck, und die Schatten an der Wand bewegten sich wie eine zweite gespensterhafte Gesellschaft, die sich damit vergnügte, jene andere nachzuäffen und ins Groteske zu karikieren. Dazu schwirrte unablässig dunkles Getier aus der Nacht herein und um die gedämpfte Flamme, ja einmal verirrte sich eine Fledermaus unter das niedere Gebälk der Veranda, wo sie wie wahnsinnig hin- und herschoß, so daß ein paar Mädchen ängstlich aufkreischten. Schreckte dieses Kreischen mich auch für einen Augenblick auf, so blieb es doch hernach wieder nur ein leeres oder doch traumhaftes Schauspiel für mich, daß ich Kluge einer Tischvase Blumen entnehmen und sie Anna ins Haar stecken sah.
Da weckte mich ein lautes Klirren aus diesem wunderlichen Zustand. Der Apotheker hatte mit Kluge anstoßen wollen, hatte sich von seinem Platz erhoben und dabei eine Blendlaterne, die hinter ihm auf dem kleinen Ecktischchen stand, umgeworfen. Ein allgemeiner Aufschrei des Schreckens, des Bedauerns, des Vorwurfs ließ sich hören. »Was fangen wir jetzt an?« »Wie finden wir im Dunkeln den Weg hinab?« »Wenn wir nur Mondschein hätten!« so rief man durcheinander.
Man wurde erst jetzt auf die Dunkelheit aufmerksam, die sich draußen inzwischen schwarz und undurchdringlich ausgebreitet hatte; kaum daß ein paar Sterne klein und wie in unendlicher Ferne mit schwachem Flimmern aufleuchteten. Die Schwestern wußten die Besorgten zu beruhigen. Ohne Licht wäre freilich der Abstieg für Fremde nicht ganz ungefährlich, da der Weg aus lauter nicht immer ganz regelmäßigen Stufen bestände und auch zeitweilig Geröll mit sich führe, worauf der Fuß leicht ausgleiten könne; aber es sei ja gänzlich windstill, und so könne man die Tischlampe mit hinunternehmen, man habe sich schon manchmal damit geholfen.
Ich nahm sofort die Lampe, was man ohne Einrede geschehen ließ, und wir machten uns auf den Weg. Man war übereingekommen, nichts oben zu lassen, und so war jeder mit irgend etwas beladen; Glas und Porzellan waren in kleine Körbe verpackt, Bandler und der Apotheker trugen je einen Teil der Liederbücher unterm Arm, nur Kluge und Anna waren unbehelligt geblieben. Sie gingen dicht vor mir auf, und die Blume in Annas Haar leuchtete mir im Schein der Lampe entgegen. Doch hatte ich zu sehr auf den Weg und auf das Licht in meiner Hand zu achten, als daß ich mich hätte eifersüchtigen Wallungen lange hingeben können. Ich fühlte aber auch nichts dergleichen sich regen. Ich sah, wie er ihr ab und an die Hand reichte, sie über größere und unbequemere Stufen behutsam hinwegzuleiten. Hier war nun ein Bild aus Hermann und Dorothea; aber nicht ich war es, sondern Kluge, der mit Anna die köstliche Dichtung meines geliebten Dichters in die Wirklichkeit übersetzte. Wie kam es nur, daß es mich so ruhig ließ? War es allein die Aufmerksamkeit auf die Lampe, was mich so völlig ablenkte?
Bei jedem Schritt zuckte die Flamme im Zylinder, nur einen kleinen Umkreis erhellte ihr Licht. Wie ein blasser Mond glitt diese gelbe Lichtscheibe vor mir den Weg hinab und zeigte mir Stufe für Stufe. »Vorsicht!« mahnte ich von Zeit zu Zeit, mahnten andere Stimmen ebenso. Aber Kluge und Anna schienen den Weg zu kennen, gingen ihn mit nachtwandlerischer Sicherheit, lachten und scherzten.
Ein großer schwarzer Nachtfalter flatterte unaufhörlich um meine Lampe, schoß in das Dunkel zurück, kam wieder, schlug mit den schönen samtenen Flügeln gegen die grüne Kuppel, schwirrte und surrte um das heiße Glas.
Kein Lüftchen regte sich. Aus dem Städtchen schimmerten die Lichtchen unbewegt zu uns hinauf. Aber um uns, soweit nicht der kleine Lichtkreis der Lampe fiel, war schwarze Nacht.
»Löscht doch die Lampe aus!« rief man. »Man sieht ja ohne Licht viel besser!«
Sofort wandte sich Kluge und blies mir die Lampe in der Hand aus.
»Bravo!« rief einer.
»Mir ist es recht,« sagte ich. »Da bin ich einer Sorge ledig.«
In der Tat ging es sich jetzt für alle besser; man gewöhnte sich, von keinem Licht geblendet, schnell an die Dunkelheit. Die Umrisse der schwarzen Hügel in der Ferne traten scharf hervor, in der Nähe die schlanken Pyramiden der Weinstöcke, ja zuletzt lag alles wie unter einem zwar dunklen aber durchsichtigen Schleier da. In der Höhe traten die Sterne heller hervor, und ich bedauerte im stillen, welch schönes Nachtbild wir uns durch das mühsam zu Tal getragene Licht verdunkelt hatten. Nur meinen Nachtfalter sah ich jetzt nicht wieder. Nur einmal war er angesaust gekommen, gerade gegen meine Stirn, war ein paarmal dicht vor meinen Augen, die ihn mit einem schwachen Leuchten angezogen haben mochten, auf und ab getaumelt, um dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Glücklich kamen wir unten an und verabschiedeten uns mit herzlichem Dank von den beiden liebenswürdigen Schwestern. In der Nacht kam ein Gewitter herauf. Ich stand auf und sah die blauen Blitze über den Himmel hinlaufen. Obgleich er von meinem Fenster aus nicht sichtbar war, bildete ich mir doch ein, den Gipfel des Weinberges in diesem himmlischen Feuer aufleuchten zu sehen, sah das kleine Tempelchen, die grüne Lampe darin, wie ein zu heimlichen Märchenwundern lockendes Licht, sah den Weg sich zwischen den stillen Stöcken hinabschlängeln und Kluge und Anna Stufe für Stufe ihm folgen; ihn, wie er halb zurückgewandt dem nachfolgenden Mädchen die stützende Hand bot, sie, wie sie in schnellem Vertrauen sich seiner Führung überließ. Und während Blitz auf Blitz lautlos aufleuchtete, kam mir die lächelnde Erkenntnis: Deine vermeintliche Liebe zu Anna ist nichts, als ein poetisches Spiel.
*
Bei Martha fand ich Ersatz für das Verlorene oder vielmehr freiwillig Aufgegebene. Ich hatte ihr in der letzten Zeit auch wohl einmal vorlesen müssen; ich hatte meinen Goethe an ihr Bett getragen, und wir lebten bald in einer geistigen Gemeinschaft zusammen, die zwischen Anna und mir unmöglich gewesen wäre. Wie schmerzlich hatte die Kranke jahrelang eines solchen anregenden Umganges entbehrt. Der Bruder hatte außer für seine Musik keine höheren Interessen. Ihm war sie ja auch schon dankbar genug für die Liebe, mit der er sie umgab, und sie mochte weitere Opfer von ihm nicht verlangen. Jetzt erfuhr ich ganz, wie weit er darin schon gegangen war. Eine Neigung zu einem hübschen und reichen jungen Mädchen, einer älteren Schwester unserer freundlichen Weinbergwirtinnen, hatte ihn ergriffen, aber er hatte ihr der Schwester wegen entsagt. Er hatte sich eingeredet, eine so wohlhabende und verwöhnte Tochter würde sich für einen Bräutigam mit einer solchen lebenslänglichen Zugabe bedanken; denn seine Schwester zu verlassen wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Aber zu spät erfuhr er, daß jenes Fräulein seine Neigung im stillen erwidert hatte und sich wohl die Hausgenossenschaft einer kranken Schwägerin würde gefallen lassen haben; ertrug sie doch jetzt in einer bald darauf geschlossenen Ehe ein ähnliches Schicksal mit Liebe und Gelassenheit, indem sie die kranke Schwiegermutter mit töchterlicher Liebe umgab.
Dieses Glück also war versäumt, das Band aber, das die Geschwister miteinander vereinte, seitdem nur um so fester geknüpft. Ganz ohne Folgen war diese Enttäuschung für den guten Prätorius leider nicht geblieben. Er hatte zu trinken angefangen, hatte sich eine Zeitlang fast ganz verloren und war nur allmählich durch die Klugheit und Liebe der Schwester sich und einem ehrsamen Leben wiedergewonnen worden. Hierbei hatte ihr hauptsächlich seine Musikliebhaberei hilfreiche Dienste leisten müssen. Ganz und gar freilich hatte er das Trinken nicht lassen können, doch blieb es in mäßigen Grenzen und Martha duldete es gern, wenn er sich im Nebenzimmer ein Glas Grog braute; wußte sie doch, daß es zu Hause in ihrer Nähe bei einem Glas bleiben würde, während er im Wirtshaus den Versuchungen zum Weitertrinken leicht erlag. Um so dankbarer war sie, daß jetzt eine Kraft mehr da war, die ihn zu Hause hielt, denn wir musizierten fleißig weiter, ein Opfer, das ich Martha gerne brachte. Auch ging es allmählich doch etwas leidlicher mit unseren Hauskonzerten; Prätorius gewann an Fertigkeit und Sicherheit und, da ich darauf hielt, daß wir uns nicht an zu schwere Sachen wagten, erhielt ein immer besseres Gelingen ihn bei Lust und Laune.
Das machte auch mich immer eifriger. Ich mietete mir ein Klavier und blieb nun oft des Abends zu Hause und übte. Anfangs kam Bandler ein paarmal, zog aber bald die Kneipe vor. Gern sah ich, daß er wegblieb. Ich mußte allein sein, wenn ich Musik machte. Oder mußte wissen, daß ich wirklich jemandem eine Freude damit bereitete, wie Martha. Bei jedem Stück dachte ich sie als meine Hörerin; sie sollte alles so vollendet wie möglich hören. Das förderte mich sehr.
Leider wurde dieser Fortschritt durch ein unglückliches Ereignis, das mich auf lange Zeit von meinem lieben Dilettanten trennen sollte, unterbrochen. Jeder junge Mann, der sich für längere Zeit im Städtchen niederließ, war gehalten, der Feuerwehr seine Dienste zu leisten und auch auf diese Weise das Seine zur Erhaltung eines Gemeinwesens beizutragen, das ihm Obdach und Lebensmöglichkeit verlieh. Jetzt sollte auch für mich die Stunde kommen. Eine kleine Kate war niedergebrannt und lag nun, ein kohlender und rauchender Trümmerhaufen, da. Als wir abends gemütlich am Stammtisch saßen, mit uns der Turnlehrer Körner, der Kommandant der Feuerwehr, meldete ein Bote, daß aus dem Brandschutt wieder helle Flammen schlügen. Sofort sprang der Kommandant auf: »Wer ist anwesend? Bitte, meine Herren, alle mitkommen!«
Es war eiskalt draußen, der Ostwind pfiff, es glatteiste, und die Straßen funkelten nur so im Mondschein. An der Brandstelle empfingen uns Rauch und Flammen, und wir mußten sofort an die Pumpe, die in einem halbvereisten Wasserloch aufgestellt war. Es war ein hartes Stück Arbeit. An den kalten Eisenstücken erstarben die Hände, und auf dem von einer dicken Eiskruste überzogenen Erdreich war schlecht Fuß zu fassen. Aber wir griffen fest zu, und der Wasserstrahl sauste in die Flammen, daß der dicke Qualm hoch aufstieg und sofort, von dem pfeifenden Wind ergriffen, davonjagte.
Bandler, dem schlanken Kommandanten an Größe gleich, hatte mit diesem zusammen zuerst die Pumpe bedient. Kluge und ich, ebenfalls von gleichem Wuchs, lösten sie ab. Kluge, in allem derb und zufahrend, pumpte wie der Teufel, und ich, in ihm überall einen Rivalen sehend, mühte mich, es ihm gleich zu tun. Dabei glitt ich auf dem vereisten Boden aus, suchte vergebens Halt und rutschte bis unter die Arme in das eiskalte Wasserloch hinein. Noch im Fallen fühlte ich mich gepackt und von vier kräftigen Armen herausgezogen; aber ich war bis auf die Haut durchnäßt und klapperte vor Frost mit den Zähnen.
Was jetzt? Die einen wollten mich in die Wirtschaft zurückschleppen und mich mit einem heißen Grog behandeln, Bandler und Körner waren für einen Dauerlauf nach meiner nur fünf Minuten entfernt liegenden Wohnung, wo ich mich sofort ins Bett packen solle. Bandler nahm mich auch sogleich am Arm und trabte mit mir so schnell es auf dem Glatteis möglich war, meinem Hause zu.
Da lag ich denn nach zehn Minuten in den warmen Federn, goß eine Unmenge heißen Zitronentees in mich hinein und brachte es zu einem gehörigen Schweiß. Mein die plötzliche Abkühlung des überhitzten Körpers, der mit keuchender Brust in das schmerzendkalte Eiswasser geraten war, blieb nicht ohne ernste Folge. Eine heftige Lungenentzündung stellte sich ein, und ich war in großer Gefahr. Prätorius kam täglich, um zu sehen, daß es mir an nichts fehle, auch Bandler bemühte sich um mich, und so überstand ich unter der sorgsamen Pflege meiner alten Wirtin die Krisis.
Ich genoß das wohltuende Gefühl langsamer und steter Gesundung in Dankbarkeit und Zufriedenheit und war, wie so oft, in einem Zustand, in dem ich nichts wollte und begehrte, sondern mich vom Tag schaukeln ließ.
Darüber war es Weihnacht geworden; sie hatten mir ein Bäumchen geschmückt, und ich durfte ein paar Stunden aufstehen, mich seiner zu freuen. Draußen lag der Schnee fußhoch. Die niedrigen Dächer grüßten unter der hohen Schneehaube gar traulich und festlich zum Fenster herein, nur hin und wieder fegte ein Windstoß durchs Tal, zauste ihre Kappe und verursachte ein kleines Schneetreiben um Schornsteine und Dachfirste.
Es war ein rechtes Weihnachtwetter. Wie mochte es jetzt draußen im Walde aussehen, wo mein Tännchen noch vor ein paar Tagen unter all den großen und kleinen Schwestern gestanden und den hungrigen Fuchs hatte hinstreichen sehen, wie er die Rute durch den Schnee zog; wo es dem Gezänk der Krähen zugehört und nachts über seinem Scheitel die Sterne hatte aufblinken sehen. Jetzt waren sie zu ihm herabgekommen, die goldenen Lichter, auf jedes Zweiglein eines; ganz still und glücklich trug er die Sternlein und atmete dabei einen würzigen Harzduft aus, der das ganze Zimmer erfüllte.
Von Martha Prätorius war ein blühendes Topfgewächs gekommen, mit einem Brief, worin sie mir mitteilte, sie habe eine Handarbeit für mich begonnen, habe sie aber wieder beiseite legen müssen, denn ihre schwachen Kräfte hätten nicht ausreichen wollen. Ich betrachtete gerührt das hübsche Bäumchen, atmete den schwachen Duft der blassen Blüten und fühlte mich reich beschenkt. Auch aus der Heimat stellte sich ein Weihnachtsgruß ein. Ich erkannte die Aufschrift meiner lieben Mutter und im reichlich verschwendeten Siegellack die Abdrücke ihres kleinen Petschaftes, das, ein letztes Geburtstagsgeschenk meines verstorbenen Vaters, mir mit seinem roten fast durchsichtigen Achatgriff noch lebhaft in der Erinnerung war. Ich sah die gute Mutter vor mir, wie sie sich abmühte den vielen Bindfaden kreuz und quer um das Paket zu schlingen, sah sie den roten Wachs über die Flamme des Leuchters erwärmen und die schmelzende Masse sorglich auf die zu versiegelnden Stellen träufeln. Gerührt sah ich das Ergebnis so umständlicher Mühen vor mir stehen und mochte kaum den Bindfaden mit meinem Federmesser zerstören.
Natürlich lag ein Brief oben auf, den ich sogleich öffnete, um ihn dann wieder so lange beiseite zu legen, bis ich die Festgaben aus der Heimat näher erforscht hätte. Ein paar wollene Socken waren das erste was zum Vorschein kam; sie waren mir lieb und kamen mir sehr zustatten. Darunter stand ein Schächtelchen mit Lübecker Marzipan. Das war alles und wollte mir nicht viel erscheinen, bis ich mit tastender Hand noch etwas Hartes im Strumpf verborgen fühlte; es war ein in ein Eckchen Schreibpapier gewickelter Taler. Meine Enttäuschung machte jedoch sogleich einer tiefen Rührung Platz. Auch diese wenigen Gaben waren ein Zeichen mütterlicher Liebe. Und ich zerfloß vollends in Tränen, als ich nun aus dem Briefe erfuhr, daß noch dieses Wenige ein Möglichstes vorstelle, und daß Kummer und Sorge das Herz meiner armen Mutter bedrückten. Sie hatte wohl immer wieder in ihren Briefen angedeutet, daß sie jetzt sparsam leben müßten, und daß die Krankheit der Schwester viel Geld koste. Ihre Klagen waren diesmal nicht größer als sonst, nur daß das Leiden des Kindes ihr einen tiefen Herzensseufzer auspreßte. Aber ich las wohl zwischen den Zeilen, sah an dem geringen Inhalt des Weihnachtskistchens, daß es nicht zum Besten gehen könne und schalt mich, daß ich auch nur einen Augenblick lang hatte unzufrieden oder auch nur enttäuscht sein können.
Von meiner Krankheit hatte ich nichts geschrieben. Die Mutter hielt mich für wohl und beschwerte sich, daß ich solange nichts hatte von mir hören lassen. Ich freute mich nun doppelt, daß ich ihr diese Sorge um mich erspart hatte.
Ich besah meinen Taler, ein schönes, blankes, preußisches Geldstück neuester Prägung, fühlte die Weiche der wollenen Socken, indem ich sie zärtlich an die Wange drückte und war gerade dabei die Marzipantorte zu betrachten, als meine Wirtin mit einem gleichen runden Schächtelchen erschien. Es sei Lübecker Marzipan, den ihr Sohn geschickt habe, sagte sie, und da sie wisse, daß ich aus Lübeck sei, habe sie gedacht, ich würde ein Stückchen des heimatlichen Gebäcks nicht verschmähen.
Ich zeigte ihr trumphierend mein mütterliches Geschenk, und wir standen uns lachend mit den Marziantorten gegenüber. Sie hatte aber von der ihren, auf der ein draller Engelsbube aus einem Füllhorn Rosen streute, schon ein paar kleine Stücke abgeteilt und drang nun in mich, davon zu nehmen. »Gut,« sagte ich, »dann müssen Sie auch von meinem Gebäck kosten.« Auf diesem aber waren die alten festen Türme des Holstentores abgebildet; wie Heimweh befiel es mich bei ihrem Anblick und es kostete mich einige Überwindung, das vaterstädtische Wahrzeichen zu zerstören.
Sie erwischte ein Stück des Getürms und schlug nun ihre Zähne in das alte, freilich leicht genug zerbröckelnde Gemäuer, während ich mir mit einem Stück des himmlischen Gefieders den Gaumen kitzelte.
Bandler kam auf ein halbes Stündchen und wäre, da er es so behaglich und weihnachtlich bei mir fand, gern geblieben; aber er habe versprechen müssen mit seinen Wirtsleuten, jungen, munteren und mit Kindern gesegneten Leuten, zu feiern. Er ermahnte mich, mich zu schonen, und ließ durchblicken, daß man im Geschäft schon sehr nach mir aussähe. Man hatte von dort aus meinen Zustand mit Teilnahme verfolgt, mußte aber in der Weihnachtszeit den Abgang einer Arbeitskraft doppelt empfinden. Bandler hatte das Seine getan, mich zu vertreten; den Rest der vermehrten Arbeit hatte Herr Nutzsche selbst auf seine Schultern nehmen müssen. Obwohl ich hier für das Allgemeinwohl litt, in dessen Dienst ich verunglückt war, drückte mich dieser Umstand schon genug, und ich sehnte mich selbst, den Platz an meinem Pult wieder einnehmen zu können. So beschloß ich denn die einsame Weihnachtsfeier mit einem frühen Zubettgehen, lag aber, von mancherlei bewegt, noch lange wach. Der Brief der Mutter ging mir im Kopf herum. Obgleich sie nicht klagte, war doch ein kummervoller Ton in ihrem Schreiben. War es allein die Krankheit der jüngsten Schwester, die noch immer auf ihrem Schmerzenslager lag, was sie betrübte? Die ungewohnte Kärglichkeit der Weihnachtsgabe und die Ermahnung zum Sparen ließen mich fürchten, daß auch sonst die Verhältnisse zu Hause sich ungünstig gestaltet hätten. Heimweh überkam mich, meine Gedanken weilten bei den Meinen im Elternhause und meine Erinnerungen durchirrten die Gärten meiner Kindheit.
In dieser Nacht aber suchte mich zum erstenmal in der Fremde mein Kindertraum wieder auf; meine Gedanken mochten wohl zu lange auf jenen längstversunkenen Jugendwiesen gegangen sein. Die Stadt mit den goldenen Türmen öffnete mir wieder ihre strahlenden Tore und wehmütig-feierlich schritt ich durch die alten lieben Gassen. Nur war manches anders geworden. Aus einem Brunnen, der sich mir jedoch altvertraut und gar nicht überraschend darbot, fiel ein klares Wasser mit melodischem Geplätscher; daran stand meine Mutter und schöpfte mit ihrem grünen Gießkännlein, woraus sie dann wieder ein welkes Röslein, das neben ihr in einem irdenen Topf auf dem Pflaster stand, sorglich tränkte.
»Es will gar nicht gedeihen, so sehr ich's auch pflege,« sagte sie so traurig, daß es mir ins Herz schnitt.