Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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1. Kapitel.

Erpressung.

In der Mitte der Hauptstraße von Highmarket stand eine wuchtige, massive Torfahrt, die noch aus dem Mittelalter stammte. Wenn man hindurchging, kam man auf einen quadratischen Hof, zu dessen Seiten sich alte Steinhäuser erhoben. Welcher Bestimmung diese Gebäude früher gedient hatten, war nicht mehr zu erkennen, jetzt wurde hier ein Baugeschäft betrieben. Große Stapel norwegischen Holzes türmten sich an der Mauer; Schieferplatten aus Wales, Marmorstufen aus Aberdeen und Zement von Portland lagerten hier in Mengen. Die Räume der Gebäude waren mit allen möglichen Materialien gefüllt, die zum Hausbau benötigt wurden: Tür- und Fensterbeschläge aus Eisen und Bronze, Zink, Blei, Dachziegel, Röhren und alle Bedarfsartikel, die die moderne Technik dafür geschaffen hatte. Auf einer polierten Messingplatte am Eingang konnte man den Namen der Firma lesen: »Mallalieu & Cotherstone, Baugeschäft.«

An einem Oktobernachmittag standen die beiden Inhaber auf dem Hof. Sie waren eben aus dem Büro gekommen, um die neuen Transportwagen zu besichtigen, die nach den Zeichnungen Mallalieus gebaut worden waren. Er zeigte Cotherstone, der sich mehr mit der Buchhaltung und der Korrespondenz befaßte, stolz ihre Vorzüge.

Mallalieu war ein großer, stattlicher Mann zwischen fünfzig und sechzig Jahren. Er sah repräsentativ und würdevoll aus und hielt viel auf gute Kleidung. Seine kleinen Augen blitzten lebhaft und schienen alles zu beobachten. Er hatte den Hut ein wenig in den Nacken geschoben und wies eben auf einige Einzelheiten der Entladevorrichtungen hin.

»Siehst du, Cotherstone, mit einem einzigen Handgriff kann man den ganzen Wagen entladen. Man sollte sich die Idee eigentlich patentieren lassen.«

Cotherstone trat etwas näher. Er war im Gegensatz zu seinem Kompagnon schlank und beweglich. Obwohl er jünger als Mallalieu war, sah er doch älter aus; an den Schläfen war sein dünnes Haar schon ergraut. Mallalieu machte den Eindruck unverwüstlicher Kraft und Gesundheit; in Cotherstones unruhigem Wesen, in seiner Sprache und in seinen Bewegungen verriet sich dagegen eine Nervosität, die fast an Furcht grenzte. Er ging schnell um den einen Wagen herum und betrachtete ihn von allen Seiten.

»Das stimmt«, erwiderte er. »Es ist eine gute Idee, aber wenn sie patentiert werden soll, müssen wir uns sofort darum kümmern, ehe diese Wagen in Betrieb genommen werden.«

»Nun, so gefährlich ist es nicht! In Highmarket versteht niemand etwas davon oder ist so schlau, uns das Geheimnis abzugucken«, meinte Mallalieu in guter Laune. »Vielleicht könnte man die Sache vorläufig als Musterschutz anmelden.«

»Ich will daran denken. Auf jeden Fall lohnt es sich.«

Mallalieu zog seine große, goldene Uhr aus der Tasche und sah auf das juwelenbesetzte Zifferblatt.

»Alle Wetter!« rief er. »Schon vier Uhr! Ich habe eine Sitzung im Rathaus in einer Viertelstunde – aber bevor ich nach Hause gehe, komme ich noch einmal her.«

Er eilte durch das Tor hinaus. Cotherstone betrachtete die Wagen noch einmal eingehend, sah einige Papiere durch, die er in der Hand hielt, und ging dann in das Lager, um die neuangekommenen Sendungen zu prüfen. Er war noch damit beschäftigt, als ein Angestellter zu ihm trat.

»Mr. Kitely ist gekommen, um seine Miete zu bezahlen. Er möchte Sie selbst sprechen.«

»Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig«, zählte Cotherstone, dem diese Unterbrechung sehr ungelegen kam. »Führen Sie ihn in mein Privatbüro. ich komme gleich hinüber.«

Er führte die begonnene Arbeit erst zu Ende, trug den genauen Befund in eine Liste ein und wandte sich dann zu den Büroräumen. Kurze Zeit später begrüßte er in seinem Privatkontor einen älteren Herrn, der vor kurzem an der Stadtgrenze ein Haus von ihm gemietet hatte.

»Guten Tag, Mr. Kitely! Ich freue mich, Sie wieder einmal zu sehen. Leute, die ihre Miete bezahlen, sind immer willkommen. Nehmen Sie bitte Platz. Hoffentlich sind Sie mit der Wohnung dort zufrieden?«

Der Besucher setzte sich, legte die Hände auf seinen altmodischen Spazierstock und sah seinen Hauswirt mit einem merkwürdigen Lächeln an. Nach seiner schlanken, etwas zu hageren Gestalt, dem abgetragenen, schwarzen Anzug und der Krawatte hätte man ihn für einen Geistlichen halten können. Er war glatt rasiert und schon ergraut. Cotherstone wußte nur, daß dieser Mann in der Lage war, seine Mieten und Steuern regelmäßig zu zahlen, und hielt ihn für einen pensionierten Kirchendiener.

»Man sollte doch denken, daß Sie und Mr. Mallalieu kein Geld brauchen«, sagte er ruhig. »Ihr Geschäft scheint ja sehr flott zu gehen.«

»Ach, es ist alles nicht so, wie es aussieht. Wir haben uns allerdings nicht zu beklagen, Mr. Kitely.« Er setzte sich an den Schreibtisch und schrieb eine Quittung aus. »Sie zahlen fünfundzwanzig Pfund im Jahr, das macht 6 Pfund und 5 Schilling pro Quartal. Darf ich Ihnen ein Glas Whisky einschenken?«

Kitely nahm einige Banknoten und Silbergeld heraus, zählte sie auf und nahm die Quittung. Aber er sah Cotherstone immer noch mit dem eigentümlichen lächelnden Ausdruck an.

»Danke, das nehme ich gern an.«

Er beobachtete Cotherstone, der eine geschliffene Whiskyflasche und Gläser aus dem Schranke nahm und von einem Filter in der Ecke frisches Wasser holte, um die Getränke zu mischen. Dann nahm er das Glas mit einem höflichen Nicken und trank Cotherstone zu.

»Wie gefällt es Ihnen denn in Ihrem Haus, Mr. Kitely? Haben Sie etwas auszusetzen?«

»Nein, nicht daß ich wüßte.«

Es lag eine merkwürdige Zurückhaltung in Kitelys Wesen, und Cotherstone schaute ihn etwas verwundert an.

»Und Highmarket gefällt Ihnen auch? Sie wohnen ja nun schon einige Zeit hier und haben sich sicher ganz gut eingelebt.«

»Es ist alles so, wie ich es erwartet hatte«, entgegnete Kitely. »Schön ruhig und friedlich. Und wie geht es Ihnen hier?«

»Wie es mir hier geht?« fragte Cotherstone erstaunt. »Ich bin doch schon seit fünfundzwanzig Jahren hier!«

Kitely nahm einen Schluck aus seinem Glase, setzte es dann auf den Tisch und sah Cotherstone durchdringend an.

»Ja, Sie haben recht. Vor fünfundzwanzig Jahren kamen Sie mit Ihrem Teilhaber hierher. Und vor dreißig Jahren machte ich zum erstenmal Ihre Bekanntschaft. Aber das haben Sie wahrscheinlich vergessen.«

Cotherstone richtete sich plötzlich auf und warf Kitely einen fragenden Blick zu. Seine scharfen Züge sahen noch angespannter aus als sonst.

»Was sagten Sie da eben?« fragte er unsicher.

»Vor dreißig Jahren lernte ich Sie und Mr. Mallalieu kennen. Ich dachte mir schon, daß Sie es vergessen hätten – ich aber nicht!«

Cotherstone starrte seinen Besucher sprachlos an, dann erhob er sich langsam, ging zur Tür, vergewisserte sich, ob sie geschlossen war, und kam dann wieder zurück.

»Was meinen Sie denn?«

»Was ich sage!« entgegnete Kitely mit einem trockenen Auflachen. »Es ist dreißig Jahre her, seitdem ich Sie zuerst sah.«

»Wo denn?«

Kitely forderte ihn durch eine Handbewegung auf, sich zu setzen, und Cotherstone gehorchte. Er fuhr zusammen, als Kitely die Hand auf seinen Arm legte.

»Wollen Sie wirklich wissen, wo das war?« fragte er, indem er sich näher zu Cotherstone neigte. »Nun, ich will es Ihnen sagen. Sie saßen damals beide auf der Anklagebank vor den Geschworenen!«

Cotherstone antwortete nicht. Er hatte die Spitzen seiner Finger zusammengelegt und starrte dauernd in Kitelys Gesicht, als ob dieser von den Toten auferstanden wäre. Er fühlte sich entsetzlich elend und willenlos; es war ihm, als ob er unter dem Bann einer Hypnose stände. Er konnte sich weder bewegen noch sprechen, während Kitely ihn berührte und ihn unheilvoll ansah.

»Ja, das sind nun einmal Tatsachen«, fuhr Kitely fort, »daran läßt sich nichts ändern. Ich kann mich jetzt auf alles besinnen. Nach und nach ist es mir wieder eingefallen. Sie und Mallalieu kamen mir gleich bekannt vor. Damals hießen Sie natürlich noch nicht Mallalieu und Cotherstone, sondern Sie waren ganz einfach –«

Cotherstone schüttelte plötzlich die Hand des andern ab. Sein blasses Gesicht wurde dunkelrot, und die Adern auf seiner Stirn traten hervor.

»Verdammt noch einmal, wer sind Sie denn eigentlich?« fragte er leise, aber heftig.

Kitely schüttelte den Kopf und lächelte ruhig.

»Sie brauchen sich deswegen nicht aufzuregen, obwohl das von Ihrem Standpunkt aus ja erklärlich ist. Wer ich bin? Ich trat vor fünfunddreißig Jahren in die Polizeitruppe ein und war noch bis vor kurzer Zeit dort tätig.«

»Also ein Detektiv!« rief Cotherstone.

»Das war ich damals noch nicht, als ich Sie vor Gericht sah. Das kam erst später. Ich habe mir nachher noch manchmal überlegt, was wohl aus Ihnen geworden sein könnte, aber ich habe mir niemals träumen lassen, daß ich Sie hier treffen würde. Sie haben sich also nach dem Norden gewandt, nachdem Sie Ihre Zeit abgesessen hatten, haben Ihren Namen geändert, ein neues Leben begonnen, und nun sitzen Sie hier. Ausgezeichnet, muß ich sagen!«

Cotherstone hatte sich inzwischen gefaßt. Er war aufgestanden und lehnte nun mit dem Rücken gegen den Kamin. Er dachte nach, und, um Zeit zu gewinnen, ließ er seinen Besucher ruhig weiterreden.

»Das haben Sie fein gekonnt! Wahrscheinlich haben Sie einen Teil des Geldes, das Ihnen damals in die Hände fiel, sorgfältig versteckt. Denn um ein solches Geschäft anzufangen, braucht man doch Geld. Nachher ließen Sie sich natürlich nichts mehr zuschulden kommen und wurden dann ganz wohlhabende Leute. Mr. Mallalieu ist sogar Bürgermeister von Highmarket! Zum zweitenmal von der Gemeinde gewählt! Und Mr. Cotherstone ist Stadtkämmerer und versieht diesen wichtigen Posten schon im sechsten Jahre! Ich muß nur immer wiederholen, daß Ihnen das außerordentlich gut geglückt ist.«

»Wollen Sie nicht noch mehr erzählen?« fragte Cotherstone etwas ironisch.

Aber Kitely hatte anscheinend die Absicht, alles nach seinem eigenen Gutdünken vorzubringen, denn er überhörte Cotherstones Frage vollkommen und sprach weiter, als ob ihm die Erinnerung an vergangene Zeiten Spaß mache.

»Ja, Sie müssen ein schönes Anfangskapital gehabt haben. Das war natürlich gut und sicher irgendwo angelegt, während Sie im Kittchen saßen. Sie haben doch damals eine Baugenossenschaft betrogen? Mallalieu war der Schatzmeister, und Sie waren der Sekretär, ich weiß es ganz genau. Sie hatten zweitausend –«

Cotherstone machte eine plötzliche Bewegung, als ob er sich auf den andern stürzen wolle, aber Kitely hielt ihn zurück und sah ihn scharf an.

»Unterlassen Sie das lieber!« sagte er grinsend und zeigte seine häßlichen, gelben Zähne. »Sie können mich doch nicht gut hier in Ihrem eigenen Büro totschlagen. Meine Leiche könnten Sie jedenfalls nicht so gut verstecken wie das Geld, das Sie damals unterschlagen haben. Aber seien Sie ruhig, ich bin ein vernünftiger Mann, der mit sich reden läßt, und außerdem bin ich schon alt.«

Cotherstone ging im Raum auf und ab, um seiner Erregung Herr zu werden.

»Denken Sie einmal ruhig über die Sache nach. Außer mir wird wohl niemand mehr in England Ihr und Mallalieus Geheimnis kennen. Es war der reinste Zufall, daß ich es überhaupt entdeckt habe, aber ich weiß es nun einmal. Überlegen Sie sich einmal, was das bedeutet, vor allem, was Sie verlieren können. Mallalieu genießt hier so großes Ansehen, daß man ihn zum zweitenmal zum Bürgermeister gewählt hat, und Sie sind nun schon seit sechs Jahren Stadtkämmerer. Sie können es sich nicht leisten, daß ich zu den Leuten in Highmarket gehe und ihnen sage, man hätte es bei Ihnen mit zwei früheren Verbrechern zu tun. In Ihrem Fall liegt die Sache außerdem noch anders, denn Sie haben eine Tochter.«

Cotherstone stöhnte. Er konnte diese Qual kaum länger ertragen, aber Kitely fuhr erbarmungslos fort.

»Ihre Tochter wird den aussichtsreichsten jungen Mann hier in der Stadt heiraten, er hat noch eine Karriere vor sich. Meinen Sie, der würde sie nehmen, wenn er wüßte, daß sein zukünftiger Schwiegervater früher ein Zuchthäusler war – selbst wenn die Geschichte schon dreißig Jahre zurückliegt.«

»Ich habe jetzt genug«, unterbrach ihn Cotherstone leidenschaftlich. »Ich sehe ja, worauf das alles hinausläuft. Es ist ganz gemeine Erpressung! Wieviel wollen Sie haben? Es hat keinen Zweck, noch lange darum herumzureden.«

»Ich nenne durchaus keine Summe, bis Sie mit Mallalieu gesprochen haben. Die Sache kann in aller Ruhe erledigt werden. Sie können nicht und ich werde nicht davonlaufen. Ich habe Sie in der Hand, sagen Sie das nur dem Bürgermeister. Dann beraten Sie und überlegen sich, wieviel Ihnen die Sache wert ist. Setzen Sie mir ein Jahresgehalt aus, das wäre mir ganz angenehm.«

»Haben Sie schon mit jemand darüber gesprochen?« fragte Cotherstone ängstlich.

»Glauben Sie denn, daß ich so verrückt bin? Sie wissen jetzt alles. Morgen nachmittag komme ich wieder, und dann machen Sie mir einen Vorschlag.«

Er trank sein Glas aus und ging fort, ohne sich zu verabschieden.

 


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