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V

Nun nahm die Schule mich gleich wieder tüchtig heran. Es war das letzte halbe Jahr vor der Konfirmation, und wenn ich auch sicher war, daß ich diesmal die Obertertia mit Erfolg absolviert hatte, so hieß es nicht nur ehrenhalber aufs schärfste sich anstrengen; hing doch auch die Berechtigung zum Einjährigendienst von der Reife für die Selekta ab. Dazu kam, daß ich so dicht vor dem Abschluß meiner Schulzeit mich zu entscheiden hatte, welchen Beruf ich ergreifen wollte. Am liebsten hätte ich Musik studiert, doch erklärte mein Stiefvater kurzweg, zu irgendwelchem Studium sei das Geld nicht da; aber ob ich nicht Lust hätte, Buchhändler zu werden, da bliebe ich ja bei den Büchern. Lieber hätte ich nun freilich die Literatur zu einem Studium als zu einem Handelsartikel gemacht, aber eine Entscheidung des Vaters umzustoßen, hätte ich kaum den Versuch gewagt.

Auf den Rat eines alten Buchhändlers mußte ich griechische Privatstunden nehmen, denn Griechisch und Lateinisch sei für einen Buchhändler unumgänglich nötig.

Alpha, Betha, Gamma, Delta – es ging mir wie beim Schwedischen, das Abc und ein paar Vokabeln waren alles, was ich profitierte.

In dieser Zeit wurde unser Haus in Trauer versetzt. Unsere alte Tante war nach kurzer Krankheit gestorben. Sie hatte schon seit einigen Wochen mit unserem Klavierunterricht aufgehört, und wir hatten vergeblich auf ihre Besserung gehofft. Nun lag sie still und weiß in ihrem Sarg, das alte, hagere Gesicht von weißen Locken umrahmt, die langen, schlanken Hände zwischen Rosen gebettet, die ihr unsere Mutter reichlich auf die Decke ihres letzten Bettes gestreut hatte. An einem sonnigen Tage wurde sie beerdigt und fand ihre Ruhestätte neben dem Hügel unseres Vaters. Wir Kinder durften dem Begräbnis nicht beiwohnen, aber einige Tage später ging unsere Mutter mit uns hinaus und wir durften je einen Kranz auf das Grab der Tante und auf das unseres Vaters legen. Die Sonne schien hell über die vielen Blumenhügel, und ich hatte kein Grauen vor dem Tode; er schien mir gütig und freundlich wie unsere liebe Mutter, wenn sie abends die Kammertür schloß: »Nun schlaft auch schön!«

Das war im März gewesen. Eine erste Frühlingssonne hatte das frische Grab umleuchtet, und an den Hecken schwollen die Knospen. Nun kam Ostern heran und damit mein Austritt aus der Schule.

Alt genug war ich geworden, denn ich hatte in der Tertia ein ganzes Jahr verloren; die Mathematik war mir im Wege gewesen. Doch hatte ich mir mit dem Zeugnis der Reife für die Selekta die Berechtigung zum »Einjährigen« ersessen und somit ein erstes Lebensziel erreicht. Eine Lehrstelle war schon für mich gefunden, und zwar in Hamburg, der großen Nachbarstadt, an die ich mit einem wunderlichen Gemisch von kleinstädtischem Bangen und freudiger Erwartung von Welt und Herrlichkeit dachte. Schon am Dienstag nach Ostern sollte ich dort eintreten.

*

Am Palmsonntag wurde ich konfirmiert. Im schwarzen Schoßrock, den Zylinderhut auf dem Kopfe, ging ich an der Seite meiner Eltern in die Kirche. Mir war sehr feierlich zu Sinn, ohne daß sich bestimmte Gedanken und Gefühle gestalten wollten. Die Predigt, der Gesang, das Brausen der Orgel, die Tränen der Mutter, alles vereinte sich zu einem gewaltigen Ansturm auf mein weiches Herz. Ich atmete auf, als wir wieder auf die besonnte Straße hinaustraten und das helle Haus, von Küchen- und Schokoladenduft durchzogen, uns wieder aufnahm. Gratulanten stellten sich ein, und der Tag verlief recht festlich und fröhlich.

Dann aber kam die Zeit, wo ich an den bevorstehenden Abschied zu denken genötigt war. Das Herz zog sich mir zusammen, und ich schlich still im Hause umher. Am Abschiedsmorgen saß ich noch ein letztes Mal vor dem lieben, alten Klavier, das ich seit der Tante Tod ein wenig vernachlässigt hatte. Ich spielte allerlei durcheinander. Alles nur halb und ohne rechte Befriedigung. Selbst mein Mozartandante aus der A-dur-Sonate wollte mir nicht klingen, bis ich zum alla Turca vordrang; mit diesen feurigen Rhythmen rang ich mir die halb bange, halb wehmütige Stimmung aus der Seele, eine Art Trotz überkam mich, und das alte Klavier klirrte unter meinen wilden Händen.

Darüber war meine Mutter unbemerkt ins Zimmer getreten. Sie hatte sich still an das Fenster gesetzt und hatte mich ausspielen lassen. Als ich sie nun gewahrte, erschrak ich; eine stille Traurigkeit lag auf ihrem lieben Gesicht, und mich befiel das unklare, beklemmende Gefühl, daß sie etwas Schmerzliches, Leidvolles mit sich herumtrüge. Ich setzte mich zu ihr, und sie griff sogleich nach meiner Hand.

»Freust du dich?« fragte sie.

»Auf Hamburg?« fragte ich zurück.

Sie legte ihre linke Hand auf meine Schulter und fuhr mir mit der rechten ein paarmal liebkosend über den Scheitel. Sie sah mir dabei mit einem innigen Blick so tief in die Augen, daß mir plötzlich die Tränen hervorschossen. Sie schloß mich in ihre Arme und wir küßten uns. »Bleibe ein guter Mensch!« sagte sie mit einem Ausdruck, der mich erschreckte und nachdenklich stimmte. ›Wer ist denn kein guter Mensch?‹ dachte ich. ›Ist es so schwer, ein guter Mensch zu sein?‹

Nachher gab die Mutter mir noch ein Paar Strümpfe, die sie vergessen hatte in mein Köfferchen zu legen, und ich ging in unser Knabenzimmer hinauf, sie zu den übrigen zu packen. Mir war sehr wehmütig zu Sinn, und der trauliche Raum, den ich nun bald für immer verlassen sollte, stimmte mich nicht heiterer. Ich setzte mich ans Fenster und sah auf das schräge Dach des Nachbarhauses; es lag noch ein Streifen sinkender Sonne auf den Pfannen, und im Schatten der Rinne hatte sich noch ein Restchen Schnee erhalten, das der Ruß geschwärzt hatte. Trostlos erschien mir dieser Ausblick, der mir zu anderen Zeiten soviel Vergnügen gewährt hatte, der ich gern mit den Augen in Löcher und Winkel und Ritzen hineinkroch und eine heimliche, versteckte Welt mit meiner Phantasie belebte. Doch als ich den Blick ins Zimmer zurückwandte, fand sich ein Schwarm lieber Gestalten ein, die jedoch alle eine wehmütige Gebärde zur Schau trugen und meinen Abschiedsschmerz zu teilen schienen. Da sah ich uns wieder um den runden Tisch sitzen, das wackere schwedische Tabakkollegium, und uns wieder mit der Deklination von »flicka«, das Mädchen, ein ehrbares Mäntelchen umhängen. Da standen unsere beiden Betten, in deren einem ich nun diese Nacht zum letzten Male schlafen sollte. Und nie wieder würde mein Bruder in dem anderen bis gegen Mitternacht wach liegen und meinen abenteuerlichen Indianergeschichten lauschen. Der kleine Waschtisch, an dem wir uns manchesmal um die Seife gestritten haben, der gemeinsame Kleiderschrank, der jetzt von mir nur noch altes, abgelegtes Knabenzeug barg, ja selbst der eiserne Stiefelknecht, der wie ein großer, schwarzer Trauerkäfer unter meinem Bett hervorzukriechen schien, alles stimmte mich trübselig.

Über meinem Kopfe lief plötzlich ein leises Rollen hin, ein Schurren; vielleicht eine Maus, die ihren Abendspaziergang über unseren Spielboden machte, der uns immer seltener gesehen hatte, und der nun bald das alleinige Reich der Ratten, Mäuse und Spinnen sein würde.

Auf dem Stuhl vor meinem Bett stand mein Koffer, der laut vom Scheiden sprach. Draußen auf dem Dach erlosch die letzte Sonne, und ich fühlte plötzlich, wie kalt es in dem ungeheizten Räume war. Ein leises Frösteln schüttelte mich, und ich erhob mich und verließ das Zimmer; als sich die Tür hinter mir schloß, überkam mich ein beklemmendes Gefühl, wie einem, der zum erstenmal ins Wasser springen soll.

Am Fuß der Treppenleiter, die zu unserem Kinderparadies hinaufführte, packte mich ein sehnliches Verlangen, nur noch einmal einen Blick hineinzuwerfen. Ich stieg die paar Stufen hinan und hob die schwere Luke; sie kreischte in den Angeln, und eine leichte Staubwolke wehte auf. Ich steckte den Kopf durch die Luke; es war ganz dämmerig, fast dunkel dort oben. Eine schwarze, fast unkenntliche Gestalt, stand das alte Schaukelpferd ganz hinten in einer Ecke. Eine kalte, tote Luft schlug mir entgegen. Was suchte ich hier oben? Leise schloß ich die alte Luke wieder.


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