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Mallalieu erfuhr, wie unangenehm es war, wenn man Informationen aus zweiter Hand empfing. Er wurde hier streng bewacht, und obwohl er in jeder Weise gehegt und gepflegt wurde, blieb er doch ein Gefangener. Er konnte seinen Fuß nicht über die Schwelle des Hauses setzen und hing ganz von Christopher Pett und dessen Tante ab. Nachrichten von der Außenwelt erhielt er nur durch den Rechtsanwalt. Er fragte Christopher dauernd nach Zeitungen, aber dieser ließ ihn absichtlich im Dunkeln und vergaß regelmäßig, ein Blatt mitzubringen, wenn er in der Stadt gewesen war. Nachdem ihm Mallalieu fortwährend Vorhaltungen darüber gemacht hatte, brachte er endlich eine Nummer der ›Times‹ vom vorhergehenden Tage mit, in der Mallalieu natürlich nichts über seinen eigenen Fall finden konnte. Seine einzige Nachrichtenquelle blieb also nach wie vor Christopher Pett.
Mr. Pett berichtete natürlich alles auf seine eigene Art und Weise. Dauernd versicherte er Mallalieu, daß er für seine Interessen mit allem Nachdruck eintrete, und daß er und seine Tante eifrig bemüht seien, ihn sicher nach Norcaster zu bringen. Aber er betonte auch ebenso häufig, wie schwierig und gefährlich dieses Unternehmen sei und welchen Gefahren sie sich seinetwegen aussetzten. Er malte dem Gefangenen die Lage möglichst schwarz aus. Als er von Stoners Totenschau zurückkam, machte er ein ganz besonders düsteres und ernstes Gesicht.
»Es steht für Sie sehr schlecht, Mr. Mallalieu«, sagte er leise, als er in das Zimmer des Bürgermeisters trat. »Wenn Sie nicht hier bei uns wären, wüßte ich nicht, was jetzt mit Ihnen passierte!«
Mallalieus Stimmung war in den letzten Tagen schon sehr schlecht gewesen. Er fuhr wild auf.
»Verdammt, warum sagen Sie mir nicht, was los war?« fragte er wütend. »Was hat es denn für einen Zweck, immer um die Sache herumzureden? Die Lage kann doch nicht schlechter werden, als sie schon ist!«
Christopher zog langsam einen der schwarzen Handschuhe aus und legte ihn auf den Tisch.
»Es hat keinen Zweck, daß Sie sich aufregen, Mr. Mallalieu«, erwiderte er vorwurfsvoll, während er auch den zweiten Handschuh auszog. »Wir sind hier doch unter uns und sprechen als zwei Gentlemen miteinander. Die Situation hat sich allerdings bedeutend verschlechtert, denn die Geschworenen sind zu dem Spruch gekommen, daß Anklage wegen vorsätzlichen Mordes erhoben werden soll, und zwar – gegen Sie!«
Mallalieus Gesicht wurde grau.
»Warum denn gegen mich allein? Wir waren doch zu zweien angeklagt! Was ist denn aus Cotherstone geworden?«
»Cotherstones Aussagen haben Sie ja gerade belastet«
»Was, Cotherstone ist gegen mich als Zeuge aufgetreten?« rief Mallalieu erregt. »Dieser alte Lügner –«
»Ich will Ihnen alles der Reihe nach erzählen«, unterbrach ihn Chris. »Beruhigen Sie sich nur, Mr. Mallalieu, und hören Sie mir zu.«
Aber trotz dieser Ermahnung wollte Mallalieu keine Vernunft annehmen, und als Christopher alles berichtet hatte, war er noch aufgebrachter.
»Am liebsten möchte ich jetzt geradeswegs zur Polizei gehen«, sagte er hitzig. »Das werde ich auch tun. Ich werde ihnen schon erzählen, wie sich die Sache verhalten hat!«
»Das können Sie halten, wie Sie wollen«, erwiderte Christopher liebenswürdig. »Ich wünschte nur, Sie würden es wirklich tun, dann bliebe uns sehr viel Ärger und Sorge erspart. Nur ist es meine Pflicht als Rechtsanwalt, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie sicher an den Galgen kommen, wenn Sie dieses Haus verlassen!«
Mallalieu zuckte zusammen und starrte in Mr. Petts scharfe Züge.
»Das wollen Sie doch wohl nicht im Ernst behaupten?« fragte er heiser.
»Doch, das ist ganz sicher. Ich muß es doch wissen!«
»Was soll ich denn dann tun?«
Christopher lehnte sich etwas vor und legte bedächtig die Fingerspitzen zusammen.
»Meiner Meinung nach müssen Sie hierbleiben und abwarten, was am nächsten Dienstag passiert, wenn Cotherstone wieder vor die Geschworenen kommt. Sie sind hier vollkommen sicher, solange Sie sich an das halten, was wir Ihnen sagen. Obgleich das ganze Land durchsucht und beobachtet wird, hat doch kein Mensch eine Ahnung, daß Sie noch in Highmarket und ausgerechnet in unserem Hause sind. Also seien Sie zufrieden. Sobald wir wissen, was sich nächsten Dienstag ereignet, wollen wir einen Entschluß fassen.«
»Was haben Sie denn eigentlich für einen Plan?« fragte Mallalieu mißmutig.
»Er ist noch nicht vollständig durchgearbeitet«, entgegnete Christopher, erhob sich und nahm Zylinder und Handschuhe auf. »Aber wenn Sie erst einmal erfahren, was wir vorhaben, werden Sie selbst zugeben, daß er ganz vorzüglich ist.«
Mallalieu blieb nichts anders übrig, er mußte bis zu der Verhandlung am Dienstag warten. Von Tag zu Tag wurde er ungeduldiger und nervöser. Er aß und trank, schlief auch fest und ruhig, aber trotzdem ging es ihm nicht gut.
Als Christopher Pett am Dienstagnachmittag nach der Verhandlung zurückkehrte, konnte Mallalieu diesen Zustand der Ungewißheit kaum noch ertragen. Das Gesicht des Rechtsanwalts war noch finsterer als früher.
»Es geht immer schlechter und schlechter, Mr. Mallalieu«, sagte er, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Alles richtet sich gegen Sie. Sie ahnen nicht, was geschehen ist. Cotherstone ist freigesprochen und entlassen!«
»Was sagen Sie da?« Mallalieu sprang auf. »Sie haben ihn freigelassen? Dann hätte ich doch auch an der Verhandlung teilnehmen können – ich wäre ebenfalls freigesprochen worden!«
Christopher schüttelte langsam den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Cotherstone hat wieder so viel gegen Sie vorgebracht. Es steht schlimm für Sie, wenn Sie gefangen werden!«
Mallalieus Augen traten aus den Höhlen, und sein Gesicht wurde dunkelrot. Er sah aus, als ob ihn der Schlag treffen würde, und Christopher beeilte sich, ihn zu beruhigen.
»Meiner Ansicht nach ist das alles nur eine Hetze gegen Sie. Eine Verschwörung, wenn Sie so wollen. Cotherstone hatte die gerissensten Verteidiger, und die beiden haben natürlich für Geld und gute Worte alles Mögliche zustande gebracht. Können Sie denn die ganze Sache nicht durchschauen? Zuerst ist Cotherstone bei der Totenschau als Zeuge aufgetreten, und auf seine Aussagen hin wurde ein Spruch gefällt, und zwar gegen – Sie. Cotherstone ist von den Behörden freigelassen worden, da kein weiteres Zeugnis gegen ihn vorlag. Man hat ihn freigelassen, damit er bei den Schwurgerichtssitzungen im nächsten Monat gegen Sie als einwandfreier Zeuge auftreten kann. Das heißt, wenn Sie inzwischen gefangen werden!«
»Ja, Sie haben recht. Fangen müssen sie mich erst noch! Nun will ich aber endlich Ihren Plan hören, oder ich verlasse heute abend das Haus.«
Christopher erhob sich, öffnete die Tür und rief leise nach seiner Tante. Miß Pett kam auch sofort herein. Sie setzte sich nieder, verschränkte die Arme und sah ihren Neffen aufmerksam an.
»Wir wollen unseren Plan jetzt mit Ihnen beraten«, nahm Chris die Unterhaltung wieder auf. »Natürlich zahlen Sie uns eine dementsprechende Vergütung, Mr. Mallalieu.«
»Ich habe Ihnen doch schon dauernd versichert, daß Sie nicht zu kurz kommen sollen«, bemerkte Mallalieu unwillig, »solange sich alles in vernünftigen Grenzen hält. Zuerst muß ich wissen, was Sie wollen, dann können wir über die Geldfrage sprechen. Also los!«
»Es ist ein wunderbarer Plan«, entgegnete Christopher. »Sie haben doch gesagt, daß Sie sicher sind, wenn wir Sie in eine gewisse Hafengegend von Norcaster bringen können. Darauf haben wir unseren Plan aufgebaut. Meine Tante ist im Begriff, die Sachen zu packen, die ihr der verstorbene Mr. Kitely vermacht hat, und morgen findet der Umzug statt. Ich habe schon alles mit der Speditionsfirma vereinbart. Morgen kommen ein paar Möbelwagen hierher, die die Sachen nach Norcaster bringen. In einem dieser Wagen fahren Sie von hier ab.«
Mallalieu hatte gespannt zugehört. Der Vorschlag erschien ihm annehmbar.
»Das hat etwas für sich«, erwiderte er. »Aber wie wollen Sie mich denn in den Möbelwagen hinein- und in Norcaster wieder herausbringen, ohne daß es die Fuhrleute sehen?«
»Das habe ich schon alles bedacht. Der erste Möbelwagen ist bis Mittag geladen, und ich richte es dann so ein, daß der zweite erst bei Einbruch der Dunkelheit fertig wird. Dann müssen die Fuhrleute in den Ort gehen und die Pferde holen. Ich gebe ihnen vorher ein gutes Trinkgeld, damit sie sich noch für den Weg stärken können. Dann bleiben sie noch etwas länger aus. Und während sie fort sind, bringe ich Sie in dem Wagen unter und fahre später selbst nach Norcaster mit. Wenn dann drüben die Pferde weggebracht werden, lasse ich Sie heraus. Wie gefällt Ihnen dieser Plan, Mr. Mallalieu?«
»Ausgezeichnet«, gab der Bürgermeister zu und atmete erleichtert auf. »Wir müssen allerdings ungeheuer vorsichtig sein. Der kleinste Fehler kann zur Katastrophe führen.«
Mr. Pett entgegnete nur kurz, daß von ihrer Seite aus sicher keine Fehler gemacht würden. Miß Pett sah ihren Neffen und dann Mr. Mallalieu an. Sie erwartete anscheinend, daß er sich jetzt endlich über die Belohnung äußerte.
»Dann ist also alles abgemacht. Morgen geht es los«, sagte Mallalieu, der nicht zu begreifen schien, daß man noch etwas von ihm wollte.
Miß Pett räusperte sich aber und strich ihre Schürze glatt.
»Das wäre allerdings in Ordnung, Christopher«, wandte sie sich dann an ihren Neffen, als ob Mallalieu überhaupt nicht für sie existierte. »Nun müßte unser Gast aber noch über die Vergütung sprechen, die er uns geben will.«
»Ach ja«, sagte Christopher. »Was meinen Sie dazu, Mr. Mallalieu? Wieviel wollen Sie uns denn geben?«
Die Züge des Bürgermeisters verhärteten sich plötzlich.
»Jeder von Ihnen bekommt fünfzig Pfund – soviel biete ich. Ein solches Angebot erhalten Sie nicht jeden Tag. Das ist eine sehr schöne Summe.«
Miß Pett legte den Kopf auf die Seite und seufzte, und ihr Neffe faltete die Hände und sah zur Decke.
»Ein solches Angebot bekommen wir allerdings nicht alle Tage«, sagte er. »Fünfzig Pfund jeder, zusammen hundert Pfund – um einen Mitmenschen vom Galgen zu retten? Mr. Mallalieu, ich glaube, Sie verkennen die Lage!«
»Verdammt, wieviel Geld soll ich denn in meiner unglücklichen Lage bei mir haben?« rief Mallalieu gereizt. »Glauben Sie denn, daß ich es nur so aus dem Ärmel schütteln könnte?«
»Christopher, ich mache den Vorschlag, daß wir Mr. Mallalieu ein wenig allein lassen«, meinte Miß Pett. »Vielleicht kommt er doch zu einer anderen Ansicht, wenn er einmal darüber nachdenkt.«
Sie erhob sich und ging zur Tür.
»Was habe ich dir gesagt?« wandte sie sich im Wohnzimmer an ihren Neffen. »Filzig wie ein alter Geizhals! Mein Plan war doch von Anfang an der beste. Wenn er uns nichts geben will, werden wir uns schon selbst helfen. Heute abend gebe ich ihm einen besonders starken Schlaftrunk und dann . . .«
Bevor der Abend kam, schlug Mallalieus Stimmung wieder um. Er hatte den ganzen Nachmittag gegrübelt. Nur zu gut wußte er, daß er vollkommen in der Gewalt dieser beiden Leute war, und daß sie ihn nicht ohne weiteres ziehen lassen würden. Je mehr er nachdachte, desto argwöhnischer wurde er, und plötzlich tauchte ein Verdacht in ihm auf. Warum schlief er nachts immer so tief und fest? Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Diese Miß Pett hatte ihm sicher ein Schlafmittel in den Punsch getan. Aber das sollte das letztemal gewesen sein!
Als sie ihm an diesem Abend einen Schlummertrunk brachte, nahm er ihn schon an der Tür ab und sagte, daß er den Punsch im Bett trinken würde. Nachdem sie wieder verschwunden war, schüttete er das Glas schnell in einen Blumentopf am Fenster und legte sich dann nieder. Er machte aber die Augen nicht zu und hatte den Revolver schußbereit in der Rechten.