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Als Brereton das Rathaus nach der Verhandlung verließ, in der Cotherstone freigesprochen und entlassen wurde, hielt ihn plötzlich ein eleganter junger Mann an, der seiner äußeren Erscheinung nach auch ein Jurist sein mußte.
»Habe ich die Ehre mit Mr. Gifford Brereton?« fragte er. »Ich habe hier einen Brief für Sie.«
Brereton nahm das Schreiben und trat mit dem Fremden in eine stille Ecke. Der Brief kam von einem Londoner Rechtsanwalt, mit dem er schon mehrere Male zusammen gearbeitet hatte:
»Hotel Belgravia, Norcaster.
Sehr geehrter Mr. Brereton,
ich bin soeben hier angekommen und bin in einer Angelegenheit tätig, die auch Sie in der letzten Zeit beschäftigt hat. Ich wäre Ihnen zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie sofort zu mir kämen und die Tochter Ihres Klienten Harborough mitbrächten. Es ist wichtig, daß sie Sie begleitet. Der Überbringer wird ein Auto für Sie bereithalten.
Hochachtungsvoll
H. C. Carfax.
Brereton steckte den Brief ein und wandte sich an den Boten.
»Mr. Carfax schreibt mir, daß ich mit Ihnen nach Norcaster fahren soll.«
»Der Wagen steht hier um die Ecke. In zwanzig Minuten können wir am Ziel sein.«
Nachdem sie eingestiegen waren, gab Brereton dem Chauffeur Weisung, zuerst bei der Villa von Mr. Northrop vorzufahren.
Unterwegs erfuhr er, daß Mr. Carfax bei einer befreundeten Rechtsanwaltsfirma in Norcaster zur Beratung eingetroffen sei.
Vor dem Hause Northrops wurde gehalten, und kurze Zeit später stieg Avice in den Wagen.
»Dieser Besuch in Norcaster hat sicher etwas mit Ihrem Vater zu tun«, sagte Brereton, als sie neben ihm saß. »Ich habe das Gefühl, daß jetzt alles zu einem guten Ende kommt.«
Die Fahrt verging wie im Fluge, bald hielt das Auto vor einem großen, stattlichen Hotel in Norcaster. Avice und Brereton wurden sofort in die Privaträume des Mr. Carfax geführt.
Brereton betrachtete den Rechtsanwalt, der anscheinend schon mit großer Ungeduld ihre Ankunft erwartet hatte. Carfax war ein Mann von mittleren Jahren, nicht allzu groß, aber sehr gewandt und schnell in seinen Bewegungen. In einer Fensternische sprachen zwei Detektive leise miteinander, die Brereton kannte. Aber der große Herr, der neben Mr. Carfax stand, war ihm fremd. Brereton mußte aber bei seinem Anblick sofort an die Erzählung der alten Mrs. Hamthwaite denken, die von einem großen Mann mit einem grauen Bart gesprochen hatte, und dieser Herr, der Avice freundlich anlächelte, war groß und stattlich und trug einen grauen Bart. Er sah aus, als ob er weit in der Welt umhergekommen wäre.
Carfax reichte Brereton und Avice die Hand.
»Sie werden sich wundern, daß ich nach Ihnen geschickt habe? Aber darf ich Ihnen zuerst diesen Herrn vorstellen? Mr. John Wraythwaite.«
Dieser begrüßte Brereton kurz und wandte sich dann an Avice.
»Liebe Miß Harborough, ich bin ein alter Freund Ihres Vaters, und es wird nicht mehr lange dauern, bis seine Unschuld erwiesen ist. Sie kennen mich natürlich noch nicht.«
»Nein, aber wahrscheinlich sind Sie der Herr, der Mr. Brereton die neunhundert Pfund geschickt hat!«
»Ach, Sie ahnen schon den Zusammenhang?« rief Mr. Carfax. »Nun, wir wollen uns gleich darüber unterhalten. Bitte nehmen Sie Platz.«
Er sprach kurz mit den beiden Herren in der Fensternische, die daraufhin das Zimmer verließen, und setzte sich dann zu den anderen.
»Sie wissen natürlich noch nicht, wer Mr. Wraythwaite ist. Er wird bei der nächsten Gerichtssitzung das vollständige Alibi Mr. Harboroughs dem Gericht unterbreiten, denn er verbrachte den fraglichen Abend und den größten Teil der darauffolgenden Nacht mit ihm.«
»Das dachte ich mir gleich«, entgegnete Brereton und sah Mr. Wraythwaite nachdenklich an. »Aber warum haben Sie sich nicht sofort gemeldet?« fragte er dann fast vorwurfsvoll.
»Das hat er auf meinen Rat hin unterlassen«, sagte Carfax schnell. »Ich werde Ihnen alles der Reihe nach erklären. Jetzt können Sie es noch nicht verstehen. Wraye ist ein alter, historischer Platz in dieser Gegend, jedermann kennt ihn. Der letzte Wraythwaite war ein eingefleischter Junggeselle und lebte länger als alle seine Brüder und Schwestern. Als er starb, waren seine Neffen und Nichten über die ganze Welt verstreut, und ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß ein großer Kampf um die Erbschaft und den Titel entbrannte. Schließlich hatte einer der Neffen die größte Aussicht, die Nachfolge anzutreten, da er der älteste bekannte Erbe war. Und er war dabei, seine Ansprüche durchzusetzen, als mein Klient hier in England ankam, der in Wirklichkeit der älteste Neffe und der rechtmäßige Erbe ist. Ich freue mich deshalb, daß gerade gestern seine Ansprüche endgültig anerkannt wurden.«
»Ich gratuliere zu dem Erfolg«, sagte Brereton höflich zu Mr. Wraythwaite. »Aber Sie werden verstehen, daß ich nun gern erfahren möchte, was diese Geschichte mit meinem Klienten zu tun hat.«
»Natürlich«, stimmte der ältere Herr schnell zu. »Carfax, erzählen Sie doch Mr. Brereton sofort von Mr. Harborough. Meine Geschichte ist im Augenblick nicht so wichtig.«
»Aber sie ist doch eng mit Mr. Harborough verknüpft«, widersprach Mr. Carfax gutmütig. »Also hören Sie zu. Der älteste Bruder des letzten Barons von Wraye, Matthew Wraythwaite, heiratete heimlich die Tante John Harboroughs. Bald darauf wanderte er aus, und zwar nach Australien. Er ließ seine Frau in England zurück, bis er ein Heim für sie geschaffen hatte. Mit seiner Familie hatte er Differenzen gehabt und lebte in beschränkten Verhältnissen. Einige Zeit später wurde der jetzige Baron geboren, und bald darauf starb seine Mutter. Das Kind wurde von Mr. Harboroughs Mutter angenommen und aufgezogen. Mr. Wraythwaite und Mr. Harborough waren also Pflegebrüder. Die Geschichte von der Eheschließung des Mr. Wraythwaite wurde geheimgehalten, und als der Junge sieben Jahre alt war, schickte man ihn zu seinem Vater nach Australien. Matthew Wraythwaite erwarb dort allmählich ein großes Vermögen. Er heiratete nicht wieder, und so trat sein Sohn später die Erbschaft an. Diesem war die geheime Heirat seines Vaters bekannt, aber da er selbst ein so großes Vermögen besaß, kümmerte er sich wenig um die Familie seines Vaters in England. Vor einem Jahr las er nun zufällig in der Zeitung von den Schwierigkeiten, den richtigen Erben festzustellen, und kam deshalb nach England. Aber er hatte keine Dokumente, um die Heirat seines Vaters zu beweisen. Er wußte auch nicht, wo die Trauung stattgefunden hatte. Damals hatte er mich noch nicht um Rat gefragt. Hätte er sich gleich an einen Rechtsanwalt gewandt, so wäre die Sache in kurzer Zeit für ihn erledigt worden. Mr. Wraythwaite suchte mit dem einzigen Mann in Verbindung zu kommen, den er von früher her kannte, und das war sein Pflegebruder Mr. Harborough. Dieser wußte aber auch nicht, wo und wann die Trauung stattgefunden hatte. Beide stellten deshalb Nachforschungen an und sahen alle Trauregister durch. Sie trafen sich öfters, aber immer heimlich. Und gerade in der Nacht, in der Kitely ermordet wurde, waren sie von neun Uhr abends bis halb fünf morgens zusammen. Dann trennten sie sich in der Nähe der Station Hexendale. Mr. Wraythwaite kann das unter Eid aussagen.«
»Glücklicherweise haben wir eine Zeugin, die es bestätigen kann«, erwiderte Brereton mit einem Blick auf Avice. »Die beiden wurden in der fraglichen Nacht zusammen in der Heide gesehen.«
»Das ist ja ausgezeichnet«, rief Carfax. »Ist denn Ihr Zeuge auch glaubwürdig?«
»Es ist eine alte Frau von gutem Charakter«, entgegnete Brereton. »Sie betätigt sich höchstens ab und zu als Wilddiebin und fängt unerlaubt Hasen.«
»Das müssen wir ja nicht erzählen, wenn sie ihr Zeugnis ablegt«, erklärte Carfax. »Aber an und für sich ist es hervorragend. Nun, Mr. Brereton, soviel ich weiß, haben Sie nichts Neues über die Ermordung des unglücklichen Mr. Kitely herausgebracht. Gestatten Sie mir deshalb, daß ich Ihnen darüber etwas mitteile.«
Carfax erhob sich, verließ das Zimmer und kehrte gleich darauf mit den beiden Detektiven wieder zurück.