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Die schöne Frau von Kompina

Im Mai 1915 stand die Batterie Latour an der Kawka bei dem Dorfe Bolimow. Dieser Mai war für Talbot unerfreulich. Seit Anfang des Monats war ständige Alarmbereitschaft angeordnet. Jede Nacht mussten von zwei Uhr ab die Protzen der Batterie bereitstehen, die Beobachtungsposten und die Feuerstellung voll besetzt sein. Schon Ende April waren überall an der Front lange Stahlzylinder ausgeladen worden. Es waren die Chlorgasflaschen für den ersten Gasangriff an der Ostfront. Eine Pioniertruppe baute sie ein. Um sie zu verwenden, musste gewartet werden, bis der Wind feindwärts blies; daher die ständige Alarmbereitschaft.

»Das ist wohl eine Levée en masse der Berliner Weissbierwirte, die die Russen mit ihren Kohlensäurezylindern siegreich schlagen sollen?« hatte Talbot gesagt, als er die schwärzlichen, vier Fuss langen Zylinder zuerst gesehen, war aber dann gleich wieder sehr ernst geworden.

Seine Beobachtungsstelle befand sich auf dem Kirchturm von Bolimow. Das Gelände war sonst völlig eben. Eine Ecke der Kirche hatten die Russen in Trümmer geschossen. Der Turm war unberührt.

In der Kirche, in die durch das breite Loch in der Decke das helle Sonnenlicht fiel, traf er den Hauptmann Kuntze, der jetzt die Abteilung führte. Er stand in tiefem Nachdenken vor dem Beichtstuhl. »Wissen Sie, Latour«, sagte er, »was ich nach dem Krieg tun werde? Ich werde

S. M. um Erlaubnis bitten, mich nach meiner Vaterstadt Kuntze-Kosel nennen zu dürfen.«

»So, wollen Sie das?« erwiderte Talbot, »Ich zweifle, dass nach dem Krieg soviele Kuntzes übrig sein werden, um diese Massregel gerechtfertigt erscheinen zu lassen.«

»Glauben Sie wirklich?« fragte Kuntze. Er hatte sich zum Beichtstuhl umgedreht und ihn mit einem Schlüssel geöffnet. Eine hochgestapelte Reihe von Flaschen wurde sichtbar. »Was meinen Sie, Latour, zu einem Möselchen? So zum Zähneputzen?«

»Danke, danke! Ich will erst mal sehen, was oben los ist.«

Er stieg die Turmtreppe hinauf. Auf der Plattform traf er seinen Regimentskommandeur, den dicken Oberstleutnant Stein. Sie tauschten einige Bemerkungen über die Sicht aus, dann sagte Talbot: »Wissen Herr Oberstleutnant schon, dass Kuntze sich einen Doppelnamen zulegt?«

»Was?«

»Ja, er will sich nach dem Krieg Kuntze-Kosel nennen. Aber es ist natürlich ein Irrtum und muss Kuntze-Mosel heissen.«

»Ausgezeichnet«, sagte der Oberstleutnant.

Der Namenswechsel erfolgte sofort und blieb. Den anderen Offizieren erzählte Talbot die Entstehungsgeschichte auf folgende Weise: als in grauer Vorzeit, da August Lentze noch das Korps führte, der Leutnant Kuntze seine Rekruten vor ihm instruieren sollte, da wäre er so verdattert gewesen, dass er sich auch nicht auf einen einzigen Namen in der Batterie besinnen konnte. Aber kurz entschlossen habe er die Leute einfach nach der Weinkarte gerufen: Kanonier Remicher, Kanonier Graacher, Piesporter und so weiter. Endlich kam der Kanonier Niersteiner an die Reihe. Da habe August Lentze sich umgedreht und gesagt: »Ich danke, ich weiss schon; nun kommen die Rheinweine.«

Der Wind blieb durchaus neutral und Talbot, Kuntze-Mosel und der Oberstleutnant tranken manche Flasche in der Kirche von Bolimow.

Eines Tages kam Talbot die Strasse von Humin her nach Bolimow geschlendert, die Zigarre im Mund, die Mütze schief, einen Knotenstock in der Hand.

»Woher?« fragte Kuntze, der vor der Kirche stand.

»Aus der Rue de la Humanité in Humin. Ich habe mir mal angesehen, was die Scharnierbestien da einbauen. Immer fünf sone Pullen verbunden und ein Rohr zum Graben hinaus. Wenn der Laubfrosch in der Frontwetterwarte dann auf'n Knopp drückt, dreht der Scharnier auf und die Russen gehen kaputt.«

»Na, so einfach geht das wohl nicht!«

»Wenn es geht, ist es eine Gemeinheit.«

Sie redeten noch darüber, als auf einem magern polnischen Pferdchen ein bebrillter Herr angeritten kam. Der Herr stieg ab, grüsste und fragte: »Kann man von da oben mal den Feind sehen?«

»Man kann«, erwiderte Kuntze würdevoll. Halblaut fragte er Talbot: »Was ist denn das?«

»Das ist so einer, wo hinten in der Etappe die Liebesgaben frisst«, gab Talbot laut zur Antwort.

Es war ein Intendant vom Korps Mackensen. Bei Talbots Rede verlor er seine freundliche devote Haltung, machte kehrt, schwang sich aufs Ross und verschwand. Talbot aber sang: »Reit' Du nur immer hin, wo Du gewesen hast, und binde Deinen Gaul an einen dürren Ast!«

Rings um die Kirche lag der Friedhof. Ab und zu gab es bei der russischen Batterie bei Budy-Babski einen dumpfen Ton und ein »Müllkasten« kam von dort herüber geflogen. Die schweren Geschosse warfen tiefe Trichter aus und Hunderte von Knochen kamen zutage.

»Komische Leute, die Polen« sagte Talbot, »Hütten bauen sie so niedrig, dass man eben noch Flundern darin essen kann, oder zur Not Kartoffelpuffer, aber ihre Gräber legen sie vier bis fünf Stockwerke tief an.«

Der Gefreite Wöbke, der Talbots Leibheiduk war und von seines Herrn Geist einen Hauch verspürt hatte, hatte im Mittelgang der Kirche eine Kegelbahn angelegt. Aus Hüftknochen und Schädeln waren neun Kegel verfertigt und in die Ritzen zwischen die berstenden Steinfliesen geklemmt; Wöbke und ein paar Artilleristen waren damit beschäftigt, mit Schädeln durch den Gang zu kegeln.

Talbot setzte sich an die Orgel und begleitete das Spiel mit einem Schlager aus einer Operette:

»Bist du's, lachendes Glück, das nur vorüberzieht?!«

Das Glück kam heulend aus Budy-Babski geflogen und schleuderte neue Knochen aus der Tiefe auf.

Der Oberstleutnant sah durch die Türe; er schüttelte sich und verzog das Gesicht. Hauptmann Kuntze trat zu ihm. »Nee«, sagte der Oberstleutnant, »wenn ich heil aus dem Krieg komme, lasse ich mich verbrennen. Dass später mal solche Luderkerle wie der Latour mit meinen Knochen Kegel schieben, das passt mir nicht, das passt mir ganz und gar nicht.«

Kuntze verständigte Talbot von dem liebevollen motu proprio, und dieser erwiderte: »Das kann er wohl tun, Alkohol brennt ja. Er soll sich mal beeilen.«

Talbots Quartier lag etwa drei Kilometer von der Kirche in einem Gut, das Wolka Kompina hiess. Die Herrin des Gutes, eine Polin, war dageblieben und wirtschaftete, so gut es ging, weiter. Sie war eine hübsche, blonde Frau von etwa dreissig Jahren, der Talbot in seiner Art den Hof machte. Meist beschäftigte er sich mit Antek, ihrem siebenjährigen Jungen.

Im Esszimmer auf der Kommode stand eine alte Standuhr, auf ihrem Pendel war wie auf fast allen polnischen Uhren zu lesen: »Le roi à Paris«.

Talbot stand vor der Uhr. »Siehste, Antek«, sagte er, »da bammelt der liebe olle Poniatowski oder Lesczynski hin und her.« Antek sah ihn verständnislos an.

»Ach, saggen Sie dem Kind nicht Dummheiten! das ist Name von Uhrenmacher.«

»Wenn das stimmt, dann ist die liebe olle Maria Mutter Gottes von Czenstochau 'ne Reklame für Kolapastillen!«

Heulend kam das Glück von Budy-Babski, und das nahe Krachen bewies, dass der Einschlag nicht weit von Kompina erfolgt war.

»Wöbke, guck mal nach, wo das war!« rief Talbot über den Hof. Nach zehn Minuten kam Wöbke zurück und rief zum Fenster hinauf: »Ach Herr Hauptmann, die Russen schiessen so kleine Blindgängerchens draussen in die Wiese.«

»Wie gross?«

»Na so 'ne ganz kleine Lokomotive kann rin in die Löcher.«

»Adieu«, sagte Talbot, und Wöbke verschwand. Talbot trat ins Zimmer zurück. »Es wäre besser...« begann er, – draussen krachte es wieder, – »wenn Sie mit Antek für ein paar Tage nach Lowicz fahren würden, gnädige Frau.«

»Ach, wczysto jedno, ich bleibe!«

Am Abend spielte die schöne Frau Chopin. Auf dem Klavier standen zwei Kerzen. Talbot sass in einem der blaugepolsterten Lehnstühle aus weissem Holz und dachte an Stascha. Das hinderte ihn nicht, aufzustehen und während er nach den Noten sah, die blonden Haare der Dame zu streicheln. »Fijolek – Veilchen –«, sagte er.

»Nein, Niezapominajki – Vergissmeinnicht –«, erwiderte sie. Talbot lächelte.

Sie hörte auf zu spielen und sah ihn an. Aber er küsste sie nicht; denn es war der dreizehnte Mai, und er war abergläubisch.

Am nächsten Tag schoss eine leichte Batterie von Budy-Babski Schrapnells ins Land hinter Bolimow.

»Jetzt geben sie Kindervorstellung«, sagte Talbot auf dem Kirchturm zu Leutnant Bickel und erzählte ihm von Wöbkes »kleinen Blindgängerchens«. Plötzlich machte er eine Bewegung: »Die Schweine schiessen tatsächlich nach Kompina. Ich muss gleich hinreiten.«

Auf dem Hofe von Kompina war grosse Aufregung. Unteroffiziere fluchten, Fahrer liefen mit Stalleimern. Ein Stall hatte Feuer gefangen. Es war schon gelöscht; man sah das nasse verkohlte Holz und kotiges Stroh in den Pfützen.

Talbot eilte ins Haus. Ein eigentümlicher Geruch wie von Pulver und Leim strömte ihm entgegen.

In dem verwüsteten Esszimmer sass die schöne Frau in einem Stuhl – ohne Kopf. Antek sass wimmernd auf dem Tisch mit einem Loch in der Kniescheibe.

Talbot verband Anteks Beinchen mit seinem Verbandszeug, trug ihn in den Hof hinab, setzte ihn vor sich aufs Pferd und brachte ihn nach dem Hauptverbandsplatz. Dann ritt er wieder zum Kirchturm von Bolimow und begab sich auf die Plattform.

Er hat in diesen Tagen nur das Nötigste gesprochen, aber unmenschlich getrunken. –

Am 31. Mai hatte der Wind sich gewendet, und um vier Uhr früh kam der Befehl, dass um 5 Uhr das neue Kampfmittel des Pionier-Regiments Nr. 36 eingesetzt würde.

Der Kirchturm war voll von Menschen. Alle Artillerieoffiziere wollten die Sache beobachten.

Um 5 Uhr hob sich an der ganzen Front, soweit das Auge sehen konnte, ein etwa zwanzig Meter hoher gelbbrauner Nebel und schob sich stetig auf die russischen Gräben zu. Die Russen rührten sich nicht.

Nach einer halben Stunde erhielt Talbot den Befehl zur Verfolgung. Die Batterie rasselte auf der Strasse nach Humin zu den russischen Gräben hinüber. Talbot ritt mit seinen Fernsprechern und Beobachtern weit voraus.

Bei den Gräben, die von der deutschen Infanterie längst überrannt waren, stiegen sie ab.

Alles Grün war verbrannt und braun geworden. Getreide, Gras, Obstbäume waren vernichtet. Ein widerlicher Chlorgeruch war in der Luft. Hunderte toter Russen lagen in den Gräben.

Talbot betrat einen Unterstand: vor einem Heiligenbild lagen zwei Soldaten tot auf den Knien. Nebenan sass ein Offizier eingeseift und tot im Barbierstuhl, an der Wand stand der Barbier und starrte mit weit aufgerissenen verglasten Augen auf das Messer in seiner Hand. Alles roch nach toten Menschen, starkem Parfüm und Chlor.

»Das also sind die Taten des chlorreichen Pionier-Regiments Nr. 36«, sagte Talbot finster, »recht chlorreiche Taten!«

Als die Russen sechs Wochen später in die Blonielinie zurückgingen, war Talbot mit den ersten Infanteristen in dem schwer umkämpften Sochaczew. Auf dem Dach des Bahnhofs richtete er seine Befehlsstelle ein, während Wöbke in Vertretung des kaiserlich russischen Bahnhofvorstehers Fahrkarten verkaufte. Dem Oberstleutnant schickte Talbot durch einen Meldereiter eine Serie Billets erster Klasse nach Warschau.

Da er nichts zu tun hatte, schlenderte er in den Ort. Nur einige jüdische Händler, die geblieben waren, kamen mit freundlichem Grinsen aus ihren Kellern hervor. Sonst war der Ort leer.

»He Du, sag mal, wo ist hier das Denkmal von Chopin?« rief Talbot einen der Juden an.

»Schoppeng?« antwortete dieser, »ach, iach waiss.« Er verschwand im Keller und kam nach einer halben Minute wieder zum Vorschein, zwei Flaschen im Arm. »Schoppeng, Eier Durchlaucht«, sagte er, »Schoppeng! Lessen Sie: Nullum vinum nisi hungaricum! Swai Rübel die Butelka!«

Talbot kaufte und kehrte nach der Beobachtungsstelle zurück.

»Soviel weiss man von Chopin in seinem Geburtsort«, sagte er zu Bickel. »Kommen Sie, wir wollen ihn gleich trinken.«

Talbot füllte die Gläser. Er war sehr blass. »Auf das Wohl der Dame ohne Kopf!« sagte er, stürzte ein paar Gläser hinunter und flüsterte etwas vor sich hin.

Bickel kannte ihn schon gut genug und begriff, dass diese Roheit ihm nur über die tiefe Traurigkeit hinweghelfen sollte und über die Erinnerungen, die der Name Chopin geweckt hatte.

Und er trank schweigend mit ihm.


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