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Vierundzwanzig Stunden nach Stoners Tod plante Mallalieu seine Flucht. Und er bereitete sie mit derselben Klugheit und Umsicht vor, die er in der Vergangenheit so oft bewiesen hatte. Da er diese Gegend für immer verlassen mußte, wollte er auf solche Weise verschwinden, daß ihn niemand verfolgen konnte. Nachdem er in dem Hotel am Markt einige belegte Brote gegessen und ein Glas Bier getrunken hatte, war er nach dem Hobwick-Steinbruch gegangen und hatte sich dort genau umgesehen. Wie erwartet, fand er dort einige Polizisten und mehrere Leute aus der Stadt, die sich den Tatort ansahen. Er ließ sich von den Beamten das zerbrochene Geländer zeigen.
»Haben Sie keine Fußspuren in der Nähe gefunden?« sagte Mallalieu, als sie sich umsahen.
»Nein, Herr Bürgermeister. Wir haben alles abgesucht, aber auf dem kurzen Grase ist nichts zu sehen.«
Mallalieu trat dicht an den Rand des Steinbruchs und schaute hinunter. Mit seinen scharfen Augen suchte er nach dem Stock. Er dachte an die Brombeersträucher. Bei Tageslicht mußte der Stock dort sehr gut zu sehen sein, denn er hatte eine hellgelbe Farbe und würde sich von dem grünen und dunkelbraunen Untergrund gut abheben. Aber er konnte nichts entdecken.
»Das ist ein furchtbar steiler und tiefer Abhang hier«, sagte er schließlich. »Ich möchte nicht hinunterfallen! Und das Geländer hier hätte auch längst erneuert werden müssen, es ist ja schon ganz morsch und verfault. Der arme junge Mann hat sich dagegen gelehnt und ist dann in die Tiefe gefallen.«
»Ja, das würde ich auch sagen, Herr Bürgermeister«, erwiderte der Polizist. »Aber der Arzt meint, Stoner könnte auch heftig dagegengeschleudert worden sein. Man hat doch eine Wunde an seinem Kopf entdeckt, die von einem schweren Schlag herrühren soll.«
»Aber er kann sich bei dem Sturz doch auch an den vielen Vorsprüngen und scharfen Felskanten verletzt haben. Es war ein Unglücksfall, ein reiner Unglücksfall!«
Mallalieu ging mit den Beamten in den Steinbruch hinunter und suchte unter dem Vorwande, daß er sich selbst genau informieren müßte, den ganzen Platz ab. Aber er fand seinen Stock nicht. Er war auch davon überzeugt, daß ihn kein anderer gefunden hatte. Wahrscheinlich lag er in einer Felsspalte oder in einem undurchdringlichen Brombeergestrüpp. Beruhigt ging er wieder der Stadt zu.
Während des folgenden Nachmittags verstärkte sich das Gefühl der Sicherheit bei ihm. Er wanderte durch die Straßen, war öfters im Rathaus und zeigte sich auch auf der Polizeistation. Am Abend war es klar, daß er nicht in Verdacht gekommen war – das heißt, noch nicht. Er wußte, daß in Zukunft doch etwas herauskommen würde. Und als er spät nach Hause ging, fragte er sich, ob er am nächsten Nachmittag noch sicher sein würde. Jedenfalls wollte er morgen um diese Zeit über alle Berge sein.
Aber an diesem Abend gab es noch sehr viel zu tun. Eine Stunde lang saß er mit dem Kursbuch vor einer großen Karte. Während er die verschiedenen Züge und Anschlüsse zusammenstellte, beschäftigte er sich schon wieder mit anderen Plänen. Er hatte stets die wunderbare Gabe besessen, an mehreren Dingen zu gleicher Zeit arbeiten zu können. Nach dieser Stunde hatte er den Fluchtplan genau fertiggestellt. Er wollte ganz offen von Highmarket weggehen, ohne den geringsten Verdacht zu erregen. Die Leute sollten wissen, daß er die Stadt mit einem bestimmten Zweck verließ, und das Glück war ihm günstig. Gerade zu der Zeit waren eifrige Beratungen im Gange wegen einer neuen Wasserleitung. Man pflog Verhandlungen mit einer kleinen Nachbarstadt, mit der man zusammen ein großes Wasserreservoir in den Bergen anlegen wollte, und an einem der nächsten Tage sollte eine Sitzung des gemeinsamen Komitees in dieser Angelegenheit abgehalten werden. Er wollte nun angeben, daß er mit verschiedenen Punkten des Unternehmens nicht einverstanden sei, und in offener Sitzung auf dem Rathaus erklären, daß er persönlich zu der anderen Stadt hinüberfahren müßte, um über gewisse Einzelheiten Klarheit zu schaffen. Niemand würde darin etwas Verdächtiges finden. Um diese andere Stadt zu erreichen, mußte er nach Norcaster fahren, und das war eine verhältnismäßig große Stadt, in der er eine gewisse Gegend am Hafen sehr gut kannte. Dort konnte er sich unbeobachtet einige Zeit aufhalten und dann bei günstiger Gelegenheit fliehen.
Er traf also seine letzten Vorbereitungen, wobei es sich natürlich um Geld handelte. Es fiel ihm schwer, sein Geschäft und sein Haus ohne weiteres im Stich zu lassen, aber für seine persönliche Freiheit mußte er dieses Opfer bringen. Das Wichtigste war doch im Augenblick, daß er sich selbst in Sicherheit brachte. Alles andere mußte demgegenüber zurückstehen. Geschäft und Haus bildeten ja auch nur einen kleinen Teil seines Vermögens; er war so wohlhabend, daß er diesen Verlust leicht verschmerzen konnte.
Seit er erfahren hatte, daß Kitely sein Geheimnis kannte, hatte er bereits mit allen Möglichkeiten gerechnet. Er hatte seine Wertpapiere zusammengetragen und in ein großes Leinenkuvert gesteckt, das er in einer inneren Tasche seiner Weste unterbringen konnte. Diese Weste war überhaupt ein vorzüglich eingerichtetes Kleidungsstück, in dem er seinen ganzen Reichtum an Papieren mit sich herumtragen konnte. Seine Aktien und Regierungsanleihen waren erstklassig, und er konnte sie an irgendeinem bedeutenden Platz sofort zu Geld machen. In einer anderen Tasche hatte er einen Stoß Banknoten, die er in der vergangenen Woche aus London hatte kommen lassen.
Mallalieu verwahrte diese Weste mit ihrem kostbaren Inhalt nachts unter seinem Kissen. Am nächsten Morgen kleidete er sich mit großer Sorgfalt an und steckte einen Revolver in die Hüfttasche, den er erst kürzlich gekauft hatte. Zum erstenmal seit vierzehn Tagen hatte er wieder guten Appetit. Dann zog er seinen Mantel an, ging zur Stadt und wandte sich nicht ein einziges Mal um nach dem Hause, das er sich dort erbaut hatte, und das er nun für immer verließ.
Mallalieu ging methodisch vor. Er besuchte sein Büro, blieb ein oder zwei Stunden auf dem Bauhof und wickelte dort die Geschäfte in der üblichen Art ab. Mit Cotherstone sprach er nur über die unumgänglich notwendigen Dinge. Stoners Tod wurde mit keinem Wort erwähnt. Gegen zehn Uhr ging Mallalieu zur Polizeistation hinüber und überzeugte sich, daß nichts weiter ans Licht gekommen war. Der Beamte, der die Totenschau für Stoner abhalten sollte, war anwesend, und Mallalieu sprach mit ihm alle Einzelheiten durch. Er fühlte sich immer sicherer, als er sich um elf Uhr zu einer Sitzung ins Rathaus begab.
Hätte sich Mallalieu an der Rathaustür noch einmal umgesehen, so hätte er ein Auto bemerkt, in dem vier Leute saßen: Myler, dessen Schwiegervater und zwei Detektive aus Norcaster. Aber Mallalieu sah sich nicht um; er ging zu dem Sitzungssaal und beteiligte sich eifrig an der Diskussion. Die Herren, die an dieser Konferenz teilnahmen, sagten später, daß sie ihn noch nie vorher so eifrig gesehen hätten. Schließlich erklärte er, daß das ganze Projekt ihn in seiner jetzigen Fassung nicht befriedige, und daß er den Bürgermeister der Nachbarstadt noch heute aufsuchen wolle, um mit ihm alle Einzelheiten zu besprechen, denen er nicht zustimmen könne.
Mallalieu verließ den Saal und fand draußen den Polizeiinspektor, der im Gange auf ihn wartete. Der Beamte war bleich, zitterte und sah Mallalieu so sonderbar an, als ob er ihn um Verzeihung bitten müßte. Bevor der Inspektor etwas sagen konnte, traten zwei Fremde vor und näherten sich ihm. Mallalieu erkannte sofort die Gefahr, und in diesem Augenblick verließ ihn seine Geistesgegenwart. Die Sprache versagte ihm.
»Herr Bürgermeister«, sagte der Inspektor, »ich kann leider nichts an der Sache ändern. Diese Herren sind Beamte aus Norcaster – sie haben einen Verhaftungsbefehl gegen Sie mitgebracht. Es handelt sich um Stoner.«