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Vorteile der Latinität

Die Kämpfe bei Roczkowa-Wola hatten die Batterie stark mitgenommen; sie sollte sich vierzehn Tage erholen und wurde zu diesem Zweck von Lubochnia nach Kochanow, südlich von Skiernewice, verlegt. Als Talbot an der Spitze der Batterie in das langgestreckte Dorf einritt, stand vor einem strohbedeckten Hause ein bärtiger Bauer in der Nachmittagssonne, der die Offiziere mit einem freundlichen »Guten Tag, die Herre!« begrüsste. Es klang so ausgesprochen schwäbisch, dass Leutnant Schulz sein Pferd anhielt und »Was, der Mann spricht deutsch?« rief.

»Natürlich sprechet wir deutsch«, erwiderte der Bauer lächelnd.

Die Batterie parkierte auf einer an dem Hause gelegenen Wiese, und die vorausgeschickten Quartiermacher brachten die Erklärung. Die Dorfleute waren Nachkommen württembergischer Weber, die Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach Polen ausgewandert waren. Sie trugen sich polnisch und die Bauart ihrer Häuser war die übliche; aber sie hatten sich ihre schwäbische Mundart bewahrt.

Während dieser Ruhetage ritt Talbot viel in der Umgegend umher, entweder mit einem seiner Leutnants, oder noch öfter allein, nur von Wöbke gefolgt. Dann dachte er an Stascha und fasste den Entschluss, den Major um einen Tag Urlaub zu bitten, kam aber stets wieder davon ab.

Eines Tages ritt er mit beiden Leutnants und Wöbke nach Jezow hinüber, wo Hauptmann Kuntze beim Pfarrer in Quartier lag. Unterwegs kamen sie an ein graues Wasser, einen See, an dessen Ufer einzelne Weiden standen. Ein alter Mann in einem Schafspelz und hohen Schmierstiefeln, der ins Wasser geschaut hatte, drehte sich um, als er die Pferde kommen hörte.

Talbot sprach ihn an.

»Nje rozumje«, war die Antwort.

»Ja, mein Freund, nje popolski;« sagte Talbot und wollte weiter reiten.

Der Mann streckte die Hand aus. »Homines hinec pisces capere. Rublos non habent!« sagte er.

»Haben Sie schon so was gehört?« rief Talbot, »Schulz! Bickel! Mitten in Polen spricht so ein Kerl Latein!«

Sie verständigten sich mit einiger Mühe: irgendwo in der Nähe musste ein verlassenes Kloster sein, in dem der Mann eine Art Laienbruder gewesen war.

Talbot schenkte ihm die begehrten »Rublos« und ritt weiter nach Jezow. Das Pfarrhaus war ein einstöckiges weissgetünchtes Haus; über eine Freitreppe mit wackeligem Holzgebäude traten sie ein. In der Stube sass Kuntze auf dem Sofa; über ihm an der Wand hingen Heiligenbilder; auf dem Tisch standen Flaschen und Gläser; der Pfarrer, ein hagerer Mann, schlecht rasiert, mit weissem borstigen Haar und dunklen tiefliegenden Augen erhob sich von einem Stuhl und trat ihnen entgegen. Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Gast erwies sich als ein glänzendes, wie die Vermittlung geistiger Getränke es nur immer gestalten kann; auf geistlichen Gesprächen beruhte es nicht. Der Pfarrer sprach polnisch und russisch und ein wenig Latein, Kuntze noch weniger. »Viginti annos ex schola sum«, sagte er zu seiner Entschuldigung, und der Pfarrer antwortete »Prost«, das einzige Wort, das er von seinem Gast gelernt hatte.

Als Talbot mit seinen zwei Leutnants einfiel, waren die Vorräte an dem unentbehrlichen Verständigungsmittel bald erschöpft. Darum schickte er Schulz mit Wöbke nach dem Proviantamt am Bahnhof von Rogow; sie sollten Sekt holen, soviel sie schleppen konnten. Das waren hin und zurück fünfzehn Kilometer; vor anderthalb Stunden konnten sie nicht wieder da sein. Talbot begab sich daher auf die Suche. Nach fünf Minuten trat er wieder ein, in jeder Hand eine Flasche goldgelben Weines. »Der Schlaumeier hat noch mindestens zehn Flaschen Haut-Sauternes unten liegen!« rief er lachend.

Aber der Pfarrer war entsetzt vom Stuhle aufgestanden: »Non vinum bonum!« jammerte er, »vinum sanctum pro missa sancta«!

Talbot sah die Flaschen an: auf den Etiketten war der Stempel und die Unterschrift des Bischofs von Warschau zu lesen.

»Facit nihil!« rief Talbot ihm zu. »Nitschewo!« wiederholte er auf Russisch. »Wir trinken das jetzt aus und füllen neu auf, oder wir besorgen neue Flaschen und kleben die Etiketten darauf!« Mit Gebärden erläuterte er die deutsch gesprochenen Worte.

Verstört und zögernd ergab sich der Pfarrer ins Unvermeidliche. »Non est bonum! Non est rectum! Magnum peccatum!« klagte er. Aber er trank mit, und die Wirkung blieb nicht aus: sein Gewissen beruhigte sich und seine Heiterkeit nahm zu.

Ein kleiner Wagen mit einem Pferd fuhr vor dem Hause vor. Der Pfarrer von Lissa, einem nahegelegenen Flecken, kam zu Besuch. Es war ein junger, schlanker, blass und asketisch aussehender Mensch, der, als er die geweihten Flaschen geöffnet auf dem Tisch sah, entsetzt zurückprallte und einen Strom von Vorwürfen in polnischer Sprache über seinen Amtsbruder ergoss.

Talbot legte sich ins Mittel ... »Vi coactus!« sagte er, indem er mit grosser Gebärde auf den alten Pfarrer wies.

Da war auch der jüngere Geistliche beruhigt und trank nun gleichfalls mit.

»Die Sprache der Kirche ist doch die einzige wirkliche Weltsprache!« bemerkte Bickel.

»Bumaga! Bumaga!« rief der Pfarrer von Jezow dem Hauptmann Kuntze bittend und dringend auf Russisch zu, indem er mit dem Zeigefinger auf den Tisch wies.

Kuntze sah ihn verständnislos an. »Er will Papier haben«, erklärte Talbot.

»Er soll doch Gras nehmen«, meine Kuntze.

Das aber war ein Missverständnis. Der junge Pfarrer, der, wie sich nun zeigte, französisch sprach, erklärte ihnen, was sein Amtsbruder wollte: die beiden Offiziere sollten ihm bescheinigen, dass sie den Messwein requiriert hätten, damit er, wenn eine geistliche Revision bei ihm stattfinden sollte, gedeckt sei.

Das wurde versprochen; und nun tauten die beiden Pfarrherren gewaltig auf. Als Schulz und Wöbke mit dem Sekt ankamen, fanden sie die Hauptleute in den schwarzen Röcken der Geistlichen, diese aber hemdärmelig, die Offiziersmützen ihrer Gäste auf dem Kopf, malerisch um den Tisch gruppiert. Das heisst, Talbot sass auf dem Tisch und schenkte ein; Kuntze lag im Sofa, neben ihm in der Ecke sass Leutnant Bickel, der schweigend trank, und auf den Stühlen, als die Wirte, sassen fröhlich gemutet die beiden Pfarrer.

Der von Jezow erzählte von seiner früheren Einquartierung: »Erat majorus Japonesius; semper ridet, nunquam bibit!«

»O Tannebom, o Tannebom – er grient nicht nur zur Sommerszeit!« sagte Kuntze.

Es war indessen zwei Uhr geworden; Kuntzes Bursche hatte nebenan den Tisch gedeckt und meldete, dass aufgetragen sei.

Arm in Arm, immer ein Offizier im geistlichen Rock und ein Pfarrer in der Offiziersmütze, ging man hinüber; nur in der Türe gab es einige Schwierigkeiten, die jedoch überwunden wurden.

Nach der Suppe wurden Enten serviert, die Bickel als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Beim Tranchieren erklärte Talbot dem Pfarrer von Lissa auf Französisch, dass er aus der Ente durch einen Schnitt einen Erzbischof machen könne.

Der andere sah ihn zweifelnd an. »Voyez, monsieur l'abbé«, rief Talbot, fasste die Ente am Bürzel und schnitt ihn ab, »l'arche-e-vêque!«

Aber der Pfarrer konnte den Witz nicht begreifen.

Jetzt wurde der Sekt, der indessen einigermassen gekühlt worden war, auf den Tisch gestellt, die Pfropfen knallten, und Talbot brachte ein Hoch auf die »tapferen schwarzen Husaren« aus, die das ungewohnte Getränk in eine wahre Ekstase versetzte. Der Pfarrer von Lissa bemerkte, dass er als Nachkomme des berühmten Generals Dombrowski zum mindesten aus einer militärischen Familie sei.

Darauf hielt Talbot eine Rede, in der er den geistlichen und gastlichen Herren dankte und nach verschiedenen Erläuterungen mit den Worten schloss: »Hiermit ernenne ich Sie, hochwürdiger Herr Pfarrer von Jezow, zum geheimen Feldkuraten à la suite der dritten Batterie, Sie aber, Herr Kamerad von Lissa, zum Chefinhaber des apokalyptischen Reiterregiments Johann Heinrich von Dombrowski, polnisches Nr. 1. Die beiden schwarzen Kameraden hoch! hoch!«

Die Eintracht blieb ungestört, und Dombrowski, den der Champagner in eine verwegene Stimmung versetzt hatte, begann teils in französischer, teils in lateinischer Sprache unerwartete Geschichten zu erzählen. Mit fröhlich schlauem Lachen in seinem geistlichen Gesicht erklärte er: »Una femina nuda in lectulo melior est quam centum in ecclesia!«

»Prost!« sagte Talbot und stiess mit ihm an.

»Prost!« rief der Pfarrer von Jezow mit verklärtem Ausdruck. Es war das einzige Wort, über das er noch verfügte und mit dem er, milde lächelnd, jede Anrede erwiderte.

Talbot setzte sich an das Harmonium und begann den Trauermarsch von Beethoven zu spielen, um nach wenigen Takten einen englischen Song, und dann immer wieder in die feierliche Melodie sentimentale amerikanische Stücke einzuschieben. Der Pfarrer von Jezow brach in Tränen aus.

Draussen dämmerte es bereits und man musste an den Heimweg denken. Wöbke und die Ordonnanz führten die Pferde vor. Hauptmann Kuntze hatte auch sein Pferd satteln lassen, um die Gäste zu begleiten. Man nahm Abschied von den freundlichen Wirten, von denen der eine bereits schlief. Talbot eilte allen voran die Treppe hinab, gerade auf einen Laternenpfahl zu, der vor der Türe stand, und umklammerte ihn. Dann rief er laut: »Kuntze! Kuntze! was soll denn das heissen?«

Hauptmann Kuntze, der indessen schweigend seinen Braunen betrachtet hatte, ohne sich zu irgend einer entscheidenden Bewegung entschliessen zu können, drehte sich um und kam.

»Wenn Sie mir nicht gleich den Pfahl abnehmen, Kuntze, lasse ich den ganzen Zimt hinfallen!«

Kuntze wendete sich schweigend wieder ab und kehrte zu seinem Pferde zurück, während Wöbke seinem Herrn den Pfahl »abnahm« und ihm beim Aufsteigen behilflich war. Sowie Talbot auf »Kitchener« sass, wurde er wieder fröhlich, dachte nicht an den Heimritt, sondern setzte mit dem Pferd über die niedrige Gartenmauer und wieder zurück und wiederholte das Manöver einige Male. Indessen war auch Kuntze aufgestiegen, sass aber, wie die andern staunend bemerkten, mit dem Gesicht gegen das Schwanzende seines Leibrosses. Wie es geschehen war, schien ihm nach dem Ausdruck in seinen Zügen selbst nicht völlig klar zu sein, obgleich er sichtlich angestrengt nachdachte. Leutnant Schulz machte ihn darauf aufmerksam, dass sein Sitz fehlerhaft sei. »Du Grünschnabel«, rief der Hauptmann verächtlich, »weisst ja gar nicht, wo ich hinreiten will!« Er fing auch sofort mit den Beinen zu arbeiten an; das Pferd machte eine Bewegung, und der Reiter sank Schulz sanft in die Arme.

Der Bursche half ihm die Treppe wieder empor, während Talbot mit seinen Myrmidonen von dannen ritt. Es war ein fröhlicher und denkwürdiger Heimritt in der kühlen Abendluft über die entfärbten moorigen Wiesen; dank dem Schutzengel, der die Bezechten zu geleiten hat, geschah niemandem ein Unheil. Nur als auf dem Wege nach Kochanow zwei kaftantragende Gestalten der Kavalkade begegneten, gab Bickel seinem Pferde die Sporen und attackierte sie mit Hurragebrüll.

Die beiden Juden hoben erschrocken die Hände hoch; und als Bickel dicht vor ihnen sein Pferd parierte, rief der eine: »Chuter Cherr, tün Se mer nix! Ob Sei sennen ein Cherr vün Preisse oder ein Cherr vün Rüsse, Chott schenke Ihne den Sieg!«

Da verbeugte Bickel sich tief vor ihnen und sagte: »Entschuldigen Sie vielmals, meine Herren, ich hatte Sie für den Grossfürsten Nikolaj Nikolajewitsch gehalten!«

»Das ist doch Unsinn!« rief Talbot, der inzwischen herangekommen war, »das waren doch zwei!«

»Er kann nicht mehr zählen«, flüsterte Bickel Schulz zu, als sie weiter ritten, »denn es waren vier!«

Damit waren sie in Kochanow angekommen.


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