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II

Es waren fast zwei Jahre vergangen, daß ich keinen der Meinigen wiedergesehen hatte. Die Mutter hatte freilich regelmäßig geschrieben, so daß ich auch in der Fremde mit den Meinen fortlebte. Die Briefe der Freunde waren dagegen sehr bald spärlicher geworden, und es war zuletzt bei gelegentlichen Grüßen geblieben; selbst Freund Fritz hatte sich als ein lässiger Briefschreiber erwiesen. Da gewährte mir der Prinzipal einen zweitägigen Urlaub in die Heimat. Wie freute ich mich nun, aufs neue mit ihnen allen anknüpfen zu können, und freute mich vor allem auf ein Wiedersehen mit den Eltern und Geschwistern.

Mit offenen Armen wurde ich zu Hause empfangen. Die Mutter sah angegriffen aus, war aber heiter und ging ganz in der Freude auf, mich wieder umhalsen zu können. Der Vater begrüßte mich freundlich in seiner überlegenen, ruhigen Weise und so, als wäre ich keine acht Tage fortgewesen. Doch störte mich das nicht; ich durfte annehmen, daß er es trotzdem gut mit mir meinte.

Mein Erstes war, nach der Begrüßung die Treppe hinaufzuspringen in unser altes Zimmer, das jetzt der Bruder allein bewohnte. Ach, es war noch das alte, und war es doch nicht! Der Raum war größer und leerer, da jetzt nur ein Bett darin stand, und es fehlte – ja was fehlte?

Mein Bruder hatte nun auch schon die Schule verlassen, hatte gleichfalls auf seinen Studienwunsch verzichten müssen und war von dem Vater in eine Schlosserwerkstatt gesteckt worden. Da war er denn nur noch zum Schlafen in seinem Zimmer. Wie wohnlich, wie behaglich war es einst hier oben. Jetzt war es ein Zimmer wie andere. Nur als ich vor dem Fenster stand, und auf das Dach hinaussah wurde es mir warm ums Herz. Der alte Schornstein, die schmutzigen roten Ziegel, die Rinne, alles bekam Leben. Eine Krähe saß auf dem First. Saß sie noch von damals dort? Es war mir, als müßte sie mich wiedererkennen.

Auch auf den Boden stieg ich hinauf, und sah die hellen Sonnenflecken auf dem Fußboden wieder, sah den Staub in den Lichtsäulen tanzen, die durch die Fenster fielen, und suchte nach dem alten Schaukelpferd. Es war nicht mehr da, es war an den Sohn der Waschfrau verschenkt worden. Wir waren alle darüber hinausgewachsen, und das jüngste Schwesterchen hatte es nicht einmal mit den Augen gesehen; es lag auf seinem Streckbett. Blaß, mit einem lieblichen, heiteren Frieden auf seinem hübschen Gesichtchen, lag es da. Ach, es war kein Wunder, wenn die Mutter müde und angegriffen aussah.

Abends ging der Vater weg. Er hätte seinen »Abend« heute, sagte die Mutter. Wir andern aber saßen dann alle beisammen, sie, die älteste Schwester, der Bruder und ich, und im Nebenzimmer lag die Kranke und sprach dann und wann durch die offene Tür ein stilles Wort mit. Da mußte ich denn erzählen, manches zum zweitenmal, und hatte viele Fragen zu beantworten. Die alte Lampe brannte auf dem alten Tisch, und mir war, als wäre ich hier nimmer weg gewesen, und war mir doch sekundenlang wieder, als wäre es ein Traum und wollte mich ängstigen, und ich wußte nicht, was es war. Nachts kam die Mutter noch einmal in meine Kammer, setzte sich auf den Bettrand und nahm meine Hand in die ihre. Und ich sah, daß sie etwas auf dem Herzen hatte. Sie sorgte sich um mein sittliches Wohl, bangte, ich könnte auf schlechten Wegen wandeln und redete mir eindringlich zu Gemüt.

Ich sagte, was mir zu ihrer Beruhigung einfiel, konnte es aber nicht übers Herz bringen, sie zu hintergehen, und erzählte von Nelly. Sie war erschrocken, doch konnte ich sie beruhigen, daß das alles hinter mir läge und mir jetzt selbst Ekel einflöße. Auch stellte ich alles harmloser hin, als es war und versprach ihr, in Zukunft solche Lokale zu meiden.

»Geh lieber einmal ins Konzert oder ins Theater,« sagte sie. »Es ist ja wohl teuer, aber du hast dann etwas Schönes und Edles.«

Ich lachte. »Herzlich gern, aber das kostet Geld, mehr als ein Glas Bier.« Sie war erstaunt, als sie die hohen Preise hörte, und sah ein, daß ich das von meinem geringen Taschengeld nicht bestreiten konnte. »Ich will mit dem Vater sprechen,« sagte sie, »daß du wenigstens dann und wann dir ein Theaterbillett erlauben darfst.«

Ich war froh und dankte ihr. Lange lag ich wach und träumte von den herrlichsten Kunstgenüssen.

Als ich am anderen Tage ein paar Freunde aufsuchte, waren sie erstaunt, daß ich noch nicht ein einziges Mal im Theater oder im Konzert gewesen war. Ich bemühte mich, das zu erklären, ohne den wahren Grund angeben zu mögen. »Mensch, wie hältst du das aus?« riefen sie wie aus einem Munde, und ich meinte zu bemerken, daß ich ein wenig in ihrer Achtung sank.

Ich suchte ihre Meinung wieder etwas zu verbessern, indem ich ihnen berichtete, was ich alles gelesen hatte, aber es imponierte ihnen nicht sehr; sie hatten ganz andere Sachen gelesen: Shakespeare, Kant, Goethe, Hebbel. Sie sprachen gelehrt und von oben herab, und ich wurde ganz klein und kam mir armselig und dumm vor.

»Mensch, was treibst du denn eigentlich?« fragten sie.

»Pakete packen, Bindfaden knütteln, Fakturen schreiben. Staub wischen, Schaufenster dekorieren, und allerlei anderes,« sagte ich ingrimmig. Sie sahen mich an, wie einen Verlorenen, der nicht mehr zu ihnen gehörte, sprachen hohe Dinge, ohne mich teilnehmen zu lassen und besannen sich erst beim Abschied wieder, daß wir eigentlich Freunde seien. Sie schüttelten mir freundlich die Hand und wünschten mir alles Gute. Bei Fritz erhoffte ich eine bessere Aufnahme, aber unglücklicherweise traf ich ihn nicht an; er sei verreist, hieß es. Enttäuscht ging ich nach Hause.

Auf der Diele hörte ich laute Worte im Wohnzimmer fallen. Es war der Vater. Er sprach heftig. Ich wollte anklopfen, wagte es aber nicht, sondern ging still nach oben. Gleich darauf hörte ich, wie die Haustür hart ins Schloß fiel. Ich sah zum Fenster hinaus, da ging der Vater mit blankem Zylinder, wie immer würdevoll wie ein Senator, die Straße hinunter. Sollte ich zur Mutter hinabgehen? Ich konnte es nicht. Mein Herz schlug in banger Ahnung und mir war elend zumute. Am Nachmittag sollte ich wieder abreisen. In dieser Stimmung? Und wir hatten uns so herzlich und fröhlich umarmt, als ich angekommen war.

Die Mutter kam die Treppe herauf und erschrak, als sie mich am Fenster sitzen sah; sie hatte mein Kommen überhört. Ich bemerkte, daß sie geweint hatte. Sie sah meine fragenden Augen, sah meine Verwirrung, aber schwieg. Und ich durfte nicht fragen. »Nun, hast du sie getroffen?« fragte sie dann.

»Ja,« sagte ich etwas gepreßt.

»Haben sie sich nicht gefreut?«

»Das haben sie schon.«

»Aber?«

»Ach Gott, das Alte ist es doch nicht mehr,« bemühte ich mich möglichst wegwerfend zu sagen, aber Ärger, Zorn, gekränkte Eitelkeit übermannten mich, und ich schüttete mein Herz aus. Hochfahrend, eingebildet wären sie gewesen, aufgeblasene Burschen, mit denen ich nichts mehr zu tun haben wolle.

»Du mußt nicht so scharf sein,« sagte sie. »Ihr seid alle älter geworden und jeder hat andere und seine besonderen Interessen. Und dann ändert man sich, und es scheint, als wüchse man auseinander. Deswegen kann doch die alte Freundschaft im Grunde noch bleiben, man muß sie nur immer pflegen.«

»Wie soll man das machen?«

Sie antwortete nicht darauf, sondern sagte: »Wir müssen uns alle gegenseitig nehmen, so wie wir nun einmal sind, und muß keiner vom anderen zuviel verlangen. Nur mit Liebe und Geduld läßt sich das Leben ertragen.«

Ich fühlte, daß hinter diesen Worten etwas anderes stand als mein Verhältnis zu den Freunden, und als ob sie das merke und ablenken wolle, fuhr sie unvermittelt fort: »Ich habe mit dem Vater gesprochen. Er hat erlaubt, daß du jetzt monatlich fünf Mark statt drei bekommst, da kannst du wenigstens einmal im Monat dir ein Theater- oder Konzertvergnügen erlauben.«

Ich dachte sogleich, daß dieses die Ursache des elterlichen Zankes gewesen war, und daß der Vater nur widerwillig seine Zustimmung gegeben haben mochte.

»Ich kann mich auch so einrichten,« sagte ich.

»Nein, es bleibt nun dabei. Sparsam mußt du freilich sein. Es wird dem Vater nicht leicht, immer das Geld zu schaffen. Der Bruder verdient ja auch vorläufig noch nichts, und dann die Krankheit der Schwester –«

Sie brach leise ab, und ich merkte wieder deutlich, daß hinter ihrer angenommenen Gelassenheit ein tiefer Kummer sie bewegte. Was mochte das sein? Nur Sorgen? Sie hatte mich nun schon zweimal an diesem Tage zum Sparen ermahnt, und ich gedachte der Austern im Hamburger Keller, und wie der Vater das Geld so vornehm lässig auf den Tisch gelegt und wie er dem Kellner das reichliche Trinkgeld zugeschoben. Ob die Mutter wohl jemals Austern zu essen bekäme?

Der Vater kam nicht zu Tisch, und ich mußte am Nachmittag abreisen, ohne ihm Adjö gesagt zu haben. Die Mutter und die Schwester brachten mich an den Bahnhof, und ich fuhr schweren Herzens wieder nach Hamburg zurück.

Keine Hoffnung, keine Erwartung auf Neues, Schönes, Wunderbares vergoldete mir diesen Abschied; grauer als sonst lagen die Werkeltage vor mir, und grau lag der Himmel über dem Vaterhause hinter mir. Die Türme Lübecks versanken; noch ein letzter Blick auf sie, und ich legte mich traurig in meine Ecke zurück.

Zwei junge Leute meines Alters waren mit mir im Coupé, rauchten, und suchten sich auf jede Weise als erwachsene Männer zu benehmen. Ich gedachte der Freunde, die auch über mich hinausgewachsen waren, und kam mir klein und unbedeutend vor, ein armes kleines Nichts, das hilflos in die weite Welt hinausrollte.

*

Ich wurde nun wieder umquartiert. Aus welchen Gründen, weiß ich nicht mehr. Genug, ich mußte in das alte muffige Schlafzimmer zurück. Der Gehilfe, immer derselbe stille Mann, der tagsüber fast unhörbar seine Pflicht tat und abends zu seiner Braut ging, schien kaum teil daran zu nehmen. Ich störte ihn ja auch eigentlich nicht, denn wenn er nachts heimkam, lag ich schon lange im gesunden Schlaf. Der vermehrten Freiheit, die ich nun wieder abends hatte, war ich sehr froh. Vielleicht wäre ich wieder auf Wege geraten, die mich in die faule Atmosphäre der Variétés geführt hätten, wäre mir nicht die Möglichkeit geworden, monatlich einmal ins Theater gehen zu können. Gleich der erste Theaterabend riß mich aus den Niederungen meines bisherigen Dahinlebens in strahlende Höhen.

Man gab den »Lohengrin«, Albert Niemann sang ihn.

»Atmest du nicht mit mir die süßen Düfte?
O wie so hold berauschen sie den Sinn.«

Elsas blondes Haupt ruhte an der breiten Brust des Schwanenritters. Mondlicht überfloß den Altan, zerfloß mit der weichen, sehnsüchtigen Musik der Geigen, hüllte die Liebenden ein; ein sinnbetörender Zauber einer für mich neuen, wunderbaren Welt. Ein ekstatischer Rausch überkam mich, ein Schweben zwischen Keuschheit und Wollust. Ich fühlte diese Musik körperlich. Ich war so ergriffen, daß ich hätte weinen mögen. Tagelang, wochenlang wühlte das in mir nach. Ich ging, wie in einem blauen Nebel, war verliebt, ohne zu wissen in wen; in ein traumhaftes, überirdisches Wesen, in einen holden Schatten. Wie gemein erschien mir jetzt Nelly, »diese Sorte Mädchen«.

»Atmest du nicht mit mir die süßen Düfte?«

Ich breitete die Arme aus. Komm, komm! Ein schmerzlich wonnevoller Zustand, krankhaft bis zu Tränen, die nachts meine Kissen netzten. Ach, hätte ich jetzt mein altes Klavier gehabt! Ich schrieb darum nach Hause. Die Mutter sah die Berechtigung meines Wunsches ein; sie wolle sehen, was sich machen ließe, es wäre doch auch in jeder Weise zu meinem Besten, wenn ich mich auf diese Weise beschäftigte. Und wirklich machte sie es möglich, mir für diesen Zweck monatlich sechs Mark zu schicken. Aber ich solle es den Vater nicht wissen lassen; sie schrieb, es wäre von ihrem Hausstandsgeld, und sie hoffe sich einrichten zu können. Mit widerstrebenden Gefühlen nahm ich das Opfer an, voll heißen Dankes und tiefer Rührung und doch auch wieder mit Gewissensbissen, daß ich der Mutter dadurch Einschränkungen auferlegte. Gedanken darüber, daß so ein geringfügiger Betrag in der Rechnung meiner Mutter eine Rolle spielte, machte ich mir nicht. Ich verdiente ja selbst noch nichts, die sechs Mark waren für mich tatsächlich eine große Summe, und so durfte ich wohl denken, daß es meiner Mutter schwer wurde, sie zu missen.

Um so dankbarer war ich. Ich litt nur darunter, daß ich in meinen Briefen nie von meinem Klavier sprechen durfte, damit der Vater nichts davon erführe. Warum wohl wollte er es nicht erlauben? Er war doch gar zu hart und streng. Und immer wieder mußte ich an das Austernfrühstück denken. Drei Monate lang hätte ich von dem Gelde die Klaviermiete bezahlen können. Das Instrument, das jetzt in meinem Zimmer stand, war schlecht genug, doch es ließ sich wenigstens Musik darauf machen. Wußte man es recht zu behandeln, sang es sogar ganz weich und schön; nur großen Kraftproben war es nicht gewachsen, dann klirrte und ächzte und schrillte es zum Erbarmen.

Ich schleppte nun alles, was ich von der Cottaschen Klassikerausgabe in einem verborgenen Fach des Ladens fand, aufs Pult, und gewann in jenen Tagen eine Vorliebe für die großen Klaviersonaten von Clementi; vielleicht, weil sie sich in ihrer Klaviermäßigkeit am besten für mein armseliges Instrument eigneten, das für die Poesie Beethovens nicht genug Seele besaß.

Wie glücklich war ich jetzt, wenn ich abends bei kümmerlicher Beleuchtung mein Klavier traktieren konnte. Die Öde der täglichen Beschäftigung ertrug ich leichter, ja gewöhnte mich, sie als etwas Nebensächliches, Gleichgültiges anzusehen. Ich freute mich den ganzen Tag auf die Sonate, die ich am Abend vornehmen wollte, warf in einem abgestohlenen Augenblick mal einen zärtlichen Blick hinein oder trommelte zur anderen Zeit eine schwere Stelle, an der ich gerade übte, gedankenlos mit den Fingern auf dem Pult.

Warum durfte ich nicht Musik studieren? Warum hatte man mich hier in diesen staubigen Bücherstall eingesperrt? Was sollte aus mir werden? Wie wollte ich es aushalten? Jahrein, jahraus, diese elende Beschäftigung, zu der ich verdammt war!

Um diese Zeit schickte mich der Chef einmal mit einem Privatauftrag zu einem seiner Freunde, der am Hafen wohnte. Da es Mittag war, kamen von der anderen Seite des Stromes, wo sich die Werften und Fabriken befanden, Scharen von Arbeitern auf kleinen Dampfern und Booten und Jollen übers Wassers, rußgeschwärzte Gestalten, denen man ihre Arbeit in jenem rauchenden, brodelnden Hexenkessel drüben ansah, dessen Lärm auch in dieser Stunde ununterbrochen herüberschallte. In diesen Lärm mischten sich das vielstimmige Pfeifen der kleinen Fährdampfer und das tiefere Heulen eines großen Dampfers, der irgendwo, mir unsichtbar, ein- oder auslief. Der Lärm verwirrte mich ebenso wie das Gewirr der Masten und Schornsteine, die hier in die schmutzige Luft hinausragten, unter einem Himmel, der von einem langen, treibenden Schleier sich immer verändernder, immer erneuernder Wolken von Rauch verhüllt war. Trübe wälzte sich die Flut zwischen den Schiffsleibern hin, klatschte am Bollwerk und ließ allerlei Unrat auf ihren Wellen tanzen; Strohgeflecht, faulige Apfelsinen, Kork, Flaschen, eine leere Kiste, oder was sonst über Bord geworfen, oder vom Winde ins Wasser geweht war. Ich geriet unversehens in den Strom der landenden Arbeiter; eine Dunstwolke von Schweiß, Schnaps und Werkstattgeruch hüllte mich ein und erfüllte mich mit Abscheu. Bedrückt, beklommen, ja geängstigt zog ich mich zurück; eine unbestimmte Traurigkeit erfüllte mich und das trostlose Gefühl, daß die gepriesene Welt der Arbeit, der nun ja auch mein Leben für immer angehören sollte, überall mit Lärm, Ruß und Gestank unzertrennlich verbunden war.

Ach, und es gab doch eine andere Welt da draußen, voll Sonnenschein und Vogellied, voll Wipfelrauschen, voll Quellensang, voll Freiheit und Freude! War die nur für ein paar abgestohlene Stunden da, für ein paar schnell verflogene Sonntagnachmittage? Tagelang lag der Eindruck des Hafenbildes wie ein Alp auf mir, und ich fühlte mich unglücklich und freudlos.

Ich setzte mich hin und schrieb einen leidenschaftlichen Brief an den Vater, er möge mich doch hier wegnehmen und Musik studieren lassen. Umgehend kam seine Antwort, ich möchte es mir ein für allemal aus dem Kopf schlagen. Ob ich Geld dazu hätte? Er hätte es nicht. Und ob ich nicht wisse, daß ich auf fünf Jahre kontraktlich verpflichtet worden wäre. Ich hätte meine Pflicht zu tun und auszuharren. Man könne in jedem Beruf ein tüchtiger Mensch werden, und der Buchhandel gehöre gewiß zu den idealeren Berufen. Jede Lehrzeit sei schwer und böte Bitteres, das hinuntergeschluckt werden müsse. Das Leben sei ernst, und nur wer sich selbst überwinden lerne, hätte Aussicht, im Lebenskampf zu siegen. Ernste, gewichtige Worte, erst zürnend, dann väterlich ermahnend, füllten in seiner schönen Kaufmannshandschrift die vier Seiten seines Briefes. Zum Schluß warf er sich vor, daß er der Bitte der Mutter, mir einen so häufigen Besuch der Oper zu gestatten, nicht fester entgegengetreten wäre. Dies sei nun die Folge, die er wohl vorausgesehen habe. Aber er hoffe von meiner besseren Einsicht, daß ich zu meiner Pflicht zurückkehre, und wünsche vor allem, daß ich jeden Theaterbesuch so lange unterließe, bis ich selbst in der Lage wäre, mir diesen Luxus, dessen idealen Wert er durchaus nicht verkenne, zu gestatten.

Ich hätte mir diese Antwort vorhersagen können. Ich zerriß den Brief in kleine Stücke. Alle diese schönen und großen Worte hatten gar keinen Eindruck auf mich gemacht, denn ich sah nur seinen Egoismus dahinter und keineswegs väterliche Sorge und Weisheit.

Pflicht! Pflicht! Ich sah das kummervolle Gesicht meiner Mutter vor mir, ich gedachte ihrer beständigen Ermahnung zur Sparsamkeit, ihrer oft sorgenvollen Briefe. Wie heiter und zufrieden war früher alles bei uns gewesen. Hatte es denn damals keine Sorgen gegeben? Woher kam auf einmal dieses Sorgenvolle und Kummervolle, das aus den Mienen und den Briefen meiner Mutter sprach? Tat der Vater seine Pflicht? Diese unkindliche Frage stieg in mir auf. Nein! Nein! schrie es immer wieder in mir. Und er wollte mich mit großen Worten an meine Pflicht mahnen! Immer war er mit großen Worten, mit Maximen und Sentenzen bei der Hand gewesen. Auf Spaziergängen, an den wenigen Abenden, wo er sich aufgeschwungen hatte uns vorzulesen, und in mancher Strafpredigt, die er uns gehalten hat. Wie würde er jetzt vor meine arme Mutter treten und ihr mit triefender Weisheit ihren Irrtum vorhalten, sie mit Vorwürfen quälen. Ich hörte wieder sein lautes Schelten an jenem Morgen meines Lübecker Besuches, hörte das zornige Türschlagen.

Gut, knirschte ich, ich muß mich fügen. Aber wenn ich erst mein eigener Herr bin, soll mich nichts hindern, ein Leben zu leben, wie ich es für mich am besten und meinem Glücke dienlich halte. Drei Jahre noch, dann hatte ich ausgelitten. Die hieß es nun noch ertragen. Dann, ja dann! – Irgendwie würde Rat werden.

*

Inzwischen war der Sommer des Jahres 1870 herangekommen. Hatte ich bisher nur in meinem engen Kreise gelebt und die Außenwelt so an mir vorüberrauschen lassen, so schlug jetzt von dort ein Ton an mein Ohr, der nicht nur mich, sondern alle Träumer und Philister im ganzen Lande gewaltsam aufrüttelte.

Die Emser Depesche, die französische Kriegserklärung, das gewaltsame Aufflammen des Nationalgefühls, der Sturm der Begeisterung, der bis in die verstaubtesten und verstecktesten Winkel zog und allen Unrat auskehrte, er fand auch in unsere muffige Bücherei Eingang. Und als dann die erste Siegesnachricht kam, eine Depesche der anderen folgte, welcher Jubel, welcher Stolz, welche Begeisterung auf allen Gesichtern; auf den Straßen, in den Wirtschaften, in den Läden und Werkstätten, ja auf den Kanzeln lohte die helle, heiße Vaterlandsflamme mit Jubel und Dank.

In dieser patriotischen Begeisterung ging auch für mich alles andere unter. Deutschland, Vaterland, ach, es waren leere Begriffe gewesen: jetzt füllten sie sich mit blühendem, brausendem Leben. Mein junges Herz jauchzte bei jeder Siegesnachricht, und ich war glücklich, wenn ich mit dem Suchbuch auf die Straße geschickt wurde, in der Hoffnung, wieder Neues zu hören oder zu sehen.

Unser Riese war mit vor dem Feind. Vor Orleans lag er, und es kam ein Brief von ihm, ein einziger an den Chef; der zeigte ihn dem Gehilfen. Ich bekam ihn nicht zu lesen, aber sein Gruß wurde mir ausgerichtet. Und der Gehilfe erzählte mir kurz, was in dem Briefe gestanden. Nicht viel. Unbeholfene, schlichte Worte. Ich aber träumte mich an die Stelle des im Felde Stehenden, schlug heldenhaft siegreiche Schlachten und beneidete ihn. Er sollte mir erzählen von seinen Erlebnissen! Er war mit dem Munde gewandter als mit der Feder. Aber der Krieg zog sich in die Länge, der Riese kam nicht wieder und ließ auch nichts von sich hören. Wir sollten ihn nie wiedersehen.

Nach Sedan waren von den gefangenen Franzosen eine Menge nach Hamburg gekommen. Überall auf den Straßen sah man die Rothosen, Zigaretten rauchend; Gemeine und Offiziere jeden Grades. Sie hatten es besser als ich, die Herren Gefangenen; sie konnten frei umhergehen und im Alstercafé sitzen, und der eigentliche Gefangene war ich.

Aber wider Erwarten sollte diese Zeit mir das Ende meiner Gefangenschaft bringen. Bald nach Schluß des Krieges eröffnete mir der Prinzipal, daß er die Absicht habe, sein Geschäft zu verkaufen, womit dann natürlich unser Kontrakt hinfällig würde. Er könne mir aber die Wahl lassen, ob ich noch den Rest der ausbedungenen Zeit bei seinem Nachfolger verbleiben oder mich nach einer anderen Stelle umsehen wolle; in diesem Falle würde er mir behilflich sein und mit einer Anzeige im Buchhändler-Börsenblatt für mich eine passende Anstellung ausfindig zu machen suchen.

Jubelnd teilte ich es meiner Mutter mit, daß ich nun ausgelernt haben sollte, endlich, endlich! Noch einmal versuchte ich es, den Vater umzustimmen und einem Berufswechsel geneigter zu machen, aber umsonst. Seine abschlägige Antwort machte mich nicht so unglücklich wie das erstemal. Hatte ich doch jetzt die Freiheit vor mir, ein weites Feld mit tausend Möglichkeiten.

Die Anzeige im Börsenblatt hatte bald Erfolg. Ich hatte die Wahl zwischen einer Fabriksstadt im Wuppertal und einem thüringischen Städtchen. Der Prinzipal riet, in die größere Stadt zu gehen, mich aber lockte Thüringen. Schon die Aussicht auf die Fabriken schreckte mich. Qualm und Ruß, Staub und Dunst, nein, davon hatte ich genug! Aber Wälder, Berge, die Wartburg, Tannhäuser, der Hörselberg – vage, romantische Träume spannen mich ein; Thüringen sollte es sein! Zutiefst die leise Stimme, daß es doch wieder der alte Beruf sein würde, das alte Einerlei, was ich dort vorfinden würde, erstarb in den Trompetenstößen der Freiheit.

Ostern 1872 sollte ich meine neue Stellung antreten. Vorher fuhr ich noch mal zu den Eltern. Fröhlichen Herzens nahm ich Abschied von Hamburg. Das Weh des Scheidens würde mir erst in Lübeck werden, das wußte ich wohl, und mir bangte ein wenig davor. Doch es waren herzliche, sonnige Tage, die ich dort verlebte. Selbst der Vater war freundlich und teilnehmend. Er mochte froh sein, daß ich nun entschlossen war, beim Buchhandel zu bleiben und daß ich ihm nicht mehr auf der Tasche liegen würde. Er lobte mich, daß ich mich aller Grillen entschlagen hätte, die ja jedem einmal in den Sinn kämen, der die Welt noch nicht kenne und in Phantasien und Hoffnungen lebe! Aber ein tüchtiger Mensch, und für den habe er mich immer gehalten, würde damit fertig. Er ging sogar zu unserer aller Verwunderung mit mir aus, führte mich in den Ratskeller und traktierte mich mit einem kleinen Frühstück. Selbst eine Zigarre bot er mir an, lobte mich dann aber, daß ich noch nicht diesem Laster verfallen war.

Eine ganze Flasche Burgunder hatten wir zusammen geleert, und ich kam mit schweren Gliedern heim. Die Mutter schüttelte den Kopf, und der Vater sah etwas verlegen lächelnd drein. Die Mutter schwieg aber, und man sah es ihr an, daß sie froh war, uns in einem so guten Einvernehmen zu sehen. Als der Vater nun auch abends zu Hause blieb, und wir Brüder ihm noch einmal vorspielen mußten, wobei sich der Bruder mit seinen verarbeiteten Schlosserhänden noch recht brav bewährte, und ich auch mit der Schwester, die inzwischen hübsche Fortschritte gemacht hatte, vierhändig spielte, da wurde die Mutter sogar heiter, und es lag ein schönes Licht alten Glückes und Friedens auf ihrem lieben Gesicht. Wir saßen dann wieder einmal alle vereint um den runden Familientisch und aßen Ostereier. Die Schwester hatte sie hübsch bunt gefärbt und für mich eins extra mit einem lustigen Mondgesicht bemalt. Wie fröhlich waren wir! Die Kranke konnte vom Nebenzimmer aus in ihrer stillen, zufriedenen Art an allem teilnehmen und war froh mit den Gesunden; ich saß nachher vor ihrem Bett, wunderte mich, wie schön sie auf ihrem Schmerzenslager geworden war und prägte mir dieses blasse, schöne Kindergesicht tief ins Herz ein.

»Wenn du nun wiederkommst, kann ich hoffentlich bald gehen,« sagte sie, »der Doktor meint es auch.«

»Er hat uns Hoffnung gemacht,« sagte die Mutter. Mir aber riefen der Schwester Worte das Rückertsche Lied wach:

»Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll so sehr.
Als ich wiederkam, als ich wiederkam,
War alles leer.«

Ihre Augen waren groß und feucht, und ihre Lippen kühl und blaß, als sie mir am nächsten Morgen den Abschiedskuß gab.

Wieder brachten mich die Mutter und die ältere Schwester nach dem Bahnhof. Ein paar Bekannte unterwegs machten große Augen und grüßten. Einer ging mit uns desselben Weges, einen Koffer in der Hand; ich fürchtete schon, ihn als Reisebegleiter zu haben, aber er stieg hernach in ein anderes Coupé.

Die Freunde aufzusuchen hatte ich diesmal kein Bedürfnis verspürt; die Stunde sollte ganz denen gehören, die einzig ein Anrecht daran hatten. Fritz, den ich freilich gern gesehen hätte, wohnte draußen vor dem Burgtor; das war mir zu weit gewesen.

Still, in verhaltener Bewegung, stand ich mit der Mutter und der Schwester im Gewühl der Reisenden auf dem Perron. Noch ein Umarmen, ein letzter Kuß, winkende Tücher, und eine dicke Wolke weißen Dampfes aus dem Schlot der Maschine verdeckte mir die lieben Gesichter, noch ehe mein Wagen die lange, dunkle Halle verlassen hatte. Zum drittenmal sah ich die Türme der Vaterstadt hinter mir versinken.


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