Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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14. Kapitel.

Das Blatt mit den Zahlen.

Stoner war schon über fünf Jahre in dem Baugeschäft angestellt. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, jung und tüchtig, hatte einen klaren, hellen Verstand, konnte schnell kalkulieren, war ein guter Korrespondent und vor allem pünktlich, zuverlässig und willig. Er war imstande, das Geschäft in Abwesenheit der Chefs zu führen, und sowohl Mallalieu als auch Cotherstone schätzten seine Dienste. Sie hatten sein Gehalt allmählich so weit erhöht, daß er jetzt über drei Pfund die Woche verdiente. Ihrer Meinung nach war das für einen alleinstehenden jungen Mann genug und ausreichend; sie selbst hatten in ihrer Jugend mit viel weniger auskommen müssen. Aber Stoner besaß Geschmack und lebte gerne gut. Er kleidete sich elegant, spielte Karten und Billard, verkehrte auch in einigen Lokalen in Highmarket, wo er täglich seinen Abendschoppen trank und den Damen an der Bar hin und wieder kleine Geschenke machte. Infolgedessen kam ihm sein Gehalt nicht gerade hoch vor, und er war stets bemüht, seine Einnahmen zu vermehren.

Stoner verließ das Büro wie immer um halb sechs und ging in das Gasthaus »Zum Schimmel«, wo er vor dem Abendbrot noch einen Schoppen trinken wollte. In der Gaststube traf er gewöhnlich Freunde und Bekannte, die ihm die Neuigkeiten des Tages berichteten. Unterwegs begegnete er dem Zettelverteiler, der mit einem Stoß frischgedruckter Bekanntmachungen an ihm vorbeieilte. Der Mann drückte ihm schnell einige Exemplare in die Hand.

»Da können Sie fünfhundert Pfund verdienen!« rief er ihm zu.

Stoner glaubte, der andere wollte ihn zum besten haben, und wollte die Papiere eigentlich fortwerfen. Aber beim Licht der nächsten Laterne las er das Wort »Mord« in großen Buchstaben, und als er dann noch mehrere bekannte Namen auf dem Zettel fand, faltete er alles zusammen und steckte es ein. In der Gaststube setzte er sich dann in eine stille Ecke und las die Bekanntmachung sorgfältig durch. Der Wortlaut war einfach und klar.

Fünfhundert Pfund sollten demjenigen ausgezahlt werden, auf dessen Angaben hin der Mörder Kitelys gefaßt und verurteilt werden könnte. Rechtsanwalt Tallington hatte den Aufruf unterzeichnet.

Bei Stoners Ankunft war noch niemand in der Gaststube gewesen, aber nach einiger Zeit kamen mehrere Leute aus der Stadt herein. Jeder hatte ein Blatt in der Hand. Sie unterhielten sich eifrig darüber, wer von den Beteiligten wohl diese große Summe gestiftet haben könnte. Aber schließlich meinte einer, daß das doch ganz gleichgültig sei. Vor allem müßte man sich das Geld verdienen.

Diese letzte Bemerkung hörte Stoner, und sie trieb ihn zur Eile an. Gewöhnlich blieb er eine Weile dort und plauderte bis zum Abendessen mit Bekannten. Aber er hatte sich vorgenommen, die fünfhundert Pfund selbst zu verdienen, und wollte nicht haben, daß ihm jemand zuvorkam.

Seitdem er nach Highmarket gekommen war, bewohnte er in dem Haus einer Witwe zwei Räume. In seinem kleinen Wohnzimmer stand ein Bücherschrank und ein Schreibtisch, und an den Abenden, an denen er nicht Karten oder Billard spielte, arbeitete er hier an seiner Weiterbildung.

An diesem Abend steckte er sich nach dem Essen eine Pfeife an und setzte sich an den Schreibtisch. Aus einem Aktenstück nahm er einen halben Bogen linierten Papiers und legte ihn vor sich. Er stützte das Kinn in die Hände und schaute lange nachdenklich darauf.

Es standen viele Zahlen auf dem Blatt, die in Cotherstones klarer, einfacher Handschrift geschrieben waren. Aber zwischen den einzelnen Summen und hier und dort am Rande kehrte außerdem immer dasselbe Wort wieder. Es hieß: »Wilchester«.

Stoner wußte noch genau, wie dieser Bogen in seinen Besitz gekommen war. An dem Morgen nach der Ermordung Kitelys hatte er ihn auf Cotherstones Schreibtisch gefunden, als er in dem Privatbüro seiner beiden Chefs aufräumte. Das Blatt war anscheinend von Cotherstone achtlos beiseitegeschoben worden. Stoner hatte damals nur einen kurzen Blick darauf geworfen, es sorgfältig gefaltet und eingesteckt und mit nach Hause genommen.

Er hatte das Papier, das doch eigentlich Cotherstone gehörte, aus einem bestimmten Grunde mitgenommen. Am Abend vor dem Mord hatte er ein ungewisses Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Er hatte einen sonderbaren Ausdruck in Kitelys Gesicht bemerkt, als dieser das Privatkontor verließ. Der Mann hatte hochbefriedigt, vielleicht sogar triumphierend ausgesehen. Auf jeden Fall hatte dieser Blick etwas zu bedeuten. Stoner dachte wieder daran, daß er Cotherstone im Dunkeln angetroffen hatte, lange nachdem Kitely gegangen war. Sein Chef hatte zwar gesagt, er wäre eingeschlafen, aber Stoner wußte, daß das eine Lüge war. Als er dann am nächsten Morgen von dem Mord hörte, erwachte sein Verdacht.

Er mußte ergründen, warum Cotherstone den Namen einer so weit von Highmarket entfernten kleinen Stadt immer wieder auf diesen Bogen geschrieben hatte. Er mußte es jedenfalls halb unbewußt getan haben, während er die Rechnungen abschloß. Von allen Teilen des Blattes starrte Stoner das Wort »Wilchester« an. Wilchester – Wilchester . . .

Weder Cotherstone noch Mallalieu hatten während seiner sechsjährigen Dienstzeit in der Firma jemals diesen Ort erwähnt, und die Firma hatte nicht die geringste Geschäftsverbindung nach dort. Stoner kannte die ganze Korrespondenz und wußte, daß nicht ein einziger Brief nach Wilchester gegangen war, seit er bei Mallalieu & Cotherstone war. Ebensowenig war jemals ein Schreiben von dort an die Firma angekommen. Die kleine Stadt lag viele hundert Kilometer von hier entfernt, und neunundneunzig Prozent aller Bewohner Highmarkets hatten nie etwas von Wilchester gehört, das irgendwo im Süden Englands lag. Aber Stoner kannte den Platz, ganz abgesehen von seinen Schulbüchern und seinem Atlas. Stoner selbst stammte aus Darlington und hatte einen guten Freund dort unten – David Myler, einen Geschäftsreisenden. Dieser tüchtige junge Mann, der etwa gleichaltrig mit Stoner war, arbeitete für eine Firma in Darlington, die Ackerbaugeräte vertrieb. Er reiste gewöhnlich im Süden und Südwesten Englands, und Wilchester war eine der hauptsächlichsten Städte, die er besuchte. Die beiden Freunde unterhielten eine rege Korrespondenz, und Stoner war der Name Wilchester um so mehr geläufig, als Myler vor kurzem ein Mädchen aus dieser Stadt geheiratet hatte.

Nun mußte er aber herausbringen, wie Cotherstone mit Wilchester verknüpft war.

Was bedeuteten nur die Zahlen? Standen Sie auch in Verbindung mit Wilchester? Diese Frage wollte Stoner lösen, als er sich an diesem Abend an seinen Schreibtisch setzte. Die fünfhundert Pfund Belohnung lockten, und er strengte sich außergewöhnlich an, um hinter das Geheimnis zu kommen. Er las die Zahlen sorgfältig der Reihe nach durch. Bisher hatte er ihnen keine große Bedeutung beigelegt, nur das Wort Wilchester hatte ihn fasziniert. Als er nun alle seine mathematischen Kenntnisse zusammennahm, um den Sinn dieser Zahlenreihe zu entdecken, stellte er fest, daß es eine Berechnung war.

Dann kam ihm blitzartig die Lösung des Problems. Er sah alles ganz klar und wunderte sich nur, daß er es nicht auf den ersten Blick erraten hatte. Es waren drei verschiedene Rechnungen; Cotherstone hatte aus irgendeinem Grunde eine Summe von zweitausend Pfund zugrunde gelegt und berechnet, wieviel Zinsen diese Summe in dreißig Jahren bei dreieinhalb Prozent bringen würde; dieselbe Rechnung machte er mit fünf Prozent, und dann stellte er noch zusammen, welche Summe sich bei Berechnung von Zinseszins ergeben würde. Diese letzten Zahlenreihen waren durchstrichen. Stoner konnte vorläufig noch nichts damit anfangen, aber er wußte, daß etwas dahintersteckte. Vielleicht handelte es sich um Anlegung von öffentlichen Geldern, denn Cotherstone war Stadtkämmerer. Aber warum erschien das Wort Wilchester immer wieder zwischen den Zahlen?

Der nächste Tag war ein Sonnabend, und nachmittags machte sich Stoner auf, um seinen Freund Myler in Darlington zu besuchen.

 


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