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Rückzug

»Wollen Sie die freigewordene Adjutantenstelle besetzen?« hatte Talbot am andern Morgen zu Holtzem gesagt und ihn dabei lächelnd angesehen. Der lange Leutnant war rot geworden und hatte sogleich angenommen.

Jetzt war drei Uhr nachmittags. Sie hatten zwei Stunden gearbeitet. Holtzem ging schliesslich mit den Papieren, und Dr. Pfeilschmidt war mit seinen Angelegenheiten gekommen. Talbot lehnte sich müde zurück. »Ich könnte mit Cora auf die Hühnerjagd gehen«, sagte er, »die Schonzeit ist vorüber.«

»Sie sollten sich selber Schonzeit gönnen, Herr Baron«, sagte der Arzt. »Sie sind beängstigend mager geworden. Wie wäre es, wenn Sie Urlaub nähmen und für ein paar Wochen nach Sankt Blasien gingen ...«

»Ausgeschlossen. Erstens geht es mir ausgezeichnet, und so kurz vor dem Ende kann ich nicht fort.«

»Glauben Sie an ein baldiges Ende? Sie verstehen es ja besser, aber jetzt, da die Amerikaner da sind ...«

»Die werden verhauen. Kommen Sie, Doktor, wir wollen eine Pulle auf den sichern Sieg trinken.«

Sie gingen in Talbots Zimmer. »Ich bitte Sie um eins, Doktor«, sagte er, während er die Gläser füllte, »sprechen Sie immer und unter allen Umständen zuversichtlich über die Lage.«

Sie redeten darüber.

Als Talbot die dritte Flasche öffnete, fing Cousin im Stall an zu brüllen. Der Luftdruck einer Detonation warf Talbot fast vom Stuhl, sein Glas lag in Scherben auf dem Boden. Zwei ... drei ... fünf Fliegerbomben waren in nächster Nähe eingeschlagen. »Sauerei, verdammte!« rief Talbot und stürzte vor die Türe. In der Oktobersonne glitzerten dreissig oder mehr Farman- oder De Haviland-Apparate in der Luft. Schon heulten wieder eine Lage von Geschossen nieder.

Der Arzt war erschreckt aufgesprungen. »Doktor!« brüllte Talbot hereinstürzend, »Das nenne ich einen Torkel! Drei Schritt vor mir haut so'ne Bombe ein und geht nicht los.« Und er wies ihm den Blindgänger, der dicht vor der Türe halb im Boden steckte. Als wäre ein grosser schwarzer Rettich plötzlich vom Himmel gefallen, sah es aus. »Kommen Sie, reiben wir unsere Kalebassen aneinander! Wenn ich die Kerle nur abknallen könnte, alle dreissig, einen nach dem andern! Ich muss den Beefs noch den Gustav ankreiden. – Prost Doktor! Wenn die Schweine wieder ihre Ostereier hier abwerfen, muss ich den Mund voll Kaffeebohnen nehmen, damit Sankt Peter nicht merkt, wie besoffen ich angezwitschert komme!« Der Arzt schüttelte den Kopf. – »Doktor, ich habe gestern mein Testament gemacht. Das Haus hab' ich dem Wöbke vermacht und das Geld meiner Kusine und etwas davon Gustavs Mutter, die haben nischt. – Der Iwan wird es übrigens nicht bekommen. Der war nur Camouflage.«

»Lieber Herr Baron, seien Sie doch ruhiger! Wozu das alles? Wer denkt an so etwas?«

»Ich bin diesen Dingen viel näher als Sie glauben, Doktor ... Tote gibt es so viele ... viel mehr als Lebende ... und wer lebt denn eigentlich ...?«

»Ich möchte Sie nicht verletzen, Herr Hauptmann, aber hören Sie auf mich und legen Sie sich für eine Stunde hin!«

»Nee, was heisst hier Weihnachtsbaum, wenn keine Lichter brennen? – Ich hab' doch alles nur mit halbem Herzen getan, Doktor, und auch viel Unrecht. Nicht, dass ich's gewollt! Ja, die Frauenzimmer! ... Und nicht einmal eine richtige Liebe! ... Wissen Sie übrigens, um auf den Krieg zurückzukommen: der Kaiser hat der Generalität das Rückgrat gebrochen ... Daran liegt's. Aber das nur zu Ihnen, im Vertrauen. Gute Nacht, Doktor!«

Damit stand er auf und legte sich auf die Bettstelle. Der Doktor stand gleichfalls auf und verliess auf den Zehenspitzen das Zimmer.

Drei Stunden später ging Talbot, wieder vollkommen frisch, mit seinem neuen Adjutanten nach der Zitadelle. Es war ein windiger Abend, und die Sonne am Untergehen. Den ganzen Nachmittag waren Warenzüge und Truppenabteilungen an La Cessoie vorübergekommen. Jetzt fanden sie, als sie den Feldweg verliessen, alle Strassen von zurückfahrenden Kolonnen bedeckt. Trains, Artillerie, Minenwerfer, Fahrzeuge jeder Art, dazwischen Infanterietrupps, Kompanien von kaum dreissig Mann, viele Leute mit leichten Verbänden am Kopf und Armen, alle missmutig und müde, übernächtigt, mit grauen staub- und schweissbedeckten Gesichtern, zogen sie stumm daher, nur hie und da tönte ein Rufen oder Fluchen. Die spärlichen Offiziere ritten ermüdet und schweigend nebenher; immer wieder kam es zu Stockungen, dass ganze Wagenzüge halten oder die Infanteristen zusammengedrängt stehen bleiben mussten; der heftige Wind wirbelte unendlichen Staub auf, der in gelben Wolken die Strassen entlang wehte. Ueber den Hügeln lag ein roter Himmel, in den schwarz die Kirchtürme und Häuser ragten, während die Fenster am Rande der Stadt vor ihnen den letzten leuchtenden Schein der untergehenden Sonne zurückwarfen.

In weiter Ferne am Horizont ertönte Schiessen.

An der Brücke über den Kanal, über die bereits Geschütze und Munitionswagen rasselten, um unter den Befestigungen am andern Ufer ins Stadttor einzufahren, stauten sich die Kolonnen, da diejenigen, die über Lambersart kamen, den auf der grossen Strasse von Quesnoy und den einmündenden Seitenwegen herankommenden Zügen begegneten. Ein heftiges Fluchen, Zurückreissen von Pferden, ein »Halt!«, das nach rückwärts weiter und immer weiter gegeben wurde, um erneuten Aerger auszulösen. Ein Feldgendarm suchte Ordnung zu schaffen und eine Ueberlastung der Brücke zu verhüten. Die Strasse verstopfte sich immer mehr, und an ein Durchkommen war nicht zu denken. Erfolglos rief ein Motorradfahrer »Rechts heran!«; niemand kümmerte sich darum. Die Sonne war untergegangen, die Wiesen wurden fahl und die Dämmerung nahm zu. Ein Auto, mit dem schwarz-weiss-roten Divisionswimpel schob sich langsam, unter fortwährenden Trompetensignalen, an der Kolonne vorbei; ein Intendant und ein Kriegsgerichtsrat sassen darin. Etwa fünfzig Schritt von der Brücke entfernt kam der Wagen zum Stehen. Der Kriegsgerichtsrat stand auf und schrie einen Trainfahrer, der nicht ausbog an: »Scheren Sie sich mal rechts heran, gefälligst!« Erst war alles still; dann tönte aus der Kolonne der Ruf: »Licht aus! Messer raus! Haut ihn!« und schallendes Gelächter. »Drei Mann zum Blutrühren! Drei Mann zum Knochensammeln!« riefen Stimmen weiter rückwärts. Der Kriegsgerichtsrat setzte sich schweigend zurück, der Intendant war ganz bleich geworden.

Talbot und Leutnant Holtzem sahen und hörten alles und sprachen kein Wort. Endlich sagte Holtzem: »Unglaublich, die Disziplinlosigkeit bei den Kolonnen! Da müsste man mal drein fahren!«

»Wollen Sie's versuchen?« fragte Talbot ironisch. Dann ging er auf die Pferde des unmittelbar vor ihnen stehenden Trainwagens zu, klopfte ihnen den Hals, bog die schnobernden Köpfe sanft zurück, kam an ihnen vorbei, und langsam gelangten beide Offiziere durch den Zug hindurch und über die Strasse. Sie standen auf der andern Seite in den Wiesen. Wo sie hinsahen, auf allen Wegen sahen sie in der Ferne die sich bewegenden dunklen Streifen der zurückziehenden Kolonnen, unter grauen Staubwolken.

Sie gingen in der Richtung auf die Zitadelle weiter. Auf der Strasse von Lomme kam ein Dogkart, in dem General Heise mit einem Leutnant sass, der die Zügel führte. Talbot grüsste. Der General liess halten, reichte Talbot die Hand, begrüsste Holtzem, indem er zwei Finger an die Mütze legte, und sagte: »Wir sehen uns doch noch heute Abend in meinem Quartier?«

Talbot bestätigte, und riet dem General, durch die Anlagen an der Zitadelle und um diese herum zu fahren; er wies auf das Wagen- und Menschengewirr vor ihnen. Der General folgte dem Blick und sagte nur: Wenn jetzt Flieger kämen ...!«

Holtzem sah prüfend in den bleichen Himmel. »Kann man denn gar nichts mit den Leuten machen?« fragte er.

»Was wollen Sie machen?« fragte der General.

»Für Holtzem fahren da auf jeder Strasse dreihundert Jahre Mittelarrest spazieren. Aber es wird sie keiner absitzen, fürchte ich«, bemerkte Talbot.

Wann werden Sie umgekarrt haben, Latour?« fragte der General noch.

»Ich warte bis in die frühen Morgenstunden, Herr General. Ich will nicht mehr Gedränge schaffen. Die Engländer lassen uns ja Zeit.«

»Gewiss. Es ist ja auch noch immer nur ein strategischer Rückzug. Taktisch sind wir nicht geschlagen.« Er legte die Hand an die Mütze, und der kleine Wagen fuhr weiter.

»Herzlichen Glückwunsch!« murmelte Talbot hinter ihm. Holtzem machte ein entrüstetes Gesicht.

Sie schritten weiter nach den dunkelnden Anlagen, wo die Mörserbatterie noch immer unter den Platanen stand. Wie vor zwei Tagen, als Talbot zum letzten Mal mit Leerodt da gewesen war, standen Bürger der Stadt, Frauen und Kinder herum, nur dass nicht geschossen wurde. Der Oberleutnant, der die Batterie führte, meldete die Feuerstellung; dann fragte er, was er mit der vielen noch vorhandenen Munition machen sollte. »Sie kann nicht mehr verladen werden. Soll ich sie verfeuern? Es wird den Engländern gut tun!

»Meinetwegen«, sagte Talbot, »Schiessen Sie. Vielleicht stehen sogar welche dort, wo Sie hintreffen.«

Sie gingen weiter um die grasbewachsenen Abhänge der Zitadelle herum, den Kanal entlang, in die Stadt und der 'Place de la Republique' zu. Die Strassen waren voll von Soldaten, die ungeordnet und müde, mit umgehängten Gewehren über das Pflaster trotteten. Es war völlig Nacht geworden, vor ihnen, da wo die Strasse auf den Hauptplatz mündete, war ein Gedränge von Soldaten und Liller Bürgern, von drüben hörten sie dumpfes Stimmengewirr. Sie kamen ohne viel Mühe hindurch.

Alle Fenster in den Häusern um den Platz waren geöffnet und mit Menschen besetzt. Oben leuchtete der Mond, an dem Wolkenfetzen vorüberjagten. Auf dem Platz, über den der Wind

fegte, lagen im Mondlicht mehrere tausend Mann auf den Knien, die Offiziere vor der Front, alle mit abgenommenen Helmen. Ganz vorne kniete, von Adjutanten umgeben der General. Ordonnanzen knieten neben den die Köpfe schüttelnden Pferden. Auf einem Podest vor der Säule von 1792 mit der Statue der Republik stand der Priester barhaupt im Ornat und sprach. Talbot hörte die Worte: »Kraft meines priesterlichen Amtes erteile ich Euch allen die Absolu-tion ...« das andere verhallte im Wind und war für ihn nicht verständlich. Dann erhoben sich die Reihen, Waffen klirrten, Kommandos tönten, die Truppen ordneten sich und begannen abzumarschieren. Die Fenster schlossen sich.

»Es muss eine bayrische Division sein«, sagte Talbot, und wendete sich an einen Offizier: »Werdet Ihr wieder eingesetzt?«

»Ja«, antwortete der, »wir Bayern müssen's natürlich noch halten!«

»Wohin geht's?«

»Ueber Haubourdin hinaus.«

»Hals- und Beinbruch!«

Dröhnend, im Gleichschritt, während die Kapelle den Defiliermarsch spielte, verliess die Division kompanieweise den Platz. Räder rasselten über das Pflaster, Offiziere, hinter den Reihen halb sichtbar, wendeten sich im Sattel zurück; blasend, mit Paukenschlag und klirrenden Tschinellen kam die Kapelle vorüber.

Talbot ging nach der Rue de la Barre, nach dem Haus, in dem der Stab des Artillerie-Kommandeurs lag, und meldete sich zur Stelle. Vor dem Hauseingang hielten zwei Lastautos. Ordonnanzen liefen auf und ab; Türen standen offen, Kisten wurden gepackt und zugehämmert, die Treppen heruntergeschafft und verladen, Fernsprecher wickelten ihre Drähte auf. »Das alles muss heut noch zur Division!« rief jemand unten.

»Die scheinen's mal wieder höllisch eilig zu haben«, sagte Talbot, »hier spukt der Geist des weissen Falken noch.«

General Heise war noch beschäftigt, und Talbot liess sich in einen Stuhl fallen.

Ein Fenster stand offen und schlug. Durch die Strassen fegte der Wind und fuhr mit heftigem Zuge durch die schlecht erleuchteten Räume, dass die Lichter flackerten. Draussen feuerte die Batterie, Schuss auf Schuss erdröhnte ganz nahe; aus der Ferne kam das antwortende Feuer der Engländer. Am Himmel war ein roter Schein. Irgendwo in der Nähe musste ein Dorf brennen. Weisse Magnesiumlichter schwebten an kleinen Fallschirmen zu Dutzenden zur Erde.

Ein Offizier kam ins Zimmer und schloss das Fenster. »Hier sind wir ganz sicher«, sagte er, »nach Lille herein schiessen die Engländer nicht. So kurz vor dem Frieden tun sie das den Franzosen nicht an.

»Weiss man was wird?« fragte Holtzem.

»Oh ja«, antwortete ein anderer, der gleichfalls eingetreten war. »Wir gehen jetzt langsam nach der Antwerpen-Maas-Linie zurück. Dann wird man ja weiter sehen. Den Winter über wird's wohl noch dauern.«


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