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Jagd, Tanz und Gespenster

Talbot sass wieder in den Sumpfwäldern um Nowogrodek. Das Leben war eintönig wie vorher. Hier und da lud der Kommandeur der leichten Munitionskolonne, Hauptmann Schreiber, die Offiziere zur Jagd ein. Die Kolonne lag etwa zwanzig Kilometer hinter den Feuerstellungen; der Stab war auf dem Gut Jasienin einquartiert.

Das Gut gehörte einem Herrn von Kwiatkowski. Den Verkehr mit den Barbaren besorgte seine Gattin. Sie war nicht mehr jung und sie liebte Talbot über alles mit halb weiblichen, halb mütterlichen Empfindungen. Er verulkte sie.

»Denken Sie, Baron«, sagte sie eines Tages, als er zu Besuch kam, »Sie als Aeddelman wärrden begreifen. Dieser Kapitan Schreiber hat mich aus der Büro geschickt und dabei an die Schultern gepackt. Diese Schultern, die nurr zum Küssen da sind.«

Talbot bedauerte; er sass gerade an ihrem Klavier. »Spielen Sie weitärr, Baron«, sagte sie, »ich hörre zu gern.« Sie liebte die Musik sehr und behauptete, Liszts Schülerin gewesen zu sein. Talbot tat, als glaubte er es und fragte nebenbei: »Das war wohl in Paris?«

»Natürrlich!«

»Da haben Sie wohl auch Mademoiselle Adrienne Lecouvreur gekannt?«

»Natürrlich! Serr gutt!«

»Hören Sie, Schreiber«, sagte Talbot zu dem Hauptmann, der eben eintrat, »Sie müssen Frau von Kwiatkowska etwas vorsichtiger behandeln. Sie ist, wie ich eben feststellen konnte, über zweihundert Jahre alt ...«

Im Juli 1916 kam die Nachricht, dass der Major von Ballmann, der als grosser Schiesspapst bekannt war, das Regiment erhalten habe. Er wurde täglich aus dem Westen erwartet.

Talbot telefonierte in diesen Tagen auffällig viel; mit Schreiber, mit dem Stabsarzt Dr. Jakobsohn von der Sanitätskompanie, mit dem Verpflegungsoffizier.

Dann kam Ballmann wirklich, und Talbot lud ihn zum Abendessen nach Tokaryszki. Der neue Kommandeur sprach, und Talbot hörte zu. Der Kommandeur sprach beim ersten Gang, zwischen den Gängen und nachher. Er sprach von Pulvertemperatur, Witterungseinflüssen, Rohrabnutzung, Mannschafts- und Pferdebehandlung. Die Schweinerei im Osten müsse aufhören, sagte er. Er war gross und breit, mit einem fahlen Gesicht und er sprach vier Stunden lang, und vier Stunden hörte Talbot respektvoll zu und blieb vollkommen dienstlich.

Leutnant Bickel, der dem Essen beigewohnt hatte, sagte nachher zu dem andern Leutnant der Batterie, Schulz: »Er war heute unheimlich. Ich wette, dass dem Major eine besondere Abreibung bevorsteht. Als er mit Schreiber telefonierte, hat er mich hinausgeschickt.«

Zwei Tage später überbrachte Talbot dem Major die gehorsamste Einladung des Hauptmanns Schreiber zur Wolfsjagd. Der Veterinär, mit dem der Kommandeur eben sprach, wollte einwenden, dass es doch weit und breit keine Wölfe gäbe. Ein Blick Talbots liess ihn verstummen.

Am nächsten Morgen fuhr man im leichten Jagdwagen zur Kolonne. Vor dem Gutshause von Jasienin stand Hauptmann Schreiber. Er war von der Reserve, sonst Gutsbesitzer, ein stattlicher Mann mit freundlichem roten Gesicht und grauem Schnurrbart. Auf der Veranda stand ein Pole in Schmierstiefeln, grün und gelb gestreiften Pluderhosen, oben trug er den Frack mit weisser Binde; in der Linken hielt er einen Strohhut, in der Rechten einen Blumenstrauss. So trat er auf Ballmann zu, der ihn erstaunt betrachtete. Schreiber murmelte etwas von »Abordnung der Bevölkerung«.

Der Panje überreichte dem Major den Blumenstrauss und sagte: »Guten Tag, Ballmann, Du hast uns geradde noch gefehlt!«

Sprachlos sah der Major ihn an, aber da er nicht wusste, was er in diesem Fall tun sollte, so tat er, als hätte er den Mann nicht verstanden. Die Offiziere, die keine Miene verzogen hatten, baten ihn auch bereits freundlich ins Frühstückzimmer, in dem die Tafel gedeckt und geschmückt war. Nebenan spielte die zweihundertjährige Kwiatkowska auf dem Klavier: »Ihr Kinderlein, kommet!«

Bei der Tafel waren Talbot und Schreiber die Korrektheit selbst, und der Major wurde wieder sicher.

Bald brach man zur Jagd auf. Man ging nicht sehr tief in den Wald, bis zu einer Lichtung. Schreiber als Jagdherr stellte die Schützen auf. Etwa dreissig Panjes waren als Treiber aufgeboten.

Eine Weile kam kein Wild.

Dann sah der Major einen Schatten durch die Büsche schleichen. Schreibers Gewehr krachte. Und sogleich krachte es auch von einer andern Seite.

Jetzt kam ein Wolf gerade auf den Major zu. Der legte an, feuerte, das Tier heulte auf und brach zusammen.

Strahlend schritt er auf die Beute zu. Von der andern Seite kamen die Herren. Schmunzelnd und befriedigt beugte der Major sich über das erlegte Tier: da veränderte sich seine Miene, er hob den Kopf in die Höhe, griff in das graue Fell: der Wolf trug ein Halsband mit dem Roten Kreuz und eine Marke. Auf der stand: »Sanitätskompanie der 85. Inf.-Div.«.

»Das ist ja eine bodenlose Schweinerei!« brüllte er. »Latour! Herr Schreiber! Ich habe einen Sanitätshund erschossen!«

Die Herren, die inzwischen ganz herangekommen waren, machten lange Gesichter. »Wir werden unser Möglichstes tun, Herr Major!« sagte Schreiber, »Ich werde versuchen, die Sache in Ordnung zu bringen. Und eines können Sie versichert sein: wir schweigen! Nicht wahr, Talbot?« Dieser nickte.

Der Major dankte ihnen mit trüben Blicken. Die Jagd wurde abgebrochen; man kehrte nach Hause zurück und setzte sich zu Tisch.

Die Tafel dauerte lange. Hier und da schien es, als wollte einer der beiden Herren eine Anspielung auf das Missgeschick des Majors machen. Aber immer wieder gingen sie rasch zu anderm über, wenn er besorgt den Blick erhob. Schliesslich wurde man wieder heiter.

Als Ballmann am Abend, süssen Weines voll, mit Talbot nach seinem Quartier fuhr, sagte er: »Latour, Sie sind ein noch grösserer Filou, als man mir erzählt hat! – Und ich Heuochse merke erst heute Abend an Euern Reden, dass Ihr mich hineingelegt habt.«

»Ja, Herr Major, das ist im Osten nun mal so.«

»Mir tut nur der arme Sanitätshund leid.«

»War ja keiner, Herr Major. Hier treiben sich eine Menge verwilderter Köter herum; Schreiber hat eine halbe Mandel einfangen und durch das Treiben jagen lassen.«

»Aber das Halsband ...?«

»Habe ich besorgt.«

Der Major sah ihn an. Talbot lächelte, und der Major lachte mit ihm.

*

Sommer und Herbst verflossen im steten Einerlei des Stellungskrieges. Bei Talbots Divisionen gab es kaum Ereignisse. Die Sümpfe an der Beresina verhinderten fast jede Kampftätigkeit. Die deutsche und die russische Artillerie ärgerten sich gegenseitig an oder donnerten auf die Schützengräben mit sehr mässigem Erfolg.

Talbot war mehrmals, obwohl er solche Wege sehr ungern machte, beim Korps gewesen, um eine andere Verwendung seiner Abteilung durchzusetzen. Irgendjemand wusste seine Absichten zu vereiteln. Es blieb nur Resignation und schlechte Laune übrig.

Im Kasino von Tokaryszki trafen sich alle Kavaliere der Umgegend. Rings um die strohbedeckte, braune Hütte hatten die Fahrer einen Zaun aus Birkenholz gezimmert. Innen sah es aus »wie im Gasthaus zum wilden Schweinskopf in Eastcheap«, sagte Talbot, »nur Frau Hurtig und Dortchen Lakenreisser fehlen«. Sir John, der gute dicke Oberstleutnant Stein, moderte bereits auf irgendeinem Soldatenfriedhof im Artois.

Manchmal fuhr Talbot in der Sommerhitze auf dem See spazieren. Hauptmann Schreiber sass im kleinen Kreuzer »Mampe«, während Talbot sich von Wöbke im Panzerkreuzer »Hartwig Kantorowicz« umherrudern liess. Ihr Anzug bestand nur aus einer Badehose. Auch die Armierung der Kreuzer war einfach. Im See schwammen armdicke Wassergewächse, die ungefähr wie Gurken aussahen, mit denen die Kreuzerkommandanten sich gegenseitig beschossen. Wenn sie genug hatten, streckte die Bemannung sich auf dem Schiffsboden hin und schlummerte.

Selbst die Hechte waren zu faul zum Beissen.

Bisweilen wurde gejagt. Der Divisionskommandeur, Exzellenz Schröder, hatte in das Waldwärterhaus von Gajduki einen Feldwebel gesetzt, der im Zivilberuf Förster war. Wenn er dann die Exzellenz verständigen wollte, ging er durch den Wald zur dritten Batterie, um von dort zu telefonieren. Und eines Tags hörte Talbot solch ein Gespräch, als er zufällig zur Batterie gekommen war, um Leutnant Bickel zu besuchen.

»Also heute Abend kommt Schröder mit dem Schiessgewehr«, sagte er, als der Feldwebel wieder gegangen war. »Den Bock putze ich ihm weg.«

Bickel sah ihn erstaunt an. »Wenn ich Herrn Hauptmann raten darf, würde ich das lassen. Das ist die Stelle, wo Leute sterblich sind. Und Herr Hauptmann machen sich ja sonst nicht so viel aus der Jagd.«

»Ja, aber die Kirschen in Nachbarsgarten! – So ein Divisionsbock«, er blies auf die Fingerspitzen, »ist nicht übel! Und warum sollen die paar guten Böcke den Stäben reserviert bleiben? Hier ist freie Jagd.«

»Wegen einem Bock sich Feinde machen?«

»Die Nürnberger hängen keinen, den sie nicht haben.«

»Ich würde es nicht tun!«

»Aber ich.«

– Gegen Sonnenuntergang ruderte Talbot mit Wöbke über das einsame Wasser nach der Stelle, wo der Dunajbach in den See floss. Auf der Wiese an der Bachmündung sollte der Bock heraustreten.

Im Uferschilf legten sie an. Talbot nahm den Karabiner hoch, lud ihn mit Patronen, deren Spitze sorgfältig abgefeilt war, und sah durchs Doppelglas. Der Bock war noch nicht da.

Nun sah er über den See zurück nach Tokaryszki. Die Fahnenstange vor seinem Quartier ragte kahl in die stille Luft über den Kiefern. Im nächsten Augenblick ging die Fahne hoch. Es war das Zeichen, dass das Auto des Divisionärs Tokaryszki verlassen hatte.

»Nur noch zehn Minuten, Wöbke!«

»Befehl, Herr Hauptmann.«

»Halt jetzt die Klappe!« sagte Talbot leise. Es knackte im Holz.

Sechzig Schritt entfernt von ihnen stand der Bock; durchs Glas zu sehen, mindestens ein guter Sechser.

Talbot legte an, zielte sorgfältig und gab Feuer. Der Schuss hallte im Walde wieder. Der Bock machte ein paar Fluchten und brach zusammen.

»Rasch!« rief Talbot, sprang aus dem Kahn und lief hin. Mit einer Handsäge, die sie mitgebracht hatten, schnitt er das Gehörn ab, warf dann den Bock aus, und liess Wöbke eine Keule und die Leber mitnehmen. Der Rest blieb liegen.

»Nun fort!« rief Talbot.

Im Laufschritt erreichten sie den Kahn. Mit ein paar Ruderschlägen trieben sie ihn in so hohes dichtes Schilf, dass sie jedem Blick entzogen waren. Es war keine Minute zu früh. Stimmen wurden laut.

Vorsichtig durchs Glas lugend, konnte Talbot sehen, wie die Exzellenz auf den bestürzten Feldwebel einredete. Schliesslich packte dieser die Reste des Bockes auf und stapfte hinter dem General her, der zu seinem Auto zurückging.

Am Abend gab es in Tokaryszki Rehleber.

Aber irgendwelche Gerüchte und Gespräche von der missglückten Jagd gingen durch die Quartiere, und als sie sich das nächste Mal bei einer Besprechung trafen, sah der Divisionär Talbot misstrauisch an und war nicht mehr so freundlich gegen ihn wie vorher.

Wenige Tage darauf kam wieder eine Einladung nach Jasienin. »Nicht zur Wolfsjagd, nur so!« telefonierte Schreiber.

»Was ist denn los? Was heisst 'so'?« fragte Talbot.

»Der zweitausenddreihundertsiebenundneunzigste Jahrestag der Schlacht von Salamis!«

»Dann kommen wir bestimmt. Das muss unbedingt gefeiert werden. Verzeihen Sie nur, dass ich nicht gleich daran gedacht habe!«

Und so fuhr man wieder einmal in leichten Wagen nach Jasienin hinüber.

Hauptmann Schreiber war als Wirtschaftsoffizier während der Ernte mit der Bevölkerung näher bekannt geworden und hatte ein halbes Dutzend junger Damen aus den Gutshäusern der Umgegend eingeladen. Während Frau von Kwiatkowska im ausgeschnittenen hellen Sommergewand, das Haar hochfrisiert und gepudert, Talbot mit strahlender Freundlichkeit begrüsste, standen die Panienkas verlegen lächelnd wie eine Schar Hühner in der Ecke. Mit Talbot waren Leutnant Bickel und Dr. Pilukeit gekommen.

Schreiber stellte vor: »Notre bon Commandant, le baron de Latour de Saint-Aubin, Cavaliere Bickolini, Monsieur le docteur bestial de Pilukeit – Mademoiselle Lenka de Michorowska, Mademoiselle Anka de Janiszowska« und so weiter.

Es stellte sich zwar bald heraus, dass das Französisch der jungen Polinnen nicht weit über »merci« und »s'il vous plait« hinausging. Das tat jedoch der Unterhaltung keinen Abbruch, und sie freuten sich kindlich über das Grammophon, das bald die »Marche militaire« von Schubert und dann wieder »Wenn der Bräutjam mit die Braut so mang die Felda jeht«, gesungen von Claire Waldorff, vortrug.

Der Tisch war festlich gedeckt; Sträusse von Feldblumen standen darauf und in der Mitte eine grosse Bowle. Neben jedem Gedeck lag ein Löffel.

»Was ist denn das, Schreiber?« fragte Talbot, »Gibt's denn nur Feldküchenfrass? Habt Ihr keine Messer und Gabeln?«

»Das schon, Latour. Aber in weiser Voraussicht habe ich nur Löffel hinlegen lassen, damit die Herren die andere Hand zur Unterhaltung der Tischdame frei haben.«

»Ich werde Sie zum E. K. I eingeben«, erwiderte Talbot mit grossem Ernst.

Jetzt wurde eine grosse Schüssel Krebse aufgetragen. Mademoiselle Lenka, die kleine Polin, die Talbots Tischdame war, verstand sie allerliebst zu essen. Talbot streichelte ihre blonden Haare und unterhielt sich mit ihr in französischen und polnischen Brocken.

Dann kam eine mächtige Terrine mit Essen aus der Feldküche.

»Sie sollen sehen, Herr Hauptmann«, sagte Schreiber, »dass wir bei der leichten Kolonne alle, Offiziere und Mannschaften, dasselbe essen.«

»Ausgezeichnet! Mein volles Lob!« erwiderte Talbot, »Aber essen Ihre Leute auch Krebse?«

»Wenn sie nicht zu faul sind, welche zu fangen ...!«

Schreiber hatte eine »italienische Nacht« vorbereitet. Im Park von Jasienin, in dem zwischen Ziersträuchern und Edelhölzern Kohlbeete und Selleriestauden gedeihen, waren Lampions aufgehängt, die, als es dunkelte, bunt aufleuchteten. Auf der Holzveranda und im Esszimmer wurde getanzt, gescherzt und gelacht.

Bickel hatte schon eine Ohrfeige von zarter Hand erhalten, und Talbot manchen Kuss von Lenkas Lippen, als er mit ihr durch den Garten ging. Von der Veranda tönte es:

»Alt-Heidelberg, Du Feine,
Du Stadt an Ehren reich,
Am Neckar und am Rheine
Kein' andere kommt Dir gleich!«

Talbot fuhr zurück. Eine Erinnerung stieg in ihm auf. Er war in Heidelberg. Auf dem Neckar schaukelten Boote mit Lampions. Stimmengewirr und Musik rauschte empor. Oben zeichneten sich dunkel die Umrisse des Schlosses. Eine Frau stand neben ihm. Heimlich geflüsterte Worte tönten ihm im Ohr. Er schloss die Augen. In Rzezyca, in Berlin, in Baden-Baden glaubte er vergessen zu haben, und eine schlecht gespielte Melodie, eine Sommernacht mit Büschen und Lichtern, liess alles wieder aufbrechen. Die vollkommene Unmöglichkeit die Frau zu erreichen, die er damals und am meisten geliebt, kam wie ein stechender Schmerz wieder.

Da stand die kleine Polin vor ihm und sah ihn bei dem schwachen Licht betroffen an. Oben im Hause tönte das Lied weiter, er schritt schweigend über die Gartenwege, die Kleine immer neben ihm, bis er zu Ende war.

Dann tat er einen Seufzer, und da eine Hand nach der seinen griff, beugte er sich vor und küsste Lenkas willige Lippen.

Er murmelte etwas, sie gingen weiter und ins Haus zurück, und Talbot trank und tanzte.

Als die kleinen Wagen bespannt waren, und einer hinter dem andern davonfuhr, während fröhliche Mädchenstimmen »Adieu« und »Gutte Nacht!« riefen, erklang das Lied wieder.

Talbot sass abgewendet in dem rasch dahinfahrenden Wagen; die Nachtluft streifte ihn kühl.

»I never trouble trouble, but trouble troubles me« sagte er vor sich hin.

*

An einem schönen Septemberabend stand Talbot mit dem Abteilungsadjutanten, Leutnant von Leerodt, auf der obersten Plattform eines fünfundzwanzig Meter hohen, von den Pionieren erbauten Hochstandes im Wald an der Beresina. Die Baumwipfel reichten bis zu ihnen hinauf, die Plattform selbst war mit frischen Zweigen markiert. Aber auch von da aus war nicht viel zu sehen, als ein wogendes Meer von Baumwipfeln. Da und dort schimmerte ein Wassertümpel durch das Grün, und in geringer Ferne ein Silberstreifen, die Beresina. Sie floss durch Wiesen, die niemand mähen konnte, weil sie im unbetretbaren Lande zwischen den Stellungen lagen.

»Aus welchem Grund findet das Schützenfest heute statt, Herr Hauptmann?« fragte der kleine blonde Offizier, während er seinen Kneifer abnahm und reinigte.

»Nehmen Sie ruhig an, dass es aus Gründen der Unzweckmässigkeit geschieht«, antwortete Talbot. »Wenn eine Idee von Thürmer ausgeht, trifft das fast immer zu.«

Der Oberst hatte ein Messplanschiessen mit einer Talbot unterstellten schweren Batterie angeregt. Der weisse Falke und Major von Ballmann hatten den Vorschlag gutgeheissen, und das Schiessen fand statt.

Der Führer des Messtrupps erschien, ein älterer Landwehrleutnant mit scharfen, bedeutenden Zügen unter ergrauendem Haar, der eine Hornbrille trug. Er war Professor der Mathematik an der Universität Greifswald. Dann kam der Führer der schweren Batterie, Hauptmann der Reserve Filster, im Zivilberuf ein Hamburger Grosskaufmann. Nach einer Weile erschienen auch Ballmann und der weisse Falke, und zuletzt Oberst Thürmer. Er war gereizt, weil es ihm nicht gelungen war, die Exzellenzen zur Teilnahme an der Sache zu bewegen.

Der Professor hielt, auf Talbots Bitte, einen kurzen Vortrag über das Messplanschiessverfahren.

»Ich freue mich, dass Sie als Landwehroffizier die Sache so gut begriffen haben«, sagte Oberst Thürmer, als er fertig war. Der Professor sah ihn an wie einen Verrückten.

Das Schiessen begann. Eine Batterie bei Nowosiolki, die der Messtrupp erkannt und deren Stellung der Ballon bestätigt hatte, wurde unter Feuer genommen. Schuss auf Schuss rollte, ein vielfaches Echo weckend, durch den Wald. Die Einschläge blitzten auf, wurden gemessen; darauf erfolgte die Korrektur und schliesslich wurde aufgrund der Ergebnisse versucht, die russische Batterie zu zerstören.

Es dunkelte bereits; an dem fahlen Himmel jagten Wolken hin, darunter sprühte ein Feuerwerk von Leuchtkugeln; in weiter Ferne sah man die Blitze der feuernden Geschütze.

Die Russen rührten sich nicht. Die hundert Granaten, die zur Verfügung standen, waren verschossen; die Sache war zu Ende, und die höheren Offiziere ritten nach Hause.

Nur Hauptmann Filster und Leutnant von Leerodt standen noch neben Talbot an der Brüstung; vor ihnen lag der nächtliche Hochwald. Eine unwahrscheinliche Stille war nach dem langen Donnern der Kanonen eingetreten. Die Frösche begannen zu quaken, und in der Ferne blies ein Soldat auf einer Mundharmonika.

»Schön!« sagte Filster, in die Ferne schauend.

»So etwas sollte man öfter machen«, meinte Leutnant von Leerodt.

»Denken Sie, Kindchen, mal auch an die Russen. Glauben Sie, dass es denen Freude macht, morgen ihre Batterie in Ordnung bringen zu müssen, selbst wenn sie keine Verluste haben? Das mindeste ist doch, dass der russische Blinddarm sie umziehen lässt.«

»Und wenn Leute haben dran glauben müssen«, fiel Hauptmann Filster ein, »so denken Sie, kleiner Leutnant, dass jeder einer Mutter Kind ist.«

»Und heute nur deshalb sterben muss, weil Thürmer Beschäftigung sucht«, ergänzte Talbot.

Nach einer Weile verabschiedete sich auch Filster. Leerodt setzte sich auf die Treppe und rauchte eine Zigarette. Er hielt es für Zeit, gleichfalls nach Hause zu reiten, wagte aber nicht, seinen Kommandeur daran zu erinnern. Talbot regte sich nicht. Er sah hinunter nach der Beresina, deren Wasser im Mondlicht glitzerte. Am andern Ufer schien ein Mensch zu sitzen. Talbot sah aufmerksam nach ihm und sah, dass er eine Flöte am Munde hatte. Er spielte eine eintönige, traurige Melodie.

Trotz der Entfernung erkannte ihn Talbot. Es war sein bester, sein einziger wirklicher Freund, Hans Lucchesi, der dort sass und die Flöte blies. Er trug einen graugrünen Touristenanzug, hatte ein grünes Hütchen auf, das er ein wenig zurückgeschoben hatte. Im Mondlicht erkannte Talbot jeden Zug; nur auf der Stirn war ein runder Fleck, doch das mochte ein Schatten sein, vom ungewissen Licht verursacht.

Es kam Talbot gar nicht in den Sinn, dass Lucchesi unmöglich in einer Septembernacht im Jahr 1916 im Zivilanzug auf einer Wiese an der Beresina sitzen konnte. Er war so vom Flötenspiel des andern ergriffen, dass er an nichts anderes denken konnte.

Leise pfiff er die Melodie mit, dann immer lauter ...

»Das ist ja schauerlich! Das ist ja entsetzlich!« stammelte Leerodt, der aufgesprungen war.

Talbot drehte sich nach ihm um. Als er sich wieder abwendete und über die Brüstung sah, war die Wiese leer, drüben sass niemand.

»Was haben Sie, Leerodt?« fragte Talbot.

»Nichts, Herr Hauptmann, nur die Melodie war so schauerlich.«

Langsam wendete Talbot sich wieder zu ihm. »So haben Sie ihn auch Flöte spielen hören?«

»Wen? Herr Hauptmann haben eine so entsetzliche Melodie gepfiffen!«

»Sie haben die Flöte nicht gehört?!«

»Welche Flöte?«

»Hm.«

»Es war ja eine wahre Totenmusik ...«

»Dann hab' ich etwas gesehen ...« sagte Talbot, dem jetzt ein Schauer über den Rücken lief.

»Was denn? Gesehen?«

Aber Talbot schwieg. Dann, als sie die Treppe hinuntergingen, begann er plötzlich von seinem Freunde zu erzählen, und dass er ihn eben auf der Wiese drüben gesehen hatte.

»Sollten das nicht überreizte Nerven sein, Herr Hauptmann?« meinte Leerodt.

»Woher denn? Meine Nerven sind ganz ruhig. – Aber bitte halten Sie, mir zu liebe, über die Sache reinen Mund.«

»Gewiss, Herr Hauptmann.«

Sie ritten nach Tokaryszki, schweigsamer als sonst. Dort angekommen ging Talbot nach der Telefonzentrale, weckte den verschlafenen Fernsprecher und gab ein Telegramm an die Feldadresse seines Freundes auf.

Am andern Nachmittag kam die Antwort; »Hauptmann Graf Lucchesi heute Nacht durch Kopfschuss gefallen.«

Wortlos reichte Talbot das Heft, in das der Fernsprecher das Telegramm geschrieben hatte, dem Adjutanten und verliess das Zimmer.


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