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Mit jedem Tag fühlte ich mich wohler in meiner neuen Umgebung. Was war ich für ein armes Tröpflein in dem Menschenmeer der Großstadt gewesen. Hier zählte ich mit. Hier genossen die Buchhandlungsgehilfen von jeher eines besonderen Ansehens, galten mehr, als die jungen Krämer und Handwerker, und nur die beiden Apothekergehilfen konnten sich einigermaßen mit ihnen messen.
Natürlich hatten wir ein Stammlokal, das wir bevorzugten. Hier durfte ich mit würdigen Männern, wie dem Bürgermeister, dem Stadtschreiber, dem Seminardirektor und anderen an einem langen Tische sitzen und mich fühlen. Harmlose Philistergespräche freilich waren es nur, die unsere Tafelrunde bewegten. Ab und an erhitzte eine kommunale Angelegenheit die Gemüter, oder ein Fest im Kasino gab Veranlassung zu reichlichen Debatten. Aber im Rat der Alten und Erfahrenen ein Wort mitsprechen zu dürfen, war an sich schon wertvoll und hob das Selbstgefühl. Mir gefiel dieses behagliche Philisterleben nur zu sehr, und ich hätte nicht jung sein und aus einem so dunklen Käfig kommen müssen, wenn es mir nicht hätte gefallen sollen; die Sonne der Freiheit vergoldete es mir, und ich trank dies junge Licht mit durstigen Zügen.
Ich war nun fest angestellter Buchhandlungsgehilfe und verdiente, was ich für meine Person zum Leben brauchte. Gleich mir sah ich Bandler und andere sich mit ihrem Beruf abfinden, ihre tägliche Pflicht erfüllen und abends zufrieden ihr Bier trinken. Dereinst eine Stellung wie das schnaubende Männchen einzunehmen, lag als erreichbares Lebensziel vor mir. So sehr ich in Hamburg unter den Ketten des aufgezwungenen Berufes geseufzt hatte, hier erschien mir alles in einem milderen Lichte, und ich war schnell versöhnt.
Der flachsblonde Bandler war ein guter Kerl, mit dem ich bald auf dem besten Fuße stand. Seine Züge waren fast mädchenhaft weich, und seine kurzsichtigen blauen Augen sahen freundlich und harmlos durch den goldenen Zwicker. Wir verbrachten auch außerhalb des Geschäftes fast alle unsere freie Zeit zusammen. Wir aßen zu Mittag im »Goldenen Engel«, der uns bequem gelegen und als erster Gasthof am Ort gerade recht war, denn wir glaubten unserer Stellung etwas schuldig zu sein. Wir waren eine kleine Gesellschaft von vier Herren, die gut miteinander auskamen. Einer, den wir seiner vornehmen Allüren wegen den »Legationsrat« nannten, hatte sich eine Art Präsidium angemaßt, und da er sonst ein guter Kerl war, ließen wir es uns gern gefallen. Die Kost war gut und mundete namentlich mir nach dem kärglichen Tisch meiner Hamburger Lehrzeit vortrefflich.
Ich hatte schon ein halbes Jahr hier gespeist, als mir das Mahl noch auf eine besondere Art gewürzt werden sollte. Ein neuer Kochlehrling kam in die Küche des Hotels, eine zierliche Blondine mittlerer Größe mit großen grauen Augen und einem weichen, unschuldigen Gesichtchen. Sie war die Tochter des Stadtschreibers und hieß Anna Lenz. Lenzlich genug erschien sie mir in ihrer ersten knospenden Jugend; ich schätzte sie auf kaum achtzehn Jahre, und wollte kein reizenderes Alter für junge Mädchen kennen, als gerade dieses.
Ich verliebte mich flugs, aber umsonst bemühte ich mich, einen Blick von ihr zu erhaschen; ja, ich bekam sie oft wochenlang nicht zu Gesicht. Es mochte Zufall sein, aber ich redete mir ein, sie wiche mir aus, und war heute geneigt es mir zum Vorteil zu deuten, da Mädchen immer scheu und zaghaft zu sein pflegen, und war morgen trostlos, da ich mir einredete, nur heftige Abneigung könne sie mich so lange und so beständig meiden lassen.
Ich sah von meinem Pult aus den Turm des Rathauses, in dem ihr Vater sein Amt versah, und ich wußte, hinter diesem Rathaus hervor führte ihr Weg sie um die bestimmte Stunde über den Markt und ins Nachbarhaus; aber ich konnte von meinem Platz aus den Weg nicht übersehen, sah nichts, als den dicken, runden Turm, dessen Uhr mir jetzt ihre Zeiger zu träge über das Zifferblatt schob, zu träge für meine Ungeduld, die die Essenszeit herbeisehnte, in der immer wieder getäuschten Hoffnung, heute wirst du sie doch endlich einmal wiedersehen. An der Mittagstafel dann löffelte ich mit widerstreitenden Empfindungen die Suppe, die sie hatte bereiten helfen, gabelte den Braten, stocherte in dem Gemüse, oder rührte elegisch in der süßen Speise, was alles ihrer Hände Werk und mir daher je nach Stimmung mehr oder weniger köstlich war.
So verging der Winter. Ein paarmal war es mir doch geglückt Anna zu sehen, und immer hatte es mir nur zu neuer Qual gedient; und mein Verlangen nach einer Annäherung größer gemacht.
Mit dem April setzte ein zeitiger Frühling ein, mit einem fast stürmischen Knospenschwellen; ein brausender Gesang erwachenden Lebens. Wir ließen durch die offene Tür die warme, milde Luft von dem übersonnten Marktplatz in das staubige Büchergewölbe hinein. Nur unser Herr Nutzsche legte seinen Schal nicht ab; wie zwei flatternde Tauben begleiteten ihn die grauen Enden seines dicken Halswärmers, wenn das nervöse Männchen, die geliebte Pudelmütze auf dem Kopf, über den frühlingshellen Marktplatz hastete. Mochte aber Herr Nutzsche dem Frühling noch mißtrauen, ich hatte die Gewißheit, daß er da war, fühlte ihn in meinem Herzen, darinnen ein Flöten und Trillern war: Anna und immer nur Anna. Und endlich hielt ich es nicht länger aus, und vertraute mich Bandler an. Er war durchaus nicht überrascht, meinte, das hätte er längst gemerkt und tröstete mich mit dem Geständnis, daß auch er verliebt sei; freilich war er mit seiner Schönen schon etwas weiter, als ich mit Anna. Gerne hörte ich, daß die beiden Mädchen miteinander befreundet seien, und beschwor Bandler, diesen Umstand für mich auszunutzen und eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Er kam denn auch schon am anderen Tage mit der Nachricht, daß seine Meta sich nicht gesträubt, sondern mit der Lust des Weibes an solchen Kupplergeschäften mit beiden Händen zugegriffen und auch schon einen artigen Plan ausgedacht habe.
Mit dem warmen Frühlingswetter hatte sich eine erste reisende Künstlertruppe in der Stadt eingefunden, ein Zirkus, der, wie es hieß, auf dem Wege nach der bayerischen Grenze sei, wo in einem großen Kirchdorf, dessen Name mir entfallen ist, ein Jahrmarkt abgehalten werde. Unser abgelegenes Städtchen sah selten solche Gäste, und gern strömte alles hinaus, das Schauspiel zu genießen. Hier wollten auch wir uns mit den Mädchen treffen.
Am Sonntag morgen machten wir uns auf den Weg, und fanden draußen bereits ein munteres Treiben in bestem Gange. Das Karussell drehte sich, lachende und kreischende Burschen und Mädchen fuhren im Kreise herum, die Drehorgel quiekte einen frechen Galopp dazu, und vom Zirkus herüber versuchte der Ausrufer mit Geschrei und Lärm diese Musik zu übertönen. Ihm strebten wir zu, denn vor dem Zirkus wollte man sich treffen. Die Mädchen waren auch schon zur Stelle; es waren ihrer drei. Zu unserer Überraschung hatte sich aber auch Herr Kluge, der vierte von uns Tischgenossen, eingefunden.
Der Zufall hatte ihn mit den Damen zusammengeführt, die er bereits zu kennen schien. Wir söhnten uns wohl oder übel mit seiner Gegenwart aus. Bandler hatte begonnen mich förmlich vorzustellen, mit einer Art Tanzstundensteifheit, die ihm in solchen Fällen eigen war, und hatte dadurch meine Verlegenheit erst recht wachgerufen. Sie alle wissen, sagte ich mir, daß du als Liebhaber der Anna hier stehst; sie selbst, ihr befangenes Erröten, sagt es dir. Auch mir stieg das Blut verräterisch in die Wangen. Doch kam mir das resolute Wesen der ältesten der drei Schönen zu Hilfe. Sie reichte frischweg jedem von uns die Hand, worauf auch die anderen ihrem Beispiel folgten, und ich denn auch zuletzt Annas Fingerspitzen lose zwischen den meinen fühlte.
»Kinder, nur nicht förmlich!« rief jene frische Schöne mit einem offenen, heiteren Lachen. »Wir sind doch keine Pensionatsgänse.« Ihr Reden gefiel mir und ihr Äußeres noch mehr. Sie war groß und stattlich, eine blonde Germania, und überragte auch Bandlers schlanke Meta noch um einen halben Kopf. Anna stand klein und zierlich, fast wie ein Kind, daneben, und ich verhehlte mir nicht, daß sie entschieden die am wenigsten hübscheste von den Dreien war. Eine leichte Enttäuschung beschlich mich. War sie es denn?
Aber ich kämpfte sofort dagegen an; sie war es, sollte es sein, und sollte es bleiben.
Wir drängten nun in das Zelt, und alsbald saß ich neben ihr auf einer harten Bank und teilte meine Aufmerksamkeit zwischen ihr und den armseligen Zirkuskünsten, die sich in der kleinen Manege wichtigtuerisch produzierten. Es war das Ärmlichste und das Billigste, was man von solchen Kunststücken sehen konnte. Eine magere Amazone jagte auf einem ebenso mageren, langbeinigen Gaul durch den Zirkus, wobei sie von Zeit zu Zeit aus dem Sattel sprang und sich in vollem Lauf wieder hinauffschwang. Pudel und Affe machten ihre Scherze, und ein schwarzlockiger Knabe zeigte sich mit dem muskulösen Besitzer des Zirkusses zusammen in akrobatischen Vorstellungen. Das alles war ziemlich langweilig, und meine Augen irrten mehr zur Seite ab, wo Anna mit offenem Mündchen solchen armseligen Künsten mit größerem Interesse zu folgen schien. Ihr Gesicht war von Eifer sanft gerötet, was ihr sehr hübsch stand. Ihre großen Augen leuchteten unter langen, weichen Wimpern hervor, und der kleine jetzt offene Mund zeigte soviel Kindlichkeit und Unschuld des Herzens an, daß ich mit ihrem Anblick völlig ausgesöhnt war, die alte Neigung warm und wärmer zurückkehren fühlte, und nun ganz das Glück an ihrer Seite genoß. Ab und an trafen sich unsere Blicke, ohne sich länger als flüchtig zu begrüßen; nur einmal schien der ihre wie suchend in meinem lesen zu wollen, war wie eine Frage, deren Art mir ein leichtes Erröten, ein schnelles Abwenden zu verraten schien.
Ja, ja, ich liebe dich! Fürchte nichts! Ich bleibe dir gut und treu! Das war die Antwort, die still aus meinem Herzen emporstieg, und während meine Hand auf der Bank einen schüchternen Versuch machte, sich der ihrigen zu nähern, erhaschte ich nur ihre Handschuhe, die sie zwischen uns gelegt hatte. Scheu wagte ich, das weiche Leder zu berühren, nahm es leise, wie ein Dieb in die Hand, und preßte es mit einer Inbrunst, als säßen Annas liebe Finger darin. Wie gern hätte ich die Handschuhe an die Lippen geführt!
Aus solchem Begehren und Träumen riß mich das Erscheinen des Zirkusdirektors, der laut aufforderte, es möchte einer aus dem Publikum mit ihm ringen; ein fettes Schwein, das sogleich hereingeführt wurde und den Zirkus mit seinem jämmerlichen Gequieke erfüllte, sollte dem Sieger zufallen. Nach einigem Gelächter und Gerede erhob sich denn auch aus der hintersten Bank eine lange Gestalt und erschien nach einer Weile unten in der Manege. Alles johlte, denn der Mann war ein bekannter Einwohner unseres Städtchens, ein verkommenes, dem Trunke ergebenes Subjekt. Auch jetzt schien er nicht ganz nüchtern zu sein, benahm sich in jeder Weise albern, grölte und prahlte, so daß der bessere Teil des Publikums bald Ärgernis an ihm nahm.
»Gehen wir doch,« sagte ich, entsetzt, daß Annas Augen ein so widerliches Schauspiel geboten werden sollte. Doch Bandler und Kluge wollten abwarten, wie die Komödie enden würde, und so blieben wir denn. Nach einigem Hin- und Herzerren warf der Trunkenbold unter unbeschreiblichem Hallo des Publikums den Zirkusmann. Aber sogleich erhob sich dieser und verkündete, der Besieger habe gegen die Regel verstoßen, dieser Gang gelte nicht. Nach wüstem Geschimpf begann ein abermaliges Ringen, wobei denn der Athlet den armen Schnapsbruder wie ein Bündel Flicken hin- und herwarf, und es alsbald klar wurde, daß das Ganze nur ein abgekartet Spiel war. Als nun der Trunkene noch anfing mit dem Teller herumzugehen, hatten wir genug von solchen Künsten. Die Münzen klapperten nur spärlich auf das irdene Geschirr, und der Sammler zeigte sich höchst mißvergnügt. Ja, als er an uns kam, und wir, indigniert von einem so unwürdigen Schauspiel, nichts geben wollten, öffnete er die Schleusen seiner trunkenen Beredsamkeit gegen uns, indem er uns in einer greulichen Weise heruntermachte. Und da ich mich gerade erhoben hatte, so richteten sich alle Blicke auf mich, und es sah aus, als sei ich allein der Abgekanzelte. Der Unverschämte zeigte dann auch wirklich mit einer frechen Handbewegung auf mich: »Da steht er,« rief er, »das ist er, der feine Herr. Nobel muß die Welt zugrunde gehen! Aber Groschens im Portemonnaie – ist nicht!« Und er machte eine verächtliche Gebärde, die so drastisch ausfiel, daß sie mich dem allgemeinen Gelächter des rohen Publikums preisgab.
Wir waren die ersten, die draußen waren. Einige lachten, andere schalten. Ich war wütend. Einmal empörte es mich, solche Frechheit vor Annas Augen erduldet haben zu müssen, und dann war ich von so reizbarer Empfindlichkeit, daß auch die ungerechtesten Vorwürfe, wenn sie nur ein Quentchen Wahrheit enthielten, mich leicht beschämten. Nun hatte ich mich nicht nur für Anna besonders nobel gemacht, sondern war mir auch bewußt, daß der Inhalt meines Portemonnaies keineswegs mit dieser äußeren Vornehmheit Schritt hielt. Der Unverschämte hatte mich öffentlich als Baron von Habenichts angerufen, und wenn ich ehrlich sein wollte, mußte ich mir gestehen, daß ich eigentlich nichts Besseres sei. Zu solcher Erkenntnis aber an der Seite eines Mädchens zu kommen, das man liebt, dem man sich nähert in der Absicht, ihr zu gefallen, das zu beschenken man alle Schätze Indiens sein eigen nennen möchte, ist kränkend.
In dieser Verfassung stieg ich zu Pferde, das heißt, setzte mich breitbeinig auf ein schokoladenfarbenes Holzroß des Karussells, nachdem Anna hinter mir in dem eiergelben Schlitten Platz genommen hatte. Ich wußte, daß ich das Karussellfahren eigentlich nicht vertragen konnte, aber nach dieser Niederlage im Zirkus wollte ich mich auf jede Weise als Mann und Liebhaber wieder herstellen und wäre um nichts in der Welt zurückgeblieben. Aber schon nach einigen Umdrehungen fühlte ich mich unwohl. Der Ärger, den ich still in mich hineingefressen hatte, mochte ohnehin meine Nerven erregt und meine Willenskraft geschwächt haben; genug, der kalte Schweiß brach mir aus, ich mußte die Augen schließen, und wäre nicht in diesem Augenblick die Fahrt beendet gewesen, so wäre ich unfehlbar vom Pferde gefallen.
Eine solche Niederlage, eine solche Beschämung glaubte ich nicht ertragen zu können, und bestand darauf mich zu verabschieden. Ich eilte heim, packte mich ins Bett, legte mir ein nasses Handtuch auf den Kopf, und starrte tiefunglücklich auf das herabgelassene Rouleau, auf dessen grünem Grund eine etwas verblichene Schäferszene des blamierten Liebhabers zu spotten schien. Dahinter glänzte der goldene Tag, in dessen Licht sich die anderen nun weiter vergnügen würden, von dem ich mir soviel versprochen hatte, und von dessen Mittaghöhe ich nun in diese Nacht des Jammers und der Scham hinabgestürzt war.
Am anderen Tag erzählte mir Bandler von heiteren Stunden, die die kleine Gesellschaft noch am Nachmittag verlebt hatte. Das konnte mich nicht zufriedener stimmen. Zu Hause aber fand ich mittags eine Scherzkarte vor, ein lustiges Verschen, der Handschrift nach von Meta verfaßt. Es wünschte mir baldige Genesung, und alle hatten sich unterzeichnet. Auch Annas Name stand da, zierlich, mädchenhaft. Er war sogar besonders unterstrichen. War das Absicht, oder war es ihr Gewohnheit, diesen dünnen, etwas ausdrucklosen Strich unter ihren Namen zu ziehen, wie andere dem ihrigen einen Schnörkel anhängen? Ich deutete es mir zum Vorteil, las dreimal die ziemlich unbedeutenden, wenn auch lustigen Verse, um nur immer wieder ihren Namenszug betrachten zu können, und war wieder guter Dinge.
*
Ich sann nun, wie ich Anna irgendeine Aufmerksamkeit erweisen könne. Ich gedachte, ihr ein Buch zu schenken mit einer Inschrift. Ich wählte zwischen den wenigen Sachen, die wir im Laden hatten und die in Betracht kommen konnten. Fein und zierlich gebunden sollte das Büchlein sein und so recht für ein junges Mädchen geeignet. Rückerts »Liebesfrühling« schon jetzt zu wählen, war doch zu anzüglich und zu plump; vielleicht später einmal. »Faust« war zu ernst. »Hermann und Dorothea« wohl paßlich, aber der Einband so trist und obendrein nicht mehr ganz tadellos. Aber Goethes Gedichte waren in einer niedlichen Miniaturausgabe vorhanden und sogar in einem roten Einband. Ich zögerte nicht länger, legte den Preis dafür in die Ladenkasse und nahm das Büchlein mit nach Hause, um irgend etwas Schönes und Sinniges hineinzuschreiben.
Ich steckte meine Lampe an und machte es mir an meinem Tisch gemütlich. Sauber, in meiner schönsten Handschrift, schrieb ich Annas Namen auf das erste Blatt und darunter:
»Kleine Blumen, kleine Blätter
Streuen wir mit leichter Hand.«
Weiter nichts. Darunter setzte ich ein G und das Datum dieses Tages. Dieses G mochte sie deuten. Es konnte sowohl Goethe als Gustav heißen. Und ich meinte meine Sache sinnig und schön gemacht zu haben.
Nach dieser kalligraphischen Leistung aber begann ich zu blättern, um mir das, was ich dem geliebten Mädchen soeben zugeeignet hatte, vorher selbst noch einmal zu eigen zu machen. Ich muß gestehen, daß ich damals außer dem »Faust« noch nicht viel von Goethe kannte. Was uns in der Schule von den Gedichten nahe gebracht worden war, war mir freilich sicherer Besitz geblieben, aber das war wenig genug. Nun begab ich, ein Liebender, mich in dieses Wunderreich, und überall blühten mir die herrlichsten Blumen taufrisch wie am ersten Schöpfungsmorgen entgegen. Ich sprang auf, das Buch in der Hand, und lief im Zimmer hin und her. Diese Rhythmen nahmen mich auf ihre Schwingen, ich schwebte, tanzte wie auf Flügeln eines trunkenen Schmetterlinges:
» Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur',
Wie gleißt die Sonn'!
Wie lacht die Flur –
*
O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb' ich dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!«
Ich geriet in ein lautes Deklamieren. War es die Liebe? War es der Genius? Wie mit himmlischen Händen faßte es mich, hob mich herauf aus der Enge meines Zimmers, zog mich hinauf in ein rosiges Gewölk, mit dem ich leicht und selig hinschwebte. Von Vers zu Vers, von Gedicht zu Gedicht drang ich vor. Immer war es mir, als tönte mir aus dem Buch die Stimme meines eigenen Herzens entgegen, als gehörte das alles mir, wäre mein, wäre ein Stück von mir. Ich fühlte mich völlig eins mit dem Dichter, der nur aussprach, was mich tiefinnerst beseelte:
»Dem Schnee, dem Regen,
Dem Wind entgegen.
Im Dampf der Klüfte
Glück ohne Ruh',
Liebe, bist du!«
Ich stürzte ans Fenster, lehnte beide Arme ans Fensterkreuz und sah, dieser Welt entrückt, in den Mond, der mittlerweile groß und glänzend am Himmel heraufgekommen war. Über die stillen Dächer floß sein weißes Licht. Die nahen Parkbäume standen mit verklärten Wipfeln gegen den dunklen Abendhimmel, und nur eine Fledermaus huschte wie ein schwarzer, grilliger Gedanke durch diesen reinen, silbernen Traum.
»Mir ist es, denk' ich nur an dich,
Als in den Mond zu sehen.«
Aber nicht Annas Name löste sich von meinen Lippen, sondern »Goethe!« stammelte ich in tiefer Ergriffenheit. »Goethe!« Und allmählich, während ich mein heißes Gesicht immer der kühlen, unberührten Scheibe des Mondes zugewandt hielt, kam eine wunderbare Ruhe über mich und eine Beseligung wie an dem ersten Abend meines Einzugs. Es war wie ein von allem Irdischen losgelöstes Hinschweben mit seinem Licht, ein geisterhaftes Gleiten durch jene stillen, kühlen Höhen. Es war, als durchriesele das silberne Licht meinen Körper wie ein leiser, kühler Strom. Die ewigen Steine in der Nähe des Mondes blitzten und funkelten von Zeit zu Zeit Heller auf; es war mir wie ein Grüßen von dort. »Ihr! Ihr!« stammelte ich, grüßte zurück, wie zu brüderlichen Wesen. Erst leise, wohltuend, lösten sich die Tränen, dann, heftiger, überstürzten sie sich, und zuletzt brach ich in ein fassungsloses, gegenstandsloses Weinen aus, das meinen ganzen Körper gewaltsam erschütterte.
*
Anna hatte mir mein Buch, das ich ihr durch Bandlers Meta hatte überreichen lassen, wieder zurückgegeben; sie hatte ein kurzes Billett beigelegt, worin sie mir herzlich dankte, aber mir mitteilte, daß sie das hübsche Buch leider nicht annehmen dürfe. »Mit freundlichen Grüßen Ihre Anna Lenz.«
Ich war sehr niedergeschlagen, ja gekränkt. ›Sie durfte das Buch nicht annehmen? Wer hatte es ihr untersagt? Die Eltern? Wäre dem doch so?‹ dachte ich. ›Aber sie braucht es nur als Vorwand; sie selbst weist deine Gabe zurück. Gib dich keiner falschen Hoffnung hin, für dich gibt es keinen Weg zu ihrem Herzen!‹
Doch krampfhaft hielt ich mich an die Unterschrift, an die freundlichen Grüße. Würde sie mir freundliche Grüße senden, wenn sie mich ein für allemal abweisen wollte?
Bandler hob meine gesunkene Hoffnung, indem er mir mitteilte, daß seine Meta und die blonde Germania angeregt hatten, einen Freundschaftsklub junger Leute zu gründen: Ausflüge im Sommer und Tanz und Aufführungen im Winter sollten das Programm sein. Es handle sich nur darum, noch ein paar gleichalterige und gleichgesinnte junge Leute anzuwerben; vorläufig seien Bandler und ich, Fräulein Meta und die Germania und Kluge und Anna als Stamm in Aussicht genommen.
Ehe jedoch dieser Klub zustande kam, wurde ich in einen anderen Kreis eingeführt, der ganz abseits von unserem lauten Treiben eine stille, friedliche Welt umzirkte. Es war ein Zufall, der mich ihres Segens teilhaftig machte.
Eine österreichische Militärkapelle, auf einer Kunstreise durch Deutschland begriffen, tauchte auch in unserem Städtchen auf, wohin sie aus der benachharten herzoglichen Residenz von einem jüngeren unserer Wirte, einem lustigen Pfälzer, eingeladen worden war, um vor seinem Lokal zu konzertieren. Diese kleine Weinstube lag ein wenig abseits in einem Winkel des Marktplatzes, hinter dem vorgeschobenen, runden, untersetzten Turme des alten Rathauses. Es war so recht ein Winkel für eine Weinstube. Der Platz vor dem Hause war groß genug und gewöhnlich leer, da nur die wenigen Liebhaber des spritzigen Pfälzers dort etwas zu suchen hatten. Wir konnten vom Geschäft aus einen Blick auf diesen stillen Marktwinkel werfen, der nun plötzlich, von weißen Uniformen belebt, von den schmetternden Klängen einer lustigen Militärmusik erfüllt, zum Mittelpunkt der Stadt wurde.
Groß war der Gewinn der wackeren Csardasspieler nicht. Nach drei Tagen lag der Marktplatz wieder so still wie immer da, und nur Bandler hörte man noch eine Zeitlang den Radetzkymarsch durch die Zähne pfeifen. Diese Österreicher aber hatten eine Bekanntschaft mit der Pfälzer Weinstube und dem munteren Wirt vermittelt, und wir verkehrten von jetzt ab häufiger dort. Hier hatte auch Prätorius seinen Stammtisch. Behaglich in die Ecke des einzigen, kleinen Sofas gedrückt, ließ er sich seinen Spritzigen schmecken. Er war einer der dankbarsten Zuhörer der Österreicher gewesen, und am Tage nach ihrem Abzug trafen wir ihn in der Weinstube am Klavier sitzen, das sich dort bescheiden in eine Ecke klemmte; mit seinen großen, roten Händen suchte er sich den Radetzkymarsch auf den vergilbten Tasten zusammen. Es wollte nicht so recht gelingen, und Bandler stellte sich zu ihm und pfiff ihm die Melodie vor. Aber das gab nun erst recht eine klägliche Musik, so daß sie beide lachend davon abließen. Da setzte ich mich still an das Instrument und spielte ihnen den Radetzky, so daß sie erstaunt aufhorchten. Natürlich spielte ich ihn nicht zum erstenmal, sondern hatte ihn schon früher in den Fingern gehabt; aber er saß doch noch, und ich freute mich, wie Finger und Gedächtnis mir so gut gehorchten.
Von jetzt ab mußte ich öfters spielen, namentlich Prätorius ließ mir keine Ruhe. Am liebsten hörte er, wenn ich phantasierte, wie er es nannte. Aber es war mehr ein stümperhaftes Aneinanderreihen von Melodien und Melodienbrocken, die mir im Kopfe hängen geblieben waren, als gerade ein Phantasieren; ihm aber genügte es, und auch andere hatten ihren kurzen Spaß daran.
Da trat Prätorius eines Tages ganz verschämt mit einer Bitte an mich heran: er habe gar nicht gewußt, daß ich so fertig Klavier spiele; er selbst wäre auch musikalisch, freilich nur auf der Violine, wie er fast entschuldigend hinzusetzte. Diese aber bedürfe der Begleitung, und schon lange habe er sich nach jemand gesehnt, mit dem er dann und wann ein bißchen musizieren könne. Keiner wolle recht heran, und wenn sie es anfingen, ließen sie es gleich immer wieder liegen. Ihm aber sei darum zu tun, durch regelmäßiges Zusammenspielen seine Fertigkeit zu steigern und auch von Zeit zu Zeit Neues kennen zu lernen.
Ich war gern bereit, Prätorius' Wunsch zu erfüllen. Er war sehr glücklich, und wir verabredeten gleich einen Abend, wann ich zu ihm kommen sollte. »Sie müssen freilich mit bescheidenen Verhältnissen vorlieb nehmen,« sagte er. »Sie wissen, ich bin Junggeselle, und ich habe obendrein eine kranke Schwester zu Hause, die schon seit Jahren ans Bett gefesselt ist. Aber gerade ihr machen Sie durch Ihr Kommen eine große Freude. Sie liebt die Musik so sehr und ist nie glücklicher, als wenn ich spiele.«
»Ein Grund mehr, daß ich gern komme,« antwortete ich.
Daß Prätorius eine kranke Schwester bei sich habe und in brüderlicher Liebe für sie sorge, hatte ich schon früher gehört. Aber wie von guten Taten weniger Aufhebens gemacht wird als von bösen, so beschäftigen uns auch nicht einmal die wenigen, von denen wir erfahren, länger als einen Augenblick, während wir eine schlimme Tat, ja auch nur ein schlimmes Wort, oft jahrelang in unserem Gedächtnis fortleben und uns von der Verderbnis der menschlichen Natur erzählen lassen.
Das bedauerliche junge Wesen, das ganz von der brüderlichen Liebe abhing, völlig gelähmt an das Bett gefesselt war, ertrug ihr schweres Siechtum schon seit ihrem zwölften Jahr. Alle ärztlichen Künste waren vergeblich gewesen. Teure elektrische Kuren hatten ein kleines Vermögen verschlungen, ohne mehr als zeitweilig gesteigerte Hoffnung zu bringen. Schließlich hatte die Ärmste völlig auf Besserung verzichtet und sich mit rührender Ergebung in ihr Schicksal gefunden. Sie war jetzt in ihrem fünfundzwanzigsten Jahr, also nur ein paar Jahre älter als ich. Von Natur nicht häßlich, war sie durch ihr Leiden verschönt und geadelt worden. Sie lag weiß und zart auf ihrem sauberen Bett, das in einer freundlichen Kammer stand. Von dort führte die Tür, die immer offen war, ins Wohnzimmer, so daß die Kranke von ihrem Lager aus auch diesen Nebenraum so ziemlich übersehen konnte. Eine Handarbeit, woran sie mit Schonung ihrer schwachen Nerven von Zeit zu Zeit arbeitete, lag beständig auf ihrer Bettdecke. Auf dem Nachttischchen sah man stets ein kleines Neues Testament, das die Spuren eifrigen Gebrauches zeigte, und ein bequemer, altmodischer Lehnstuhl vor ihrem Bett ließ mich vermuten, daß hier der Bruder oft Platz nahm, der Schwester zu erzählen oder vorzulesen. Das war auch der Fall, wie ich hernach erfuhr, nur waren es nicht die christlichen Evangelien, die sie aus seinem Munde vernahm, sondern die tägliche Nummer des Waldboten. Prätorius war nicht fromm, er hatte irgendwo einen Haß auf die Pfaffen eingesogen und betrachtete das Bibellesen seiner Schwester als eine Schwäche, die man einer Kranken nachsehen müsse.
Die arme Gelähmte empfing mich mit unbefangener, sanfter Freundlichkeit an ihrem Bett, sie scherzte sogar, daß sie so gar keine Umstände machen könne; nicht mal einen Knicks bringe sie zuwege. Ich benahm mich ziemlich ungewandt; sie mochte keinen vorzüglichen Eindruck von meiner Intelligenz empfangen haben und entließ mich bald mit einer freundlichen Handbewegung ins Nebenzimmer: »Sie wollen spielen, bitte, lassen Sie sich nicht stören.«
Im Wohnzimmer stand ein altes Tafelklavier, das mir wenig Vertrauen einflößte; aber es erwies sich als nicht so übel: es war gut erhalten und war für diese kleinen, niedrigen Räume vielleicht gerade das rechte Instrument.
Prätorius holte seine Geige hervor, stimmte umständlich, und schleppte dann einen ganzen Haufen Musikalien herbei. Wir wählten ein einfaches Stück von Mozart, und es ging leidlich. Er glühte schnell vor Eifer, lobte meine Begleitung, so gut hätte er mit noch keinem zusammenspielen können, und wiederholte diese Versicherung laut ins Nebenzimmer hinein. »Es war sehr schön,« erwiderte die sanfte Stimme der Kranken.
Wir spielten dann nacheinander Gounods Meditation zu Bachs Air und Händels berühmtes Largo, und ernteten auch dafür warme Anerkennung aus dem Krankenzimmer.
Prätorius war selig.
»Jeden Abend möcht' ich mit Ihnen spielen,« rief er. »Das ist ja als hätten wir schon immer zusammen musiziert.«
»Ich bin auch überrascht,« sagte die sanfte Stimme von nebenan. »Sie würden meinem Bruder wirklich eine große Freude machen, wenn Sie recht oft mit ihm spielen. Er liebt die Musik so sehr. Ich auch. Machen Sie uns die Freude.«
Ich versprach recht bald wieder zu kommen, und es war mir ernst, denn ich hatte selbst Vergnügen an dem langentbehrten Musizieren gefunden. Aber schon das nächste Mal war das Vergnügen weniger groß. Prätorius hatte offenbar zuerst seine Paradestücke vorgeführt, und entpuppte sich immer mehr als recht kläglicher Musikant. Immer häufiger bat mich die Schwester, doch einmal ein Solo auf dem Klavier zum Besten zu geben, das höre sie so sehr selten, und ich kam zuletzt eigentlich nur noch der Kranken wegen.
Eines Abends war ich etwas zu früh gekommen, oder Prätorius hatte sich verspätet; genug, die Kranke lud mich an ihr Bett und bat mich, dieweil ein wenig mit ihr zu plaudern. Nach einigen gleichgültigen Bemerkungen kamen wir natürlich bald auf die Musik zu sprechen, und da gestand sie mir denn, daß sie das Opfer, das ich dem Bruder bringe, wohl zu schätzen wisse. »Es hat ja noch keiner bei uns ausgehalten, und ich kann es den Herren nicht verdenken, er ist nun einmal so sehr viel mehr Liebhaber als Könner. Aber es ist sein einziges Glück und seine einzige Freude, und nebenbei, was noch die Hauptsache ist, bildet er sich ein, auch mir eine Freude damit zu machen. Nun ja, ich freue mich, wenn er dabei ist.«
Sie schwieg einen Augenblick, als besänne sie sich, ob sie noch Weiteres verlauten lassen solle, und fuhr dann lebhaft und heiter fort: »Wie anders ist es, wenn Sie spielen. Das ist Musik! O, Sie ahnen nicht, wie wunderschön das ist, wenn ich hier so still liege und lauschen kann.«
Sie streckte mir ihre schmale weiße Hand entgegen, und ich drückte sie zum erstenmal wärmer.
»Aber sagen Sie ihm nicht, wie ich über sein Spiel denke. Darum bitte ich Sie. Es würde ihn ganz unglücklich machen. Er weiß nicht anders, als daß ich ihm gern zuhöre, und so muß es bleiben.«
Ich versprach es, und als Prätorius erschien, und wir dann vor unseren Instrumenten saßen, gab ich mir besondere Mühe, mich seiner Eigenart anzupassen, und ein leidliches Zusammenspiel herzustellen.
»Meine Schwester hat einen Narren an Ihnen gefressen,« sagte er mir anderen Tages. »Sie können ihr keinen größeren Gefallen tun, als wenn Sie recht oft zu uns kommen.«
»Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit,« sagte ich. »Es ist rührend, soviel Friede und Sanftmut und Heiterkeit –«
»Ja, ja, das arme Ding –« unterbrach er mich.
Eines Sonntagvormittags brachte ich ihr ein paar Blumen ans Bett. Es war zufällig ihr Geburtstag. Ein großer Kuchen stand auf dem Tisch des Wohnzimmers, und aus der Kammer der Kranken schlug mir die helle Stimme eines Kanarienvogels entgegen.
»Ein Geschenk Alwins. Hören Sie nur, wie lieb er singt,« sagte sie.
Der Bruder, der hinter mir die Treppe heraufgestiegen war, trat ein, zwei große Tüten mit Obst auf dem Arm, und war überrascht, mich hier zu sehen.
»Ein erster Gratulant,« sagt« die Kranke.
»Woher wußten Sie denn das?« fragte Prätorius verwundert.
»Nun, man hört auch wohl einmal die Glocken läuten,« antwortete ich. Aber es kam doch heraus, daß ich nicht als Glückwünschender angetreten war, sondern aus freiem Antrieb meine Blumen an das Krankenbett hatte tragen wollen. Seit diesem Tage ging ich als guter Freund in diesem Geschwisterheim ein und aus.
*
Meine Liebe zu Anna nahm daneben einen wunderlichen Fortgang. Der Klub war gegründet worden, wir sahen uns infolgedessen häufiger, vorläufig auf Spaziergängen in die reizende Umgebung, wo wir in idyllisch gelegenen Dörfern oder auf romantischen Waldplätzen fröhlichste Rast machten. Dabei lernte ich Anna immer mehr als ein gutherziges Gänschen kennen, das zu lieben mir keineswegs Unehre mache, mir aber auch nicht zu besonderem Ruhm gereiche; so liebe gute Dinger liefen zu Hunderten herum.
Ich ließ mir aber um so leichter an Anna genügen, als meine höheren Bedürfnisse im Umgang mit der kranken und um sechs Jahre älteren Martha ihre volle Befriedigung fanden. Dazu kam, daß ich fortfuhr, mich auch durch ein immer weiteres Einlesen in Goethe in einen goldenen Schleier zu hüllen, durch den ich alles in einem schöneren Glanze sah.
»Kleine Blumen, kleine Blätter«
könnte als Motto über diesem Lebensabschnitt stehen; Geist, Gefühl, Ton, Rhythmus dieser entzückenden Verse beherrschten diese Tage, »Werther« gab einen schwärmerischen Einschlag und »Hermann und Dorothea« wurde Anlaß, Anna und mich an die Stelle dieses unsterblichen Liebespaares zu denken, und darauf zu sinnen, wie ähnliche Situationen zwischen uns herbeizuführen wären.
Schon länger glaubte ich Anzeichen zu haben, daß Kluge gleichfalls ein Auge auf Anna geworfen hatte, und daß sie ihm nicht abweisender als mir entgegenkam. Er war durchaus ein Rivale, den man bei einer solchen Einfalt und Unschuld zu fürchten hatte; hübsch, frisch, munter, mit blanken Augen, vor Gesundheit strotzend, konnte er meinem Gänschen wohl gefährlich werden.
Mit den Augen des Eifersüchtigen begann ich ihn zu beobachten. Ich glaubte in seinen Blicken bald einen versteckten Spott zu lesen, bald ein gutmütiges Mitleid, das mich noch mehr kränkte. Ich fand, daß er auffallend viel von Anna sprach, und haßte ihn, als er mir eines Tages lächelnd erzählte, daß er schon seit geraumer Zeit mit Annas Vater einen Abend in der Woche Skat spiele.
›Also so weit bist du schon, daß du dich hinter den Vater steckst,‹ erboste ich mich gegen ihn. ›Versuche nur dein Glück! Am Spieltisch wirst du die Braut nicht gewinnen.‹
Auf welche Weise ich sie aber gewinnen wollte, war mir nicht klar. Daß ich keineswegs in der Lage war, schon ein Wesen für das Leben an mich zu fesseln, daß ein Brautstand auch einen Hausstand nach sich ziehen wolle, das blieb ganz außerhalb meiner Betrachtungen und Gedanken. Ich betrug mich wie ein Primaner, ja noch weit törichter; denn jener pflegt doch romantische Luftschlösser zu bauen, in die er sich mit seiner Schönen wohnlich einzurichten gedenkt, ich aber lebte nur dem Tag, der Stunde, in einem dumpfen, eigensinnigen Kreisen um das Mägdlein Anna.