Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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5. Kapitel.

Der Strick.

Brereton hatte auf dem ganzen Weg über eine Sache nachgedacht. Cotherstones seltsame Gemütsverfassung fiel ihm auf, und je länger er mit ihm zusammen war, desto deutlicher kam es ihm zum Bewußtsein. Als sie jetzt vor dem Hause standen, fiel ein Lichtschein auf Cotherstones erregtes Gesicht. Brereton hatte den Eindruck, daß Cotherstone fast beglückt war und sich über etwas zu freuen schien. Jedenfalls war sein ganzes Benehmen außergewöhnlich. Als Garthwaite ihm die Nachricht brachte, war er beinahe ohnmächtig geworden, aber als er sich dann wieder gefaßt hatte, schien er eine große Erleichterung zu spüren.

»Wir haben etwas Wichtiges entdeckt«, wiederholte Cotherstone. »Das wird bei der Aufklärung gute Dienste leisten.«

»Was denn?« fragte Bent. Auch ihm fiel das merkwürdige Betragen seines zukünftigen Schwiegervaters auf, und er sah ihn ganz verwundert an.

»Es ist komisch, daß wir das nicht gleich zu Anfang gesehen haben«, sagte Cotherstone.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete Bent fast ungeduldig.

Cotherstone lachte leise vor sich hin und nahm die beiden mit in das Haus.

»Kommen Sie und sehen Sie selbst.«

Die drei traten in das geräumige Wohnzimmer. Im Kamin brannte ein helles Feuer, und zu beiden Seiten standen bequeme Sessel. Vor einem derselben stand ein Paar Pantoffeln, und auf dem Tisch sah man einen alten Tabakskasten, eine Pfeife, eine Whiskyflasche, ein Glas und eine kleine Schale mit Zucker und Zitronen. Kitely war daran gewöhnt, nach seinem Abendspaziergang einen Schlaftrunk zu nehmen und eine Pfeife zu rauchen. Eine offene Tür führte zum Schlafzimmer; dort lag Kitelys Leiche nun auf dem Bett. Der Arzt und der Sergeant neigten sich über ihn. Die anderen Beamten standen am Tisch im Wohnzimmer, und der eine Polizist, der die Brieftasche gefunden hatte, wandte sich an Cotherstone.

»Der Doktor nimmt den Strick gerade ab«, sagte er leise, aber doch so verständlich, daß ihn alle hören konnten.

»Ja, es sieht so aus.«

Der Doktor und der Sergeant kamen jetzt ins Wohnzimmer. Der Arzt legte eine Schnur auf den Tisch, so daß alle sie sehen konnten. Es war die graue Leine, mit der man Mr. Kitely erwürgt hatte.

»Wenn man herausbekommen könnte, wem der Strick gehört«, sagte er und sah den Polizeisergeanten an. »Sie sagten doch vorher, daß es ein Strick ist, wie ihn die Schlächter benützen?«

»Ja, die Schweineschlächter brauchen diese Stricke«, erwiderte der Polizist, der neben Cotherstone stand. »Die Schweine werden damit auf der Schlachtbank festgebunden.«

»Man sieht, daß der Strick oft benützt worden ist«, meinte Dr. Rockcliffe. »Und anscheinend ist er von einem längeren Stück abgeschnitten. Der Schnitt ist erst vor kurzer Zeit mit einem scharfen Messer gemacht worden.«

»Hier in der Nähe wohnt ein Mann, der Schweine schlachtet und solche Stricke braucht«, sagte der Sergeant plötzlich. »Sie wissen, wen ich meine – die Leute nennen ihn Gentleman Jack.«

»Meinen Sie etwa Harborough?« fragte der Arzt. »Am besten fragen Sie ihn gleich. Vielleicht hat ihm jemand den Strick gestohlen. Aber es gibt natürlich noch viel mehr Schweineschlächter in der Stadt.«

»Aber nicht in dieser Gegend«, bemerkte der Polizist.

»Bis jetzt steht also folgendes fest«, sagte Dr. Rockcliffe. »Kitely ist mit diesem Strick erwürgt worden, und man hat ihm alle wertvollen Gegenstände geraubt, die er bei sich trug. Vielleicht stellen Sie einmal klar, Sergeant, was er bei sich hatte? Fragen Sie doch seine Haushälterin.«

Miß Pett kam gerade aus dem Nebenzimmer, wo sie schon alle Vorbereitungen getroffen hatte, um den Toten aufzubahren. Sie war ebenso ruhig wie vorher, als Bent ihr die Nachricht überbrachte, und zeigte nicht die geringste Erregung.

»Können Sie uns etwas Genaueres mitteilen?« fragte der Sergeant. »Mr. Kitely ist offensichtlich beraubt worden. Wissen Sie vielleicht, was er bei sich hatte?«

Die Haushälterin setzte die Wäsche, die sie in das Schlafzimmer tragen wollte, auf einen Sessel nieder, bevor sie antwortete. Sie schien tief nachzudenken, aber dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich kann es zwar nicht genau sagen, aber es sollte mich nicht wundern, wenn es sehr viel war. Er trug immer eine Menge Geld mit sich herum, und heute abend hatte er wahrscheinlich außergewöhnlich viel bei sich.«

»Warum denn?« fragte der Sergeant.

»Weil er heute seine Pension auf der Bank abholte. Ich weiß nicht, um welche Summe es sich handelt, denn er war in mancher Beziehung wenig mitteilsam. Er hat mir darüber nie etwas gesagt. Aber soviel weiß ich doch, daß es eine größere Summe war. Heute morgen ging er zur Bank – das tat er alle Vierteljahr einmal – und heute nachmittag erwähnte er, daß er zu Mr. Cotherstone gehen und die Mieten bezahlen wolle.«

»Das hat er auch getan«, bestätigte Cotherstone.

»Und den ganzen Rest muß er noch gehabt haben«, fuhr Miß Pett fort. »Außerdem hatte er auch noch anderes Geld bei sich, denn er hat noch Einnahmen außer seiner Pension. Er gehörte zu den Leuten, die immer bares Geld mit sich herumtragen. Das war sehr unklug von ihm. Dann besaß er eine sehr teure goldene Uhr mit Kette. Er hat mir früher einmal gesagt, daß es ein Geschenk war, und daß sie ungefähr hundert Pfund wert ist. Seine Brieftasche hatte er natürlich auch dabei. Darin hatte er allerhand Papiere.«

»Ist es vielleicht diese Tasche?« fragte der Sergeant.

»Ja, das ist sie«, erklärte Miß Pett. »Aber sie war immer voll von Briefen und Papieren. Sie war doch nicht leer, als Sie sie fanden?«

Der Polizist nickte.

»Also doch!« fuhr die Haushälterin fort. »Wenn er ermordet wurde, hatte das auch seinen Grund! Ganz abgesehen davon, daß man ihm das Geld genommen hat, wollte man auch noch seine Papiere haben!«

»Sagen Sie uns etwas von seinen Gewohnheiten«, fuhr der Sergeant fort, ohne auf ihre letzte Bemerkung einzugehen. »Ging er jeden Abend hier im Wald spazieren?«

»So regelmäßig wie eine Uhr«, entgegnete Miß Pett. »Gewöhnlich las und schrieb er, aß zu Abend, ging noch eine Stunde hier in der Nähe umher, kam dann nach Hause, zog die Pantoffeln an, rauchte eine Pfeife und braute sich einen warmen Schlaftrunk. Sehen Sie, hier steht alles für ihn bereit. Dann ging er zu Bett. Er führte ein sehr regelmäßiges Leben.«

»Und heute abend blieb er länger als gewöhnlich aus?« fragte Bent. »Sie sagten doch vorhin so etwas, als wir kamen.«

»Ja, heute war es länger. Es war natürlich verschieden, manchmal etwas länger, manchmal etwas kürzer. Er ging auf dem ganzen Waldrücken entlang. Ich habe ihn mehr als einmal gewarnt.«

»Aber warum denn?« fragte Brereton, dessen Neugierde erwacht war. »Welchen Grund hatten Sie denn, ihn zu warnen?«

Miß Pett wandte sich um und sah Brereton scharf an. Nachdem sie ihn von Kopf bis zu Fuß gemustert hatte, lächelte sie.

»Ich weiß schon, welchen Beruf Sie haben«, sagte sie dann. »Sie sind auch so ein Rechtsanwalt. Ich habe schon oft mit solchen Leuten zu tun gehabt. Und Sie scheinen sehr tüchtig zu sein, trotzdem Sie noch jung sind. Haben Sie noch niemals gehört, daß man Ahnungen haben kann?«

»Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie ihn nur deshalb gewarnt haben, weil Sie eine Ahnung hatten! Sagen Sie mir doch Ihren wirklichen Grund!«

»Frauen besitzen eben ein Gefühl, das Männer nicht haben. Aber ich hatte natürlich auch noch andere Gründe. Mr. Kitely hat immer in London gelebt, und ich bin vom Lande. Er konnte nicht verstehen, daß man in einsamen Gegenden wie hier nicht spät abends allein spazierengehen kann. Ich habe mit ihm häufig darüber gesprochen. Ich sagte ihm, daß das nächste Anwesen in der einen Richtung dort unten am Fuß der Hügel liegt, in der andern ist es Mr. Harboroughs Haus. Die Gegend ist so unübersichtlich, und es gibt soviel Gesindel. Aber er hat mir nie geglaubt, und nun ist es auch so gekommen, wie ich es ihm prophezeit habe.«

»Aber Sie sagten doch noch eben, daß man ihn wahrscheinlich nur wegen der Wertsachen ermordet hat«, bemerkte Brereton.

»Wenn die Papiere aus seiner Brieftasche fehlen, muß sich doch jemand dafür interessiert haben. Auf jeden Fall ist das eingetreten, was ich erwartet habe. Und es läßt sich nichts daran ändern, er ist eben tot. Ich wäre sehr froh, wenn einer von Ihnen mir eine Frau schicken würde, damit ich den Toten aufbahren kann, denn das kann ich nicht alles allein tun. Auch kann man nicht von mir erwarten, daß ich allein mit ihm hier bleibe.«

Der Arzt und ein Polizist blieben noch zurück, um die weiteren Anordnungen mit Miß Pett zu besprechen; der Sergeant und die anderen entfernten sich wieder.

»Ich gehe noch zu Harborough hinüber. Sein Haus liegt auf der anderen Seite des Hügels«, sagte der Beamte zu Cotherstone. »Ich glaube allerdings nicht, daß ich dort viel erfahren kann. Aber auf jeden Fall will ich nachsehen, ob er zu Hause ist. Wenn Sie mitkommen wollen, meine Herren, soll es mir recht sein.«

Bent legte die Hand auf Cotherstones Arm.

»Brereton und ich werden den Sergeanten begleiten, Sie gehen besser nach Hause, Lettie wird sich ängstigen. Gehen Sie auch mit, Mr. Garthwaite, Sie erfahren ja später noch alles.«

Brereton war erstaunt, daß Cotherstone sich so ruhig fortschicken ließ. Garthwaite begleitete ihn, während die anderen in entgegengesetzter Richtung weitergingen.

»John Harborough ist ein merkwürdiger Mensch«, sagte Bent zu seinem Freund. »Er ist vielbeschäftigt, fängt Ratten und Maulwürfe und betätigt sich in der Zwischenzeit als Wilddieb. Wirklich ein komischer Kauz, nicht nur seinem Charakter, sondern auch seiner Erscheinung nach. Und das Sonderbarste an ihm ist, daß er eine wirklich hübsche Tochter hat, ein feines Mädchen. Sie hat eine gute Erziehung genossen und verdient ihren Lebensunterhalt als Gouvernante in der Stadt. Es ist ein seltsames Paar!«

»Wohnt sie denn bei ihrem Vater?«

»Ja, und ich glaube sogar, die beiden haben sich gern. Es liegt ein Geheimnis um diesen Mann. Er ist sehr gebildet, und deshalb nennen ihn die Leute hier auch Gentleman Jack.«

»Werden wir die junge Dame nicht erschrecken, wenn wir so spät abends hinkommen? Wäre es nicht besser, daß nur einer von uns ginge?«

Als sie aber an ihr Ziel kamen, lag das Haus in vollständiger Dunkelheit vor ihnen.

»Sie sind aber noch nicht zu Bett gegangen«, bemerkte einer der Polizisten. »In der Küche brennt ein ordentliches Feuer, und sie haben sich sicher nicht gelegt, ohne es auszulöschen. Wahrscheinlich sind sie ausgegangen.«

»Gehen Sie einmal zur Tür und klopfen Sie«, sagte der Sergeant und folgte dem Polizisten über den mit Steinen belegten Gang zur Haustür. Die beiden anderen gingen hinterher. Brereton sah ein altes, strohgedecktes Haus vor sich, das in einem hübschen Garten zwischen Bäumen und Sträuchern stand. Auf der einen Seite war das Dach etwas weiter heruntergezogen und deckte einen Schuppen, der sich an der Längsseite des Hauses hinzog.

Plötzlich erklangen schnelle, leichte Schritte hinter ihnen, und die Polizisten leuchteten mit ihren Laternen in diese Richtung. Brereton wandte sich scharf um und sah eine junge Dame, die verwundert auf die vier Herren sah. Sie hatte schöne, graue Augen.

 


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