Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22. Kapitel.

Die Hand im Dunkeln.

Die Uhren in Highmarket schlugen gerade zwölf Uhr, als Mallalieu verhaftet wurde. Drei Stunden wurde er in einem Raum des Rathauses in Gewahrsam gehalten. Meistens war er allein. Das Mittagessen wurde ihm hereingebracht, und man nahm in jeder Weise auf ihn Rücksicht. Der Polizeiinspektor wollte nach seinem Rechtsanwalt in Norcaster schicken, aber Mallalieu sagte, man solle ihn in Ruhe lassen. Als der Polizeiinspektor ihn fast flehentlich bat, sich doch mit seinen Freunden zu beraten, wurde der Bürgermeister grob und bedeutete ihm, daß er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle. Er würde nichts unternehmen, ehe er nicht die Notwendigkeit dazu einsähe. Erst wollte er einmal hören, was man denn gegen ihn vorbringen könnte. Dann wäre noch Zeit genug zu handeln. In aller Seelenruhe aß er zu Mittag und rauchte dann seine Zigarre. Als man ihn dann zu der Verhandlung holte, verließ er erhobenen Hauptes das Zimmer, und auf der Anklagebank, auf der schon Cotherstone saß, blickte er ruhig um sich. Der Sitzungssaal war bis zum letzten Platz gefüllt, und die Leute waren natürlich aufs äußerste erregt. Die Nachricht von der Verhaftung der beiden war überall bekanntgeworden. Es lag ja auch kein Grund vor, sie geheimzuhalten.

Die Gefangenen schienen sich beide wenig aus ihrer Umgebung zu machen. Brereton und Tallington beobachteten sie genau und bemerkten, daß sich keiner um den anderen kümmerte. Cotherstone kam zuerst in den Saal, und als Mallalieu kurz darauf eintrat, wechselten sie nur einen kurzen Blick. Cotherstone rückte gleich in die äußerste Ecke, und Mallalieu blieb in der entgegengesetzten sitzen. Er steckte die Hand in die Taschen seines Rockes, zog die Schultern hoch und sah sich verächtlich um.

Brereton, der heute den Zuschauer spielen konnte, widmete den beiden sein ganzes Interesse. Cotherstone war unruhig und gespannt auf das Kommende. Er konnte keinen Augenblick stillsitzen und war dauernd in Bewegung. Mallalieu rührte sich im Gegensatz zu ihm überhaupt nicht. Brereton hatte geglaubt, daß der Bürgermeister die verschlagensten und schlauesten Augen hatte, die ihm jemals vorgekommen waren, aber er mußte jetzt doch zugeben, daß Mallalieu auch ruhig und besonnen aussehen konnte.

In Wirklichkeit spielte Mallalieu nur. Er hatte sich unbewußt auf diese Rolle festgelegt, als er dem Polizeiinspektor sagte, daß noch Zeit genug zum Handeln wäre, wenn er erst einmal gehört hätte, was die Leute gegen ihn vorbrächten. Nun waren alle Anwesenden gespannt auf die Aussagen der wenigen Zeugen, die die Staatsanwaltschaft vernehmen ließ. Auch Mallalieu war neugierig, wenn er sich auch äußerlich nichts von seiner Ungeduld merken ließ. Er wandte sich langsam um, als der erste wichtige Zeuge aufgerufen wurde.

»David Myler!«

Mallalieu starrte ihn an. Wer war dieser David Myler? Aus Highmarket stammte er jedenfalls nicht. Was mochte er wissen? War er ein Detektiv, der von privater Seite engagiert worden war, um diesen Fall aufzuklären? Der junge Mann sah kühl und entschlossen aus.

Aber Mallalieu bewahrte seine volle Selbstbeherrschung, während Myler die schwersten Anklagen gegen ihn erhob. Er wußte nun, daß ein Fehler in seiner Kalkulation war, und er wußte auch, wie die Staatsanwaltschaft gegen ihn vorgehen würde. Das Motiv lag ja klar zutage. Stoner mußte zum Schweigen gebracht werden. Aber das war ja alles nur ein Vorspiel. Heute standen er und Cotherstone wegen Stoners Ermordung vor Gericht – morgen würde man ihnen auch den Mord an Kitely zur Last legen.

Mylers Zeugenaussage verursachte großes Aufsehen, aber es gab noch eine viel größere Sensation, als Mylers Schwiegervater verhört wurde. Eine atemlose Spannung herrschte im Saal, als der alte Mann von den Unterschlagungen bei der Baugenossenschaft in Wilchester vor dreißig Jahren erzählte. Den Höhepunkt erreichte die Verhandlung, als er sich nach der Anklagebank umwandte und erklärte, daß er trotz der langen Zeit in Mallalieu und Cotherstone Mallows und Chidforth wiedererkannte.

Auch in diesem Augenblick zuckte Mallalieu mit keiner Wimper, während Cotherstone immer unruhiger wurde. Der Bürgermeister hoffte, daß keine weiteren Zeugen auftreten würden, aber er mußte bald erfahren, daß das nicht der Fall war.

Ein junger Mann aus Norcaster hatte an dem Sonntagnachmittag seine Braut in Highmarket besucht, und die beiden hatten einen Spaziergang in die Heide gemacht. Sie sagten aus, daß sie von der anderen Seite des Steinbruches beobachteten, wie Mallalieu hinunterstieg, nachdem Stoner abgestürzt war. Sie hatten gesehen, daß er unten umherging und schließlich in der Richtung auf die Stadt fortwanderte. Danach hatten sie bemerkt, daß Cotherstone in den Steinbruch hinunterging und den Stock fand. Er war dicht in ihrer Nähe vorbeigekommen und hatte den Stock in der Hand gehabt.

Als Mallalieu dies alles hörte und dann sah, wie sein Stock herumgezeigt und identifiziert wurde, hatte er kein weiteres Interesse mehr an dem Verhör. Er dachte nur noch an seine eigenen Pläne. Als die Zeugenaussagen beendet waren und der Vorsitzende mit den Beamten leise über eine Vertagung beriet, sprach Mallalieu zum erstenmal.

»Ich werde auf alle diese Aussagen zur rechten Zeit und am rechten Platz antworten«, sagte er mit lauter, ruhiger Stimme. »Im Augenblick stelle ich den Antrag, mich gegen Bürgschaft zu entlassen. Sie können die Summe so hoch stellen, wie Sie wollen. Sie alle kennen mich ja.«

Die Beamten und die Anwesenden sahen ihn erstaunt an. Der Vorsitzende, ein älterer Herr von gutmütigem Aussehen und Charakter, der durch diese Enthüllungen anscheinend sehr verwirrt war, schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Das ist doch unmöglich – ganz unmöglich. Das steht nicht in unserer Macht.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Mallalieu. »Es steht sehr wohl in Ihrer Macht. Glauben Sie, ich hätte das Amt eines Friedensrichters in den letzten zwölf Jahren geführt, ohne das Gesetz zu kennen? Sie können sogar bei Kapitalverbrechen einen Angeklagten auf Bürgschaft hin entlassen. Also handeln Sie danach!«

Die Beamten blickten ratlos auf den Gerichtssekretär.

»Mr. Mallalieu hat im Prinzip recht«, erwiderte dieser lächelnd. »Aber kein Vorsitzender ist verpflichtet, im Fall eines schweren Verbrechens den Angeklagten auf Bürgschaft hin in Freiheit zu setzen. Und in der Praxis wird eine Bürgschaft niemals angenommen, wenn es sich wie hier um Mord handelt. So etwas war noch niemals da.«

»Dann tritt dieser Fall eben jetzt zum erstenmal ein«, erwiderte Mallalieu. »Ich biete Ihnen Sicherheiten für zwanzigtausend Pfund, wenn Sie es haben wollen.«

Aber sein Angebot wurde abgelehnt, und gleich darauf vertagte man die Verhandlung auf eine Woche. Cotherstone und Mallalieu sollten in der Zwischenzeit in das Gefängnis nach Norcaster überführt werden. Ohne sich nach seinem Partner umzusehen, trat Mallalieu aus der Anklagebank heraus. Er wurde wieder in das Zimmer gebracht, in dem er sich schon vorher aufgehalten hatte.

»Das sind doch Hasenfüße!« sagte er zu dem Inspektor. »Die getrauen sich nicht einmal, von ihrem Recht Gebrauch zu machen. Meinen Sie denn, ich laufe weg? Bei einer derart künstlich konstruierten Geschichte! Wann fahren wir denn nach Norcaster?«

Der Inspektor hatte früher großen Respekt vor dem Bürgermeister gehabt und war durch diesen plötzlichen Umschwung sehr niedergeschlagen.

»In einer halben Stunde sind zwei Wagen vor der Tür, Mr. Mallalieu«, erwiderte er. »Einer für Sie und einer für Mr. Cotherstone.«

»Vermutlich geht es mit bewaffneter Begleitung los? Nun ja. Aber sehen Sie, ich hätte eigentlich noch Zeit, eine Tasse Tee zu trinken. Lassen Sie doch einen Ihrer Leute eine Portion vom Hotel drüben holen. Aber er muß ordentlich stark sein. Und auch ein paar Butterbrote. Ich kann es wirklich gebrauchen.«

Er warf ein Geldstück auf den Tisch, und der Inspektor, der seinem früheren Vorgesetzten gerne noch einen Dienst erweisen wollte, verließ das Zimmer und drehte den Schlüssel um. Es kam ihm kein Gedanke, daß sein Gefangener vielleicht einen Fluchtversuch machen könnte. Seiner Meinung nach konnte Mallalieu den Raum überhaupt nicht verlassen. Er ging den Gang entlang, um jemand zu suchen, den er ins Hotel schicken konnte.

Aber Mallalieu handelte, sobald er allein war. Nicht umsonst war er zwei Jahre lang Bürgermeister von Highmarket und seit etwa zwanzig Jahren Mitglied der Stadtrates gewesen. Er kannte das ganze Rathaus in- und auswendig. Als der Inspektor gegangen war, zog Mallalieu rasch ein Schlüsselbund aus der Tasche, ging quer durch das Zimmer zu einer Tür, die durch einen Vorhang verborgen war, schloß auf, öffnete sie vorsichtig und spähte hinaus. Dann trat er in den kleinen Vorraum, schloß die Tür wieder hinter sich zu und schlich heimlich die Privattreppe hinunter, die in einen ruhigen, alten Garten hinter dem Gebäude führte. Er atmete auf, als er sich umschaute. Hinter diesen dichten Sträuchern, die an der hohen Mauer entlangliefen, war er sicher. Wenige Augenblicke später hatte er den Garten schon wieder verlassen und eilte durch eine alte Obstpflanzung, die von hier aus bis zu den Ausläufern des Waldes reichte. Als er zwischen den dichten Bäumen stand, deren Zweige und Äste fast bis auf den Boden reichten, hielt er an, um Atem zu schöpfen. Trotz der schweren Lage, in der er sich befand, mußte er über das leichte Gelingen seiner List lachen. Wie gut war es doch, daß sie ihn nicht vorher untersucht hatten, sondern damit bis zu seiner Einlieferung ins Gefängnis warten wollten!

Die Verhandlung hatte sich so lange hingezogen, daß es dunkel geworden war. Mallalieu wußte aber, daß er nicht viel Zeit zu verlieren hatte. Seine Verfolger waren allerdings vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt. Während die beiden letzten Zeugen ihre Aussagen machten, hatte er sich seinen Fluchtplan genau überlegt. Seine eingehende Kenntnis von der Stadt und ihrer nächsten Umgebung und die für ihn außerordentlich günstige Lage des Rathauses kamen ihm zugute. Er brauchte nur von der Obstpflanzung aus in den Kiefernwald zu gehen und sich dort vorsichtig durch das dichte Untergehölz über den Waldrücken nach der Heide zu schleichen. War er erst einmal dort, so wußte er Bescheid und konnte auf wenig bekannten Wegen nach Norcaster kommen, wo er sich in der Hafengegend einen Monat, ja sogar ein halbes Jahr sicher verbergen konnte, ohne entdeckt zu werden. Wenn dann Ruhe eingetreten war, konnte er zu Schiff das Land verlassen.

Es war ringsum still, als er durch eine Öffnung in der Hecke der Obstpflanzung in den Kiefernwald eintrat. Leise schlich er sich durch den dichteren Teil, bis er zu der Höhe des Bergrückens kam. Hier standen die Bäume viel dichter; es gab mehr Gestrüpp und Sträucher, und die Dunkelheit hinderte ihn am schnellen Vorwärtskommen. Einmal hörte er Männerstimmen in dem unteren Teil des Gehölzes, blieb stehen, holte Atem und lauschte. Und dann fühlte er plötzlich eine feste, sehnige Hand, die ihn am Arm packte.

 


 << zurück weiter >>