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IV

Es war, als ob das Schicksal nun sein Mütchen an uns gekühlt hätte, denn es folgte eine lange Zeit ungestörten Schaffens und langsamen Aufstieges auf der Staffel des Erfolges für mich und damit auch ein wenig Sonnenschein für die Mutter.

Der Professor schenkte meinen Fähigkeiten Vertrauen und erlaubte mir, ihn für kleine populäre Aufführungen als Musikreferent zu vertreten. Er zahlte mir jedesmal fünf Mark, und da es häufig genug vorkam, konnte ich mit dieser Bereicherung meiner Börse wohl zufrieden sein. Es handelte sich freilich meistens um ganz untergeordnete Veranstaltungen, die einer Kritik nicht wert waren, aber doch auf Grund ihrer Annoncen einen kurzen Bericht beanspruchten und auch aus geschäftlichen Rücksichten ein solches Mindestmaß von Beachtung zugestanden erhielten. Da saß ich denn nach getaner, anstrengender Arbeit oft noch in später Abendstunde in irgendeinem Saal und ließ irgendeine Musik über mich ergehen.

Beliebt waren damals Zitherkonzerte, und es spielten oft acht, zehn oder mehr Zithern ein anspruchsvolles Programm herunter. Man denke sich ein Adagio von Beethoven, Webers »Aufforderung zum Tanz« oder Wagners Tannhäusermarsch von zehn Zithern vorgetragen! Schlimmer war es, wenn ein kleines Orchester ein Konzert mit nachfolgendem Ball gab. Da saß ich denn manchmal in einem schlecht erleuchteten und schlecht geheizten Saal, dessen Bänke von kaum einem Dutzend Personen besetzt waren, und hörte unter innigstem Mitleid mit den armen Musikanten ihrem Streichen und Blasen ergeben zu, während sich das Publikum langsam um einige tanzlustige Paare vermehrte; junge Leute der niederen Stände und Mädchen mit dünnen weißen Tanzfahnen, deren Anblick mich in dem kalten Saal noch mehr frösteln machte. Hin und wieder hatte ich aber auch den Professor bei künstlerischen Veranstaltungen zu vertreten, wenn einmal in der Hochsaison sich zuviel auf einen Tag häufte oder Unpäßlichkeit ihn verhinderte. Da saß ich dann mit gespitzten Ohren und dem Hochgefühl eines kritischen Merkers und freute mich auf die schönen Perioden, die ich zu Hause bauen wollte. Oft mußten die schönen Perioden für den Mangel an Inhalt entschädigen, denn kam es wirklich darauf an, etwas zu sagen, so fühlte ich mit großer Beschämung meine Unzulänglichkeit und wagte mich weder mit Lob noch Tadel ordentlich heraus. Das war vielleicht mein größtes Verdienst und meine Rechtfertigung; denn eigentlich war es ein Unfug, daß ich Lernender zu Gericht sitzen sollte über ausgereifte oder mir doch wenigstens überlegene Künstler. Würden doch alle Kunstreporter des Tages sich mit einfachen Berichten begnügen, aber da sticht sie der Hafer, und sie fangen an zu kritisieren, und da man es ihnen nicht verweist und ihren größten Unsinn durchgehen läßt, fassen sie Mut, und die Sache wird oft gar arg und gefährlich.

Lernte ich auch bei dieser untergeordneten Tätigkeit mancherlei, so übte ich sie doch nur der Not gehorchend aus und hätte lieber meine ganze Zeit meinem eigentlichen Studium gewidmet, das mich jetzt scharf herannahm.

Da ich mit einiger Leichtigkeit in die Theorie meiner Kunst eindrang, wuchs die Freude daran mit dem Erreichten, und ich sah mich, woran ich vorher kaum zu denken gewagt hatte, mit einmal als Komponisten. Als Frucht meiner Bachstudien am Klavier war eine Reihe von Präludien, zwei- und dreistimmige Inventionen im strengen Stil, entstanden, die das Lob meines Professors erhielten und mit seiner Genehmigung und durch seine Vermittlung bei einem ihm befreundeten Musikverleger als Opus 1 erschienen. Was sich darin aussprach, war freilich nichts als der Fleiß eines strebsamen Schülers, der in einer korrekten, fehlerlosen Arbeit nachweisen konnte, daß er seine Zeit gut angewandt hatte. Dennoch war ich nicht wenig stolz, als die ersten gestochenen Exemplare meines Opusculums vor mir lagen, schön verziert mit der Widmung: »An meinen Lehrer.« Auf dessen Rat brachte ich zweien der angesehensten Kritiker persönlich ein Exemplar und fand namentlich bei dem einen, es war Ludwig Meinardus, eine liebenswürdige Aufnahme; er brachte auch nachher in seinem Blatte eine freundliche, aufmunternde Kritik, die freilich betonte, daß die kleinen Sachen so sehr »Bachisch« seien, daß man daraus auf eine schöpferische Begabung des jungen Komponisten noch nicht schließen könne.

Das spornte mich an, mich in freiem Stil auf eine eigene Weise zu versuchen, und ich schrieb kleine, kurze Klavierstücke, zu welchen ich mir die Themen auf dem Klavier zusammenphantasierte. Einige Korrekturen des Professors brachten auch sie zur Druckreife, und bald folgte dem Opus 1 ein Opus 2 unter dem Titel »Bagatellen für Klavier«.

Weniger wollte es mir mit Liedern gelingen; am leidlichsten glückten mir die vierstimmigen, bei denen die schwerere Satzweise mich zu strengerem Arbeiten zwang und dem Verstande manches gelang. Was mir fehlte, war eben die Hauptsache: melodische Einfälle. Es wollte in mir nicht singen, und was ich hervorbrachte, war gemacht, erklügelt.

Bei solchen Arbeiten war die Zeit schnell genug vergangen, und ich sah mich wieder um zwei Jahre älter. Ich war in mein drittes Jahrzehnt eingetreten und durfte wohl fragen, was ich denn nun erreicht hätte und wo ich im Leben stände. Verglich ich mich mit anderen gleichalterigen jungen Leuten, so meinte ich mich schämen zu müssen. Denn immer noch lebte ich von der Hand in den Mund, ohne Aussicht auf wesentliche Besserung meiner Verhältnisse. Ich mußte mir sagen, daß ich einmal mit der Jugend und der Lehrzeit abzuschließen habe, und da die Mutter aus ökonomischen Gründen eifrig zuredete, so nahm ich mir vor, mit Ende des Jahres die Stunden bei meinem Lehrer aufzugeben. So vor dem Abschluß meiner Studien stehend, raffte ich mich noch einmal gehörig zusammen und gönnte mir kaum eine andere Erholung als den Umgang mit Georg.

Soviel angewandte Energie mußte aber einmal zur Erschöpfung führen. Es stellten sich nervöse Erscheinungen ein, die ich anfangs mit eisernem Willen zu unterdrücken versuchte, die aber nicht weichen wollten. Es war eine Art Platzangst, die mich in engen Straßen überfiel, so daß ich sie nur passieren konnte, indem ich mich dicht an den Häusern wie ein Trunkener hintastete; ich mußte sie schließlich ganz meiden und mich zu Umwegen bequemen.

Als der Sommer kam, drangen daher die Mutter wie auch Georg darauf, daß ich die großen Ferien zu einem Erholungsaufenthalt an der See benutze, und zwar ohne die Mutter, um ganz mir und meinem Ruhebedürfnis leben zu können. Georg empfahl mir, es einmal mit Borby zu versuchen, wo Gelegenheit sei, mich an einen ihm bekannten Hotelwirt auf das beste zu empfehlen. Ich ließ mich bestimmen und packte, als die Zeit da war, meinen Koffer.

Überall an der Küste entwickelten sich neue Bäder jedes Fischerdorf nahm Gäste auf und rückte nach kurzer Zeit zum Range eines Bades auf; da mußten denn ältere Bäder, die nichts Bedeutendes in die Wagschale zu werfen hatten, einigen Nachteil verspüren.

Ich fand in Borby das Hotel, das man mir vorgeschlagen hatte, völlig leer, und in dem anderen, unmittelbar daneben gelegenen höchstens sieben oder acht Gäste, und es schien keine Aussicht, daß in diesem Jahr für die Wirte an ein Geschäft zu denken sei.

So bedauerlich das war, so war ich's doch keineswegs unzufrieden; ich wurde als einziger Gast mit größter Aufmerksamkeit bedient und hatte die Annehmlichkeit eines ruhigen Wohnens. Auch die freundliche Promenade, die sich längs der Bucht hinzog, war eigentlich nur Sonntags, wenn die Eckernförder hinauskamen, belebt, an anderen Tagen konnten die wenigen Badegäste sich zu jeder Tagesstunde dort ungestört ergehen oder auf den schattigen Bänken der Ruhe genießen. Man hatte einen schönen Überblick über die große Bucht, die den Eindruck eines völlig geschlossenen Landsees machte. Rechts lagerte sich Eckernförde mit seinen kleinen, roten Ziegeldächern hart ans Ufer, drüben zogen sich die schönsten dunklen Waldungen hin, die ernst herübergrüßten und zum Besuch ihrer stillen Heimlichkeit einluden. Für Ruder- und Segelboote war reichlich gesorgt, kleinere Seeschiffe kamen bis an die Stadt heran. Stets hatte ich von der Terrasse meines Hotels aus ein hübsches Wasserbild vor mir, das trotz seines idyllischen Rahmens doch die Nähe der großen See ahnen ließ, auch wenn nicht der eigentümliche Geruch der am Ufer faulenden Algen sich oft recht kräftig bemerkbar gemacht hätte.

Meine Tage verliefen ziemlich gleichmäßig; nach dem Morgenkaffee, den ich auf der von großen Linden überschatteten Hotelterrasse einnahm, schlenderte ich am Ufer hin bis zu einem Punkt, wo es sich zur ansehnlichen Höhe über den Wasserspiegel erhob. Durch ein Wäldchen von Buchen- und Birkengestrüpp schlängelte sich ein schmaler Steig nach oben, wo im Schatten dichteren Buschwerks eine Bank stand, von der aus man durch ein grünes Guckloch die ganze Bucht übersehen konnte und doch heimlich und geborgen saß. Unmittelbar hinter der Bank erhob sich eine Hürde, die eine hochgelegene Kuhkoppel einschloß, von der her das rupfende Geräusch grasender Rinder kam und den Frieden dieser Abgeschlossenheit mehr erhöhte als störte.

Georg hatte mir aus seiner Bibliothek einige Bücher mitgegeben, wovon mir vor allem zwei Bände Gottfried Kellers willkommen waren; ich kannte noch wenig von ihm und war höchst begierig, mir diesen hochgeschätzten Dichtersmann nach und nach ganz zu eigen zu machen.

Ich hatte zuerst nach dem Sinngedicht gegriffen und freute mich an Herrn Reinhardts Bemühungen, Logaus reizendes Rezept zu erproben:

»Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen?
Küß eine weiße Galathee; sie wird errötend lachen.«

So saß ich nun an jedem Morgen in meiner grünen und kühlen Geborgenheit und las mit heiterer Andacht. Weisheit und Humor des Dichters, seine reiche und reine Phantasie, die männliche Anmut seines Stils entzückten mich aufs höchste, und ich war Georg dankbar, daß er mir gerade dieses Buch aufgenötigt hatte.

Einmal, als ich so saß und las, brach eins der vierbeinigen Weidegeschöpfe durch die Hürde und wollte sich auf keine Weise wieder verjagen lassen. Es war eine schöne, hellfarbige Kuh und mochte unter ihresgleichen wohl für eine Galathee gelten. Ich aber wußte mit einer solchen Schönen nichts anzufangen, und da sie durchaus sich nicht abweisen lassen wollte, schlug ich ihr mit dem Buch kräftig auf die rosige Schnauze, worauf sie dann entsetzt seitwärts durch die Büsche brach und sich abwärts nach dem Strande zu verlor. Ich aber vertiefte mich weiter in die reizendste Lektüre und folgte Don Correa nach der Westküste von Afrika, zur Fürstin von Angola; ich wunderte mich mit ihm über den lebenden Feldstuhl der braunen Königin und betrachtete das schöne Bildwerk, die als Geschenk zurückgelassene kniende Sklavin, nicht ohne Neid auf den glücklichen Admiral, der eine so holde, wenn auch braune Menschenblüte schließlich nach vielen Prüfungen in seine Arme schließen durfte.

Was Wunder, daß ich mich manchmal an die Stelle des Herrn Reinhardt zu versetzen den Wunsch verspürte und nun auch meine Augen auf die Suche nach weißen Lilien ausschickte.

Im Nachbarhotel logierten einige junge Damen; ich hatte sie an verschiedenen Abenden sich im Saal beim Tanzen vergnügen sehen, war auch einmal in der offenen Tür stehen geblieben und hatte ihnen länger zugeschaut. Sie konnten nun bis auf eine kaum Anspruch machen, für weiße Lilien zu gelten, und auch jene eine war eine so ausgesprochene Brünette, daß sie eher für eine Rose anzusprechen war; nur ihr Wuchs war lilienschlank und von biegsamer Anmut. Zu ihr nun schweiften meine Gedanken manchmal über das aufgeschlagene Buch hinweg. Ich hatte sie freilich nur zweimal im Saal gesehen und vergeblich auf der Promenade nach ihr ausgeschaut. Vielleicht war sie eine Eckernförderin, die nur einmal auf einige Abendstunden nach Borby hinausspazierte, oder sie mußte sich auf einsamen, mir unbekannten Wegen verborgen zu halten.

In den Ballsaal vorzudringen war ich zu ungewandt und schüchtern; da ich des Tanzens nicht oder doch nur sehr wenig kundig war, hätte ich mich nicht ohne Beschämung unter die fröhlichen Paare der Walzenden mischen können, und so wußte ich keinen Weg, mich ihr zu nähern. Einmal traf ich sie in einer späten Dämmerstunde mit zwei Freundinnen auf der Promenade, aber sie schickte ihre Augen auf das dunkle Wasser hinaus, und ich sah nur ein schönes Profil, das sich ernst und abweisend von mir wegwandte. Und dann sah ich sie fast zwei Wochen lang nicht wieder, erfuhr aber inzwischen von der Existenz einer anderen Galathee, deren Weiße auch Herrn Reinhardt zu seinem Experiment verlockt haben würde.

Ich hatte am Strande die Bekanntschaft eines jungen Fabrikarbeiters gemacht. Er besaß ein eignes Segelboot, das er an Badegäste vermietete, aber sehr oft auch ohne solche auf die Bucht hinausführte. Bei einer Reparatur seines Segels beschäftigt, wobei ich ihm zusah, redete er mich an, indem er eine Bemerkung über das Wetter machte. So wurden wir miteinander bekannt, und er lud mich ein, eine Fahrt mit seinem Boot zu machen. Ich sagte ihm, daß ich mich weder auf das Rudern noch auf das Segeln verstände, und er meinte, er wolle mir das Alleinsegeln auf dem unbekannten Wasser auch gar nicht raten, wenn ich aber mit ihm kommen wolle, wäre ich freundlichst eingeladen.

Nicht ohne Bedenken stieg ich zu ihm ins Boot, aber er erwies sich als ein so vorzüglicher Segler, daß ich ihm bald jedes Vertrauen schenkte und mir für jeden Tag eine Segelfahrt sicherte, wofür eine billige Entschädigung unter uns vereinbart wurde. Bald lernte ich, von Georg schon ein wenig vorgebildet, das Steuer handhaben; das weiße Segel blähte sich vor uns im frischen Wind, die blauen Wogen glitten unter uns weg, und Tag für Tag genoß ich das glückliche Gefühl freien und sicheren Schwebens über Tod und Tiefe, während das Leben in allen Pulsen sang und jubilierte.

Mein Bootsmann bewohnte ein kleines Haus an der Landstraße, die oberhalb Borbys hinlief und zu der ein paar steile Straßen und Treppenwege am Strande hinführten. Das Häuschen lag etwas versteckt hinter krummen Obstbäumen in einem kleinen Garten. Ein Steg führte über den Chausseegraben nach der kleinen weißen Pforte, die, als ich das erstemal vorüberging, offen stand und mir einen ungehinderten Einblick gewährte. Das Gärtchen, meistens Gemüsekultur, war sauber gehalten; ein paar Blumen leuchteten auf schmalen Rabatten, und in der Nähe des Hauses spielten ein paar Kinder, ein Knabe und ein Mädchen von drei und vier Jahren, blonde Krausköpfe mit frischen Gesichtern. Gerade als ich hinblickte, kam eine Frau aus dem Hause und beugte sich zu den Kindern hinab und gab jedem einen Apfel, in den sie sogleich herzhaft hineinbissen. Dabei leuchtete mir das Haar der Mutter wie eine Sonne entgegen. Es war ein so seltenes Rot, daß ich unwillkürlich stehen blieb.

Ich konnte auch nachher nicht wieder davon loskommen, immer flammte dieses Rot vor mir auf. Wenn ich aufs Wasser hinaussah, lag es plötzlich wie eine schaukelnde Rose auf den Wellen, wenn ich las, schob es sich zwischen Auge und Buch und blendete mich, und unter den roten Flammen leuchtete eine blütenweiße Stirn auf. Noch unter dem Bann von Kellers Sinngedicht, fühlte ich mehr als einmal die Versuchung, an dem Hause vorüber zu gehen, um nach der Bewohnerin auszuspähen.

Dennoch wäre es wohl zu einem allmählichen Erlöschen des roten Feuers gekommen, wenn nicht der rechtmäßige Besitzer dieser weißen Galathee selbst die Glut neu heraufbeschworen hätte.

Er rief mir eines Tages im Vorübergehen zur Terrasse hinauf, wo ich gerade meinen Nachmittagskaffee trank, er habe nach Feierabend noch schnell einen Auftrag in der Stadt auszurichten, vielleicht ginge ich selbst zu seiner Frau und bäte mir den Bootsschlüssel aus, so würden wir keine Zeit verlieren.

Da war also eine unauffällige Gelegenheit, das rote Haar wieder zu sehen.

Es war ganz still um das Haus herum, als ich eine Stunde später über den Gartensteg in die offene Pforte trat, und ich hätte gewünscht, wieder die Kinder vor der Tür spielend anzutreffen. Aber ich wußte schon von ihm, daß sie auf acht Tage bei der Großmutter in Möltenort bei Kiel seien. Die Levkojen auf den Rabatten dufteten stark und süß, und eine große Hummel flog immer vor mir auf, von Blume zu Blume, bis sie auf der letzten zurückblieb und mich allein in das Haus eintreten ließ.

Hier kam mir die Frau, die mich durch das Fenster von dem Steg hatte heraufkommen sehen, entgegen und fragte nur mit ein paar überraschten Augen nach dem Anlaß meines Besuches. Als ich gesagt hatte, um was es sich handelte, nötigte sie mich ins Zimmer und bat mich, Platz zu nehmen, obgleich der Schlüssel unmittelbar neben der Tür am Pfosten hing. Aber sie war verlegen und glaubte wohl, mich nicht so kurz abfertigen zu dürfen. Dabei sah es allerliebst aus, wie der rote Schimmer der Haare sich über ihr weißes Gesicht fortzupflanzen schien.

Ich sah jetzt erst, wie hübsch sie war. Sie war von Mittelgröße, schlank, mit runden, weichen Gliedern; die bloßen Arme waren ein wenig gebräunter als das Gesicht, das sie vielleicht gegen die Sonne zu schützen gewohnt war. Immer wieder aber mußte ich auf ihr Haar sehen. Es war ein feuriges Gold, und man erwartete fast ein Knistern zu hören; voll und leicht gekräuselt, war es hinten zu einem goldenen Knoten verschlungen, der von einem Netz gehalten wurde. Sie bemerkte, daß ich ihr Haar betrachtete und errötete noch tiefer, lächelte dabei aber halb geschmeichelt, halb wie ein verlegenes Kind.

»Was haben Sie für famoses Haar!« platzte ich plump heraus.

»Gefällt es Ihnen?« fragte sie.

Sie hatte mir inzwischen den Schlüssel eingehändigt, den sie schon eine Weile in der Hand gehalten hatte; er war warm von der Wärme ihres Blutes. Sie stand dicht vor mir, und unsere Augen fanden sich in gleicher Höhe. Welch ein feuchtes, tiefes Blau schillerte unter ihren weißen, am Rande ganz zart geröteten Lidern. Ihre Nase war schmalrückig, mit feinen, nervösen Flügeln, der Mund rot und frisch, und das runde, feste Kinn ein wenig vorgeschoben, wie man es oft bei energischen Leuten findet. Das alles erhaschte ich gleichsam im Fluge mit den Augen, während sich das Ohr an ihrer vollen, aber etwas verschleierten Stimme vergnügte.

Mein Bootsmann erwartete mich schon am Steg, als ich mit dem Schlüssel ankam, die Gedanken noch vollauf mit seiner hübschen Frau beschäftigt. Ich stieg zu ihm ins Boot, und während wir uns laut und lachend unterhielten, dachte ich immer wieder: ›Wie kommt dieser Mann zu dieser Frau?‹ Wie häßlich war er doch. Ein grauer, unreiner Teint, die kleinen Augen von unbestimmter Farbe, die schwarzen Haare dünn und spießend, ebenso der Bart unter der etwas schiefen, knorpeligen Nase. Lachte er, sah man, daß ihm oben zwei Zähne fehlten, und er lachte sehr viel.

Auf einmal tat er mir leid. Er war ein anständiger Kerl, und ich schämte mich vor ihm. Er war auch in seiner Art ganz gebildet, wußte in kommunalen Angelegenheiten gut Bescheid und urteilte verständig und maßvoll.

Warum sollte diese Frau zu gut für ihn sein? Weil sie hübsch war? Vielleicht fanden andere sie gar nicht einmal hübsch, fanden ihre roten Haare häßlich; vielleicht wußte er selbst gar nicht, daß sie hübsch war.

Ich steuerte diesmal wiederholt falsch und er meinte verwundert: »Nun, was haben Sie denn heute?«

»Weiß der Kuckuck,« sagte ich, »bin ich denn närrisch?«

»Nur immer aufpassen, es kann auch mal ein Unglück geben.«

Ich nahm mich zusammen, aber er behielt doch immer ein wachsames Auge auf mich und beendete die Fahrt früher als sonst.

›Möchte er mich doch wieder nach dem Schlüssel schicken,‹ dachte ich am anderen Abend, wiegte mich aber vergebens in solcher Hoffnung. Dafür ging ich jetzt täglich die Landstraße hinauf hart an ihrem Häuschen vorbei, immer lugend, ob ich nicht etwas von ihr erwischen könnte. Einmal hörte ich ihre Stimme, einmal sah ich ihren blauen Rock um das Haus verschwinden.

Ich hatte seit Anna nach keinem Mädchen gesehen; die Arbeit hatte mich ganz in Beschlag genommen, und Georgs Weiberfeindschaft hatte das ihrige getan. Jetzt meldete sich, was so lange geschwiegen hatte.

»Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen?
Küß eine weiße Galathee; sie wird errötend lachen.«

Sollte ich nicht dasselbe Recht haben, dieses Rezept auf seine Richtigkeit zu erproben, wie Herr Reinhardt?

*

Als ich eines Morgens wieder vor ihrem Hause spazieren ging, kam mir ein guter Gedanke. Ich wollte hineingehen und ihr sagen, sie möchte ihrem Mann bestellen, daß ich am Abend nicht segeln würde. Das war gewiß unauffällig.

Ich machte sofort entschlossen kehrt, ging über den Steg in den Garten und suchte schon mit den Blicken, ob ich sie wo entdecken könnte. Auf dem Hausflur war alles still. Ich klopfte an eine Stubentür, aber niemand rief herein. Ich öffnete und sah, daß niemand da war. So ging ich weiter durchs Haus, entschlossen, ans Ziel zu kommen. Endlich fand ich sie in der Küche. Sie stand mit dem Rücken gegen den Herd und sah träumend vor sich hin.

Als sie mich gewahrte, schrak sie heftig zusammen und eine Blutwelle überfloß sie; dabei öffnete sie den Mund wie zum Sprechen, blieb aber stumm, während ihre großen, blauen Augen mich wie aus einer anderen Welt anstarrten.

»Hab' ich Sie erschreckt?« fragte ich, und meine Stimme zitterte. Sie legte die linke Hand aufs Herz und atmete einmal tief.

»Ja, ja,« sagte sie, »wie hab' ich mich erschrocken.«

»Ich habe doch ›Guten Tag!‹ gerufen und angeklopft und habe in die Stube hineingeguckt –«

»Ich habe Sie nicht gehört,« unterbrach sie mich. »Mein Mann ist nicht zu Hause.«

»Das weiß ich ja. Ich wollte auch nur bitten, daß Sie ihm sagen, daß ich heute abend nicht segeln würde.«

»Nicht?« sagte sie. »Es ist wohl zu windig heute?«

»Windig?« rief ich. »Es ist fast windstill draußen.«

»Ja, es ist auch wohl kein Wind,« meinte sie dann. »Er kann ja aber noch kommen.«

Sie war ein paar Schritte näher getreten und wickelte mechanisch die Schürze um ihre bloßen Arme. Es sah aus, als fröre sie.

»Es ist sehr heiß heute,« sagte ich und fühlte, wie mir der Gaumen trocken war und die Zunge klebte.

»Ich bringe Ihnen ein Glas Milch,« sagte sie rasch, wie erlöst.

»Wasser genügt,« antwortete ich.

»Nein, ich habe frische Milch, und ganz kühl –«

Sie ging in die Kammer und kam mit einem Topf Milch zurück.

»Wollen Sie nicht in die Stube gehen?« lud sie ein.

»Danke, danke, ich trinke gleich hier,« wehrte ich ab.

Ihre Hand zitterte, als sie mir die Milch reichte, und die meine war beim Nehmen nicht ruhiger.

Ich leerte hastig das Glas und dachte: ›Wie dumm, hättest du es doch langsamer getrunken.‹

Sie wollte mir noch einmal einschenken, und ich ließ es geschehen.

Während ich wieder trank, diesmal schluckweise, sagte sie: »Sie gehen jetzt wohl öfter spazieren? Ich sehe sie immer hier vorbeigehen.«

Ich sah auf und sah, wie ihr Blick zur Seite irrte. Sie hatte mich also gesehen, hatte mich beobachtet? Vielleicht hatte sie gar auf mich gewartet.

»Ja,« erwiderte ich, »haben Sie mich gesehen?«

Ich gab ihr das leere Glas zurück und unsere Hände berührten sich.

»Ich muß immer Ihre Haare bewundern,« sagte ich. »Ich habe immer an Ihre Haare gedacht, alle Tage. Wie kann man nur solche Haare haben?«

»Nicht wahr, sie sind gar zu rot?«

»Herrlich sind sie! Ganz herrlich!« rief ich, griff nach ihrer Hand und zog sie ins hellere Licht.

»Wie das flammt und leuchtet, der reine Feuerwald! Ist Ihr Mann nicht auch ganz entzückt von Ihren Haaren?«

»Ach der!« sagte sie leichthin, »der nimmt mich schon, wie ich bin!«

Wir standen in der offenen Tür, die seitwärts nach dem Garten hinausführte; ein paar Hühner scharrten auf dem Weg, und eine fremde Katze saß auf dem Zaun und sah ihnen mit grünschillernden Augen zu.

»Kusch!« rief sie und hob den Arm. Die Hühner flatterten auseinander, und die Katze verschwand mit einem Satz.

»Eben knisterte Ihr Haar ordentlich,« sagte ich und fuhr keck, wenn auch leicht, mit der flachen Hand über die Spitzen ihrer roten Haare.

Sie hielt ganz still und fühlte mit der eigenen Hand noch einmal nach.

Plötzlich aber wandte sie sich um.

»Der Kessel kocht über!« rief sie und eilte in die Küche zurück. Ich folgte ihr jedoch und sah sie ratlos am Herd stehen.

»Es ist nichts, ich verhörte mich,« sagte sie.

Ich drohte ihr mit dem Finger, und sie lächelte.

Da sah ich auf einmal, daß ich gewonnenes Spiel hatte.

»Warte du!« rief ich und trat einen Schritt auf sie zu. Sie hob die Arme wie zur Abwehr, duldete aber, daß ich sie bei beiden Handgelenken faßte und ihr heiß in die Augen sah.

»Lassen Sie mich,« sagte sie leise, wandte aber dann den Kopf wie mutlos beiseite. Da riß ich sie an mich.

»So lass' ich dich, so, und so!« rief ich und küßte sie, wohin es traf, ihre Stirn, ihre Haare, ihre feine weiche Wange und zuletzt ihren Mund, den sie mir ließ, mit dem sie sich festsog an meinen Lippen, gierig, durstig, wie der halbverschmachtete Wüstenwanderer nach langem, qualvollem Marsch am Quell brennenden Mundes das belebende Naß direkt aus der Hand der Natur schlürft, mit geschlossenen Augen und keuchender Brust.

Endlich lösten wir uns aus solcher Umarmung, sie sank auf den Herd zurück, schlug die Hände vors Gesicht und saß ganz stumm da.

»Du! Du!« rief ich und zog ihr die Hände weg. Ich erwartete Tränen zu sehen, aber ihre Augen waren nur feuchtschimmernd, und ein ganz sonderbarer Ausdruck von Befriedigung, von Freude war auf ihrem weißen Gesicht.

»Gehen Sie, gehen Sie jetzt!« sagte sie und schob mich hart von sich. »Aber kommen Sie nie wieder!«

Ich wollte sie noch einmal küssen, aber sie sah mich so an, daß ich davon abließ.

»Gehen Sie!« wiederholte sie noch einmal, fast heftig.

Da ging ich, lief fast den schmalen Steig herunter, schrak zusammen, als meine Schritte dumpf über den hohlen Steg schallten und war wieder auf der Landstraße in greller Sonne, die mich blendete.

Ich lief eine Stunde auf der Landstraße hin, in brütender Hitze. Landein über den flimmernden Feldern türmte sich Gewölk. Auf einer hohen Koppel wölbten sich mächtige Eichenkronen. Ich kletterte dahin über harte Erdschollen. Die Eichen standen ganz reglos, kein Blatt rührte sich, aber ihr Schatten war breit und kühl und gut. Ich legte mich auf den Boden, der stellenweise mit trockenem Moos überzogen war, und sah in den hohen Wipfelbogen hinauf. Hier und da saß in einem Laublöchlein ein Stück leuchtenden Himmels, wie ein blaues Kirchenfenster. Ich schloß die Augen, und das rote Feuer ihrer Haare leuchtete vor meinen Blicken auf. Ich rief mir ihre Küsse zurück und vermeinte, sie wieder auf meinen Lippen brennen zu fühlen. Ihr weißes Gesicht, ihre festen, kleinen Hände, die gebräunten Arme, alles stand vor mir und wollte mich nicht verlassen. Die blauen Himmelsaugen, die durch das grüne Dach heruntersahen, waren so schön nicht, wie ihre Augen, als sie mich anflehten: »Gehen Sie jetzt, gehen Sie!«

Ein Peitschenknall von der Landstraße her schreckte mich auf, und zugleich rollte ein leiser Donner übers Feld.

Im Hotel hatte man schon auf mich gewartet, als ich erhitzt und ohne Appetit ankam. Ich saß ganz allein auf der Terrasse und löffelte unlustig meine Suppe.

»Heiß heute,« sagte der Kellner, als er den Braten brachte.

»Es wird ein Gewitter geben,« sagte ich.

»Glaub's kaum,« meinte er, »es wird sich verziehen.«

Er behielt recht; es kam ein bißchen Wind auf, verstärkte sich allmählich und abends hatten wir die schönste Brise.

Als ich längs der Promenade ging, war mein Bootsmann bei seinem Fahrzeug, grüßte mich erfreut und rief lachend: »Wo bleiben Sie denn?«

Sollte sie ihm nichts gesagt haben? Hatte sie es vergessen? Oder hatte sie ihm absichtlich meinen Besuch verschwiegen, um ihn nicht argwöhnisch zu machen?

Sollte ich nun doch noch segeln?

Aber ich konnte heute nicht zusammen mit ihm im Boot sitzen. Ich sagte, daß ich Kopfschmerzen hätte und nicht fahren möchte.

»Es war aber auch sehr heiß heute,« erwiderte er. »Meine Frau klagt auch über Kopfschmerzen. Sie hat sich ins Bett gelegt. Gut, daß die Kinder nicht da sind, da kann sie es sich bequem machen.«

»Das ist recht,« sagte ich automatisch, sah ihm noch einen Augenblick zu, wie er das Boot wieder festmachte, und dachte: Er sollte lieber segeln. Warum will er nicht alleine segeln? Nun geht er zur Frau und kommt doch noch dahinter, woher sie ihre Kopfschmerzen hat.

Er schien aber nicht dahintergekommen zu sein, denn er stellte sich am anderen Tag wieder ein. Diesmal konnte ich mich mit Briefen entschuldigen. Georg hatte angefragt, warum ich denn gegen alle Abmachungen gar nichts von mir hören ließe, und ich wollte ihm gleich antworten.

»Fahren Sie morgen auch nicht? Wenn ich es vorher weiß, kann ich mir den Weg sparen,« sagte er etwas übellaunig.

»Nun ja, also morgen,« vertröstete ich ihn. »Übermorgen muß ich sowieso abreisen.«

»Wie schade,« meinte er bedauernd.

Als ich am nächsten Tag wieder neben ihm im Boot saß, prickelte es mich, und ich kostete das Gefühl der Überlegenheit, das mein Geheimnis mir über ihn gab, mit einem seltsamen Wohlbehagen aus. Ja ich fragte nach seiner Frau, nach den Kindern, immer bis an die Grenze gehend, über die hinaus ich mich ihm verdächtig gemacht hätte.

›Was er wohl tun würde, wenn er es wüßte?‹ überlegte ich mir ernsthaft. ›Vielleicht wirft er dich über Bord, ersäuft dich wie eine Katze.‹

Oho! So leicht sollte ihm das nicht werden.

Ich malte mir einen ganzen Roman aus, während ich ihn unausgesetzt beobachtete und das gleichgültigste Zeug durcheinanderschwatzte.

Wie er mit den Segeln umzugehen wußte! Was für Kraft er hatte, trotz seiner Schmächtigkeit!

Das Wetter war nicht schön, der Wind sprang um, und ein paar Regenböen gingen über der Bucht nieder. Wir mußten gegen den Wind kreuzen und waren lange unterwegs. Ich hatte mir vorgenommen, in der Waldschenke noch einmal den Nobeln zu spielen, und so legten wir, obschon es spät war, das Boot doch noch drüben fest.

Er war schweigsamer als sonst, sagte, wie leid es ihm täte, daß ich nun wieder abreisen müßte und wie schön doch unsere Segelfahrten gewesen seien. Seine Frau hätte meinen Weggang auch bedauert, es sei doch immer ein Schilling in die Wirtschaft gewesen.

Hatte sie das gesagt?

»Grüßen Sie Ihre Frau von mir!«

»Ich soll Sie auch noch grüßen,« erwiderte er nicht ohne Verlegenheit, als empfände er diesen Gruß seiner Frau als unziemlich.

»Danke! Danke!« sagte ich. »Eine kleine hübsche Frau haben Sie.«

Er lachte geschmeichelt.

»Geht ja wohl immer noch an. Wenn sie nur tüchtig in der Wirtschaft ist und für die Kinder sorgt. Schönheit vergeht.«

»Auf Ihre Frau!« sagte ich und stieß mit ihm an.

Ich hatte das Glas bis zur Neige geleert und wollte ein frisches bestellen, als große Regentropfen auf unsern Tisch fielen.

Er sah sich den Himmel an und meinte bedenklich: »Da müssen wir wohl machen, daß wir nach Hause fahren.«

So brachen wir eilends auf und kamen im schönsten Regen wieder bei unserem Boote an. Gerade waren wir fertig zum Abstoßen, als ein junges Mädchen in hellem Kleid und weißem Strohhut hastig aus dem Wald gelaufen kam. Sie wollte offenbar mit dem kleinen Motorboot, das zwischen der Stadt und hier verkehrte, das aber eben seine letzte Heimfahrt angetreten hatte; ratlos stand sie in ihrem leichten Kleide im strömenden Regen da.

Ich hatte sogleich meine dunkle Galathee aus dem Tanzsaal erkannt.

»Wollen Sie mit uns fahren?« rief ich ihr zu, indem ich eine einladende Handbewegung machte.

»Danke,« sagte sie kurz entschlossen. »Wenn Sie Platz haben? Dieser schreckliche Regen!«

Sie kam schnell heran, und ich reichte ihr die Hand und half ihr beim Hinübersteigen. Schlank und biegsam balancierte sie einen Augenblick auf dem schwankenden Bootsrand, indem sie meine Hand mit langen, schlanken Fingern fest umklammerte. Dann sprang sie gewandt ins Boot und ließ sich einen Platz anweisen. Wir hatten keine so schnelle Rückfahrt, wie wir erwartet hatten, denn der Wind war abermals umgesprungen. Stumm saßen wir beieinander, und während wir auf unseren Kurs achteten, sah sie, in sich zusammengekauert, auf das regengepeitschte, graue Wasser hinaus. Sie mußte sich bei dieser Nässe in ihrem leichten Sommerkleid eine Erkältung zuziehen, und ich warf ihr meinen Mantel um die Schulter, obwohl sie abwehrte. Inzwischen hatte ich Zeit, sie zu betrachten. Ein schmales, ausdrucksvolles Gesicht von Elfenbeinfarbe. Hochgewölbte, scharfgezeichnete schwarze Brauen, lange, dunkle Wimpern und graue, stille Augen darunter. Den Mund, der mir ein wenig zu groß schien, hielt sie fest geschlossen, was ihr einen herben Zug gab.

›Ganz anziehend!‹ dachte ich. ›Wie alt mag sie wohl sein?‹ Eine heftige Bö, die über das aufgeregte Wasser fegte und uns die Wellen über Bord warf, legte das Boot beinahe auf die Seite.

»Steuer!« rief mein Bootsmann warnend. Ich packte zu und hielt meine Gedanken beisammen.

Als wir anlangten, waren wir alle gründlich durchnäßt. Das Mädchen wollte mir den Mantel zurückgeben, aber ich wehrte ab: »Eilen Sie nur ins Hotel, ich lasse ihn holen.« Sie sprang leicht ans Ufer und lief, so schnell ihre Füße sie trugen, durch die nassen Anlagen dem Hause zu. Ich half meinem Gesellen beim Vertäuen des Bootes, gab ihm das doppelte Fahrgeld, das er dankbar annahm, und verabschiedete mich schnell von ihm.

Ich war kaum im Hotel, als ein Zimmermädchen von nebenan mir auch schon meinen Mantel zurückbrachte; er war ganz durchnäßt, und ich gab ihn in die Küche zum Trocknen.

Am anderen Morgen in der Frühe reiste ich ab. Der Wagen, der mich an den Bahnhof brachte, fuhr mich an der Fabrik vorbei, in der mein Bootsmann arbeitete. Dichter Rauch stieg aus den hohen Schloten, und aus den Werkstätten klang ein Hämmern und Feilen; ich sah Feuer glühen und schwarze Gestalten sich hin und her bewegen.

Ob oben in dem kleinen Häuschen an der Landstraße jetzt vielleicht ein Rotkopf am Herde stand und in die Flammen sah? Elske Carsten, du wirst meine Küsse nicht vergessen, und ich nicht deine.


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